Und dann kommst Du dahin an einem schönen Sommertag

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»So habt ihr mich hier gemacht«

Im Strafblock herrschte Schreib- und Paketverbot. Erst im Industriehof konnte Elfriede wieder ein Paket von zu Hause empfangen. »Hab mein Paket abgeholt und hab das noch nicht mal eine halbe Stunde gehabt – hatte es hingestellt und wollte noch der Blockältesten Bescheid sagen –, da war mein Paket verschwunden. War weg! Wir haben den ganzen Block durchsucht und nicht ein Stückchen mehr gefunden. Hättest du das gemeldet, dann hätte eine die Stockschläge gekriegt. Das wollte ich nicht. Ich hatte es doch am eigenen Körper gespürt und litt ja noch immer an den Folgen. Ich wollte nicht, dass auch andere darunter litten. Da war ich noch verweichlicht. Aber nachdem mein Paket weg war, war das Schlimmste, dass sie mich nun erpressen konnten. Das war für mich das Schlimmste, was sie mir hätten antun können. Das war doch etwas von zu Hause! Von der Stunde an wurde ich brutal und kalt. Da hätte passieren können, was wollte, ich wäre über Leichen gegangen. Da hab ich nur noch gesagt: ›Ab heute kämpfe ich nur für mich. Ist mir scheißegal, ob ihr da drin verreckt oder nicht, wichtig ist, ich komm durch.‹ ›Mensch, was ist denn in dich gefahren?‹ ›Ich lass mich nicht beklauen! Wenn ihr mich gefragt hättet, ihr hättet ein Stückchen abgekriegt. Das wisst ihr, aber beklauen hinter meinem Rücken, das lass ich mir nicht gefallen. Ab heute ist Sense, ihr kriegt nix mehr!‹ Da hat die Blockälteste dafür gesorgt, dass ich von den anderen abgetrennt wurde und ganz nach hinten kam. Von da an war’s ganz anders. Ich hab mir nix mehr gefallen lassen. Wenn mir eine mit Meldung gedroht hat, hab ich bloß gesagt: ›Dann tu es doch! Mehr wie totschlagen können sie mich nicht. Na und?‹ Da sagten die: ›Mensch, was bist du gemein, und so was ist ›politisch‹.‹ Sagte ich: ›So habt ihr mich hier gemacht. Ich war vorher nicht so.‹ Das konnten die gar nicht fassen, dass ich so gemein wurde

»Mir geht’s gut, das siehst du doch«

Eines Tages wurde Elfriede aufgerufen: ›Nach vorne!‹, das hieß, zur Kommandantur. »Zuerst kam ich zur Effektenkammer, wurde eingekleidet und aus dem Lager gebracht. Ich bin sogar in einen Mercedes eingestiegen, stell dir vor! Da haben sie mich nach Fürstenberg gebracht. Dort kam ich in ein Haus, da saßen zwei hohe Offiziere. Auf einmal stand mein Cousin vor mir. Vorher bin ich gewarnt worden, dass ich mein Kopftuch nicht abtun darf, weil ich eine Glatze hatte. Der Kopf war voll mit Wunden, mit Krätze. Sagte mein Cousin zu mir: ›Kennst mich nicht mehr?‹ Ich hatte ihn noch nie in Uniform gesehen, er war Leutnant bei den Fliegern. Er hat rausgekriegt, wo ich bin. Durch Beziehungen hat er mich besuchen dürfen. Er fragte mich: ›Wie geht es dir denn?‹ Da sagte ich: ›Mir geht’s gut, das siehst du doch.‹ Dann sagte er: ›Komm mal näher. Nimm dein Kopftuch ab.‹ Da hab ich gesagt: ›Nein.‹ Bin wieder einen Schritt zurück. Da hat er mir das Kopftuch vom Kopf gerissen. Und hat das gesehen! Ich sehe ihn heute noch, wie er schneeweiß wurde und nichts mehr sagen konnte. Er sagte: ›Entschuldigung … Ich bleibe nicht lange, ich bin nur auf der Durchreise. Ich wollte dich bloß sehen. So kann ich deiner Mutter sagen, dass es dir gut geht. Ich werde berichten, wo du bist.‹ Bevor ich ihm irgendwas sagen konnte, wurde ich schon aus dem Raum gezogen. Ich durfte nur noch den Karton Essen mitnehmen, den er mir mitgebracht hat. Als ich dann im Lager ankam: ›Wo warst du denn?‹ Ich durfte aber nix sagen, vor allem nicht sagen, dass ich Besuch hatte, das musste alles geheim laufen. Dann haben sie mir nachgesagt, ich hätte Beziehungen zur SS. Weil ich zur Effektenkammer gebracht worden bin, da waren ja auch Häftlinge, und weil ich dann in Zivil war und mit dem Mercedes aus dem Lager rauskam. Von da an bin ich für einen Spitzel gehalten worden, der mit der SS zusammenarbeitet

»Den kannst du jetzt über dein Bett hängen und einrahmen«

Mit ihrer zunehmenden Verzweiflung verschlechterte sich auch Elfriedes Gesundheitszustand, sie wurde immer dünner, die Wunden heilten nicht. Sie erfuhr, dass ihre Mutter ein Entlassungsgesuch eingereicht hatte, wartete täglich sehnsüchtig, wurde aber nicht entlassen. Als nicht mehr arbeitsfähig sollte sie den Industriehof verlassen und kam zurück in ihren alten Block. Als sie wieder zum Kommandanten gerufen wurde – inzwischen was es Ende 1944 –, erfuhr sie, dass ihr Bruder im September gefallen war. »Ich war fix und fertig, auch weil der zu mir gesagt hat: ›Den kannst du jetzt über dein Bett hängen und einrahmen. Der hat sein Leben lassen müssen für sein Vaterland. Und du? Du bist hier drin!‹ Der sagte, ich sollte mich schämen. Ich war auf alles gefasst, aber nicht darauf, dass ich noch beleidigt werde. Ich ging auf den Block zurück und hab mich von da an gehen lassen. Ich hab nicht mehr gekämpft, es war mir alles egal. Was um mich herum passierte, hab ich gar nicht mehr wahrgenommen. Es hat auch niemand mehr gefragt, ob du arbeiten gehst oder nicht. Du bist nicht mehr zur Arbeit aufgerufen worden. Es hat sich keiner mehr gekümmert. Es war Kriegsende, und von weitem hörte man schon die Kanonen. Dann hieß es: ›Die Russen kommen näher!‹ Als dann die Transporte auf den Todesmarsch gingen, war ich viel zu schwach dafür und wurde zurückgelassen

Elfriede Schneider versteckte sich im Lager, bis sowjetische Soldaten sie fanden und in die Krankenstation brachten. Dort wurden ihre entzündeten Wunden behandelt, und sie erhielt frische Wäsche. Im Juli 1945 entließ man sie mit einem Passierschein und Fahrgeld am Bahnhof.

»Ja, wo hast du dich denn rumgetrieben?«

Allein und noch immer geschwächt, zog sie von Ort zu Ort. Inmitten der Flüchtlingsströme, überfüllter Bahnhöfe und Züge gelang es ihr oftmals nicht, den Zug zu erwischen. So musste sie tagelang auf den nächsten warten. »Du kannst dir kein Bild machen, wie die den Zug gestürmt haben. Die haben dich einfach umgeschmissen. Ich war ja sowieso so schwach auf den Beinen. So stand ich wieder da und hab den Zug nicht gekriegt. Dann kamen mir die Tränen. Ich wollte nur heim. Ich hab Hunger gehabt und überhaupt nur das, was ich auf dem Körper hatte, sonst nichts

Zwei Soldaten zogen sie irgendwann auf einen Güterwaggon voller Kohlen, der nach Stuttgart fuhr. »Einer hat mir ein Stück Brot in die Hand gegeben. Ich hab das Brot unterm Arm gehabt und immer nur ein Stück gegessen. Mir kamen immer wieder die Tränen, und so schwarz, wie ich war, kam ich in Stuttgart an. Im Wartesaal lagen alle und haben geschlafen

Sie erfuhr, dass Heilbronn völlig zerstört sei und keine Züge dorthin fuhren. Ihr bliebe nur der Fußmarsch in die sechzig Kilometer entfernte Stadt. Voller Sorge um die Familie, wusste sie keinen Ausweg, brach zusammen und wurde von französischen Soldaten versorgt. Heilbronn lag im amerikanischen Sektor, die Grenze befand sich zwanzig Kilometer entfernt. »Dann haben die Franzosen mich mit einem Jeep an die Grenze gebracht, von da aus musste ich zu Fuß gehen. Ich hab ausgesehen wie ein Schwein. In der Julihitze hatte ich den Wintermantel an und das warme Kleid vom KZ. Ich ging immer auf den Schienen, bis zum Neckar. Da sind die Wunden wieder aufgebrochen, und das Blut lief runter. Das waren fünfzehn Kilometer, die läufst du normal in zweieinhalb Stunden. Ich hab zwei Tage dafür gebraucht

Amerikanische Soldaten griffen die verwahrloste Frau auf, brachten sie in ein Lazarett. »Die Sanitäter vom Roten Kreuz haben mich gleich dabehalten. Ich hab ausgesehen … durch mich konnte man ja durchblasen. Irgendwann haben die mich heimgebracht. Da stand der Schwarze in Uniform neben mir und noch ein deutscher Polizist. Ich hab geklingelt, meine Mutter ist rausgekommen und hat gesagt: ›Tut mir Leid, ich kann Sie nicht aufnehmen, sonst werde ich bestraft. Sie müssen weiter.‹ Da hab ich zu meiner Mutti gesagt: ›Erkennst mich nicht mehr?‹ Da ist sie in Ohnmacht gefallen, und das Erste, wo sie wieder zu sich kam, war: ›Ja, wo hast du dich denn rumgetrieben?‹ Da hab ich wieder geheult und ihr gesagt, wo ich herkomme. Am liebsten hätte ich mich sofort wieder umgedreht und wäre gegangen

Erst als ihr jüngerer Bruder und der Vater heimkamen, sei sie wirklich zu Hause angekommen. »Das war eine Riesenfreude, als ich meinen Vater gesehen hab. Mein Bruder hat mich umarmt und immer wieder gesagt: ›Du lebst! Du lebst!‹ Dann kam die ganze Verwandtschaft, bis auf zwei, die hab ich nie wiedergesehen. Das waren Nazis. Dann hab ich vierzehn Tage lang Brei gegessen, bis ich wieder auf der Höhe war. Und dann kam der Kampf um die Existenz

Sie erfuhr, dass ihre Mutter nie darüber gesprochen hatte, dass sie im Lager war. »Vielleicht hat meine Mutter das nicht bewusst getan, aber wenn die Rede drauf kam, sagte sie immer: ›Elfriede war im Arbeitsdienstlager.‹ Doch ich hab kein Pardon gekannt und hab frei und offen gesagt, wo ich war. Meine Mutter musste sich schließlich dazu bekennen. Sie hatte immer Angst, sie wird selbst eingesperrt. Aber nach dem Krieg hätte sie doch sagen können: ›Meine Tochter war da und da, und ich steh dazu. Ich hab ihr Pakete geschickt.‹ Heute wissen sie alle, wo ich war

»Was ich gemacht habe? Ich hab viel gerätselt«

»Als ich heimkam, hab ich meinen Jugendfreund getroffen. Der war eigentlich meine große Liebe. Er war mein erster Mann. Da war nur meine Liebe, und sonst war da nichts. Ausgehen, Kino, das war wichtig. Wenn er da war, hab ich alles vergessen können. Doch dann kam der Einschnitt. Er war Dachdecker und ist abgestürzt. Dabei wollten wir heiraten, weil ich schwanger war. Das war wieder ein schwerer Einbruch in meinem Leben – das Lager und dann sein Tod. 1947 kam mein Sohn zur Welt

 

Ab 1949 verbrachte Elfriede Schneider lange Zeit in Sanatorien. »In einer Heilstätte hatte ich einen Arzt kennen gelernt. Der wollte alles ganz genau wissen und sagte, ich soll mich freireden, weil ich immer so verkrampft war. Mir stand das Weinen immer näher als das Lachen. Er sagte: ›Du wirst nie gesund, wenn du das nicht abbaust.‹ Da hab ich ihm alles erzählt, und es wurde mir leichter. Doch wenn ich dann zu Hause war, ging es von vorne los. Da hab ich dann wieder alles in mich reingefressen. Ich hab geglaubt, ich hab’s vergessen, aber ich hab’s nie vergessen

Elfriede Schneiders Mutter starb 1950. Nach einem Nervenzusammenbruch musste Elfriede wieder ins Sanatorium eingeliefert werden. 1950 heiratete sie einen ihrer ›Kurschatten‹. Mit ihrem Mann konnte sie anfangs über alles sprechen. Doch als er merkte, wie sehr sie die Erinnerungen aufwühlten, riet er ihr, alles zu vergessen. »Er hat nie geduldet, dass jemand mit dem Lager angefangen hat. Er hat immer gesagt: ›Lasst meine Frau in Ruhe. Das geht euch nix an. Das ist privat.‹ Auf die Art hat er mich abgeschirmt. Aber er wusste das. Innerhalb der Familie wussten es alle, aber man wollte das einfach vergessen. Ich hab nicht mehr gelacht. Auch meine Brüder haben mich irgendwie abgeschirmt. Da kam das Thema überhaupt nicht zur Sprache. Ich will dir sagen, was ich gemacht habe. Ich hab viel gerätselt, Rätselhefte gekauft und mich damit beschäftigt. Da konnte ich abschalten. Ich hab auch furchtbar viel gelesen, damit ich auf andere Gedanken komme. Ich hab manchmal am Tag drei, vier Bücher gelesen, doch danach kaum gewusst, was ich gelesen hatte. Dann hab ich wieder von vorne angefangen, um mich überhaupt auf irgendwas zu konzentrieren

Die Ehe ging in die Brüche, der Sohn geriet auf die schiefe Bahn. Darüber sprechen wollte sie nicht. Sie sagte nur, dass sie ihren Sohn nicht mehr gesehen habe, seit er im Gefängnis sitze. Ihr Leben sei ein einziger Kampf gewesen. »Ich bin krank aus dem Lager gekommen, krank bis zum heutigen Tag. Ich kämpfe bis heute um Wiedergutmachung. Ich sollte Zeugen bringen. Aber wo sollte ich die herholen? Sind doch alle tot. Dann hat man mich mit lächerlichen 5000 Mark abgefunden. Was ist das gegen meine Krankheiten? Aber für mich ist es eine große Erleichterung, dass ich sagen kann: ›Ich hab im Krieg nicht mitgeholfen.‹ Aber ich wollte über das, was ich erlebt habe, auch nicht sprechen. Ich war im Glauben, ich hab’s vergessen, bis es mir in Moringen klar wurde. Ich hab alles nur verdrängt. Da kam alles wieder hoch, als ob es gestern gewesen wäre. Das war dann noch schlimmer als damals, wo ich aus dem Lager kam. Von der Tagung in Moringen bin ich total erschöpft heimgekommen. Der Klaus12 hat nur gesagt: ›Was fehlt dir denn?‹ Ich hab nur gesagt: ›Lass mich in Ruhe.‹ Danach hab ich nächtelang vom Lager geträumt. Die ganzen Erinnerungen wurden in mir wach, als ob es gestern gewesen wäre

Die größte Angst von Elfriede Schneider war, dass ihr niemand Glauben schenken würde. Dass selbst die Kameradinnen in Moringen ihre Erinnerungen anzweifelten, verletzte sie sehr. »Ich dachte immer, dass das keiner glauben kann, der es nicht mitgemacht hat. Was dort geschehen ist, das war so unmenschlich. Ich hab mal angefangen, bei uns zu Hause davon zu erzählen, hinter dem Haus. Da sind wir immer gesessen und haben Karten gespielt. Meine Freundin war dabei. Sie sagte zu mir: ›Erzähl doch mal, wie ist es dir ergangen?‹ Da habe ich erzählt. Einer war dabei, der sagte: ›Mensch, du erzählst ja Märchen. Das gibt’s doch gar nicht.‹ Da hab ich mich schon wieder zurückgezogen und zu meiner Freundin gesagt: ›Weißt du, Hanne, es glaubt mir ja doch keiner.‹ Sie hat mir das geglaubt. Ich konnte ja in kein Schwimmbad mehr gehen wegen meiner Narben. Stell dir vor, ich wäre ins Schwimmbad gegangen, ich hab so lange Narben hier an den Beinen und am Rücken, ich hab regelrechte Komplexe gehabt, dass mich die anderen anstarren oder fragen, woher das kommt

Solange ihr Vater lebte, war er der einzige Mensch, mit dem sie sprechen konnte. »Meine Mutter hat kein Verständnis dafür gehabt. Die hat andere Sorgen gehabt. Ich musste alleine fertig werden. Noch heute, wenn ich alleine bin, muss ich zusehen, dass ich nicht darüber grüble. Dann geh ich viel im Garten oder im Wald spazieren. Da ist es mir, als ob mein Vater neben mir geht. Irgendwie schaff ich es dann wieder, führe Selbstgespräche im Wald und rede laut mit meinem Vater. Meine Lady, der kleine Hund, die steht dann neben mir und guckt mich an. Das gibt mir unheimlich viel Kraft. Die Hauptkraft gibt mir mein Vater

»Meine Narben, die sieht man nicht, aber deine …«

»Als ich vom Lager heimkam, war der Hass furchtbar. Hauptsächlich der Hass auf Deutsche, weil die immer gesagt haben, ich hab nicht ›Heil Hitler‹ geschrien. Keiner hat von was gewusst. Da wurde der Hass so groß, ich wurde richtig rebellisch. Das hat Monate gedauert, bis ich diesen Hass verloren habe. Mein Vater hat mir geholfen, weil er immer sagte, die hätten alle Angst gehabt. Irgendwann hab ich ihm Recht gegeben, aber nur innerlich, äußerlich nicht

Ein halbes Jahr nach ihrer Heimkehr traf Elfriede Schneider in Heilbronn die Lagerpolizistin, die sie in Ravensbrück wegen der Seife verraten hatte. »Der hab ich schon im Lager angedroht: ›Wenn Gott will, dass ich hier wieder rauskomme, ich bring dich um, wenn ich dich erwische!‹ Ich hatte sie schon vergessen. Im ersten halben Jahr, wo ich noch keine Haare hatte, bin ich nicht raus. Doch dann waren meine Haare schon vier Zentimeter lang, da hat mein Bruder gesagt: ›Komm mit, du hast genug getrauert, jetzt gehen wir mal tanzen.‹ Und da sind wir gegangen. Plötzlich klopft mir jemand auf die Schulter und sagt: ›Na, Elfriede, hast du’s doch überlebt? Gott sei Dank.‹ Das war sie. Da hat mich mein Bruder schon gehalten. Der wusste sofort, was los war. Er hat mich richtig von ihr ferngehalten. Doch dann hab ich meinem Vater das Rasiermesser geklaut. Ich ging nicht mehr in Röcken, sondern nur in Hosen. Das Rasiermesser hab ich immer in der Tasche gehabt. Ich hab die gesucht wie eine Stecknadel. Ich wollte mich an ihr rächen, ich hab so richtig Wut auf die gehabt. Und an einem Sonntag war sie wieder da. Da bin ich zu ihr hin: ›Du, ich muss mit dir reden, kommst du mit raus?‹ Da ist sie mit mir raus. Hat sich nichts dabei gedacht. Drinnen haben sie mich vermisst, aber bis sie was gemerkt hatten, war’s schon zu spät. Ich hab das Rasiermesser genommen – so schnell konnte die gar nicht gucken – und bin ihr kreuz und quer durchs Gesicht gefahren. Ich hab bloß gesagt: ›Meine Narben, die sieht man nicht, aber deine sieht man.‹ Ich hab eine Erleichterung gespürt, das kann ich gar nicht beschreiben. Dann hat sie mich angezeigt, und es kam zur Gerichtsverhandlung. Mein Bruder hat gleich die Spuren verwischt, und alle sind zu mir gestanden, obwohl sie es wussten. Ich glaube, wenn mein Bruder nicht dazwischengegangen wäre, ich hätte die kaltblütig ermordet, so einen Hass hatte ich. Das hat kein Mensch gesehen, dass ich das war. Bei der Verhandlung sind alle dabei geblieben, dass wir an dem Tag nicht dort waren, und aus Mangel an Beweisen bin ich freigesprochen worden. Nach der Verhandlung hat der Richter zu mir gesagt: ›Jetzt kannst du’s mir ja sagen.‹ Doch ich hab gesagt: ›Nein, ich war es nicht, und wenn ich es gewesen wäre, würde ich es nicht zugeben.‹ Erst zehn Jahre später hab ich den Richter wiedergesehen, als ich mit meinem Vater beim Pferdemarkt war. Da hat er zu meinem Vater gesagt: ›Gell, das war deine Tochter?‹ Mein Vater sagte ihm, dass ich es war, und warum ich es getan habe. Daraufhin sagte der Richter: ›Dann war das noch viel zu wenig.‹«

FUNKTIONSHÄFTLINGE: ZWISCHEN PRIVILEG UND WIDERSTAND

Die ehemaligen Funktionshäftlinge1 sind wichtige Zeuginnen für die innere Struktur des Frauen-KZ Ravensbrück. Sie wurden in Funktionen eingesetzt, in denen sie – unter strenger Kontrolle – den Aufseherinnen und SS-Bewachern bei unterschiedlichsten Tätigkeiten zur Seite stehen und ihnen bestimmte Arbeiten abnehmen mussten. Ihre herausgehobene Position wurde aus der Perspektive vieler Häftlinge als ›Mithelferschaft‹ empfunden. In Ravensbrück gab es drei Gruppen2 von Funktionshäftlingen:

– Auf der obersten Hierarchiestufe standen die Lager-, Block- und Stubenältesten und die Anweiserinnen bzw. Vorarbeiterinnen der Arbeitskolonnen.

– Zur Aufrechterhaltung des Lagerlebens arbeiteten Häftlinge in der Küche, Wäscherei, Desinfektion und Entlausung sowie in Reparaturkolonnen. Wichtige Funktionen besetzten sie auch als Pflegepersonal, Krankenschwestern und Ärztinnen. Häftlinge wurden ebenfalls in der SS-Küche und -Kantine eingesetzt und in privaten Haushalten der Lagerleitung. Sie arbeiteten im Frisiersalon der Aufseherinnen und betreuten deren Kinder.

– Hilfskräfte der Lagerverwaltung gab es in den Schreibstuben und Büros der Kommandantur, der Aufseherinnen, der Ärzte und im Arbeitseinsatz. Dazu gehören auch diejenigen, die z.B. bei ankommenden Transporten die Listen führten sowie die Mitarbeiterinnen der Bauleitung.

Das KZ als Wirtschaftsbetrieb

Als einen ›Staat im Staate‹, in dem es alles gab, was man sich nur vorstellen konnte, bezeichnete die Blockälteste Mieczysława Jarosz das Lager Ravensbrück.

Die Häftlingsärztin Ilse Reibmayr beschrieb das Lager als »Riesen-Wirtschaftsbetrieb, in dem wir ein Glied in der Kette waren. Die oberste Schicht war die ganze Organisation der SS, die dorthin abkommandiert war. Da hat es Büros gegeben, eine politische Führung und alles, was in einem Staat notwendig ist. Die ganze Arbeit ist den Häftlingen überlassen worden. Man hat die Intelligenten mit entsprechender Schulbildung rausgenommen, und die haben die ganze Arbeit und auch die Organisation übernommen. Es gab eine Bekleidungskammer, Wäschekammer, Schreibstube und vieles mehr. Das große Sanitätsgelände mit sieben oder neun Baracken, das Revier mit Zahnarzt und Apotheke, es war alles da

»Die SS hat nichts gemacht«, ergänzte Hermine Jursa (Reparaturkolonne), »alles haben die Häftlinge machen müssen. So haben wir die Chance gehabt, dass politische Leute Positionen in der Verwaltung kriegten, im Revier oder z.B. als Blockälteste. Es war wichtig, dass in allen Verwaltungsbereichen politische Frauen gestanden sind. Die SS konnte nicht verhindern, dass sie neben der normalen Arbeit auch politische Arbeit machten

ILSE REIBMAYR: »Dann wurde sichtbar, dass innerhalb dieses ganzen schrecklichen Geschehens ein eigener Staat von den Häftlingen erarbeitet worden war, und aus dem haben sie natürlich das Beste gemacht. Wenn man sich vorstellt, dass es in so einem Konzentrationslager nur Elend, Not und Geschrei gibt, dann ist das nicht wahr. Menschen, die arbeiten können, die können ihre Aktivitäten ohne weiteres entfalten. Natürlich in einem Zustand ständiger Bedrohung, aber darum halten sie umso mehr zusammen. Ich denke z.B. an die, die im Revier gearbeitet haben, wo wirklich zu jeder Zeit eine gute Kameradschaft geherrscht hat. Ich war auch sehr angesehen, weil ich große Macht gehabt habe, um helfen zu können – und ich kann mich an keinen Fall erinnern, in dem ich nicht geholfen habe. Ich hatte Zugang zu Verbandszeug, zu den Medikamenten, und ich habe ärztlichen Rat geben können. Ein anderer Mensch wäre genau so hilfsbereit gewesen, aber er hatte die Mittel nicht

ANISE POSTEL-VINAY (Arbeiterin in der Schneiderei, ohne Funktion): »In jedem Lager gab es eine Hierarchie. Es gab eine Aristokratie auf der einen Seite und auf der anderen das Volk. Die Aristokratie, das waren die Frauen, die gute Arbeiten hatten. Ganz wie in der normalen Gesellschaft hatten die Frauen, die der sauberen Büroarbeit nachgingen, Zugang zu den Duschen, während wir, die dreckige Arbeiten mit Kohle und Erde verrichteten, uns nicht waschen durften

ANNETTE EEKMAN (Revierarbeiterin): »In jeder Gesellschaft gibt es Menschen, die von so einem Zustand Gebrauch machen, um daraus Vorteile zu ziehen. Die dann auch selbst Unrecht an anderen begehen. Das ist so alt wie die Welt. Ich stelle das nicht mit Verbitterung fest – das ist eine Lebenswahrheit. Wir haben immer versucht, so weit wie möglich Solidarität zu üben. Andere haben das nur in einer Linie getan und nur Kommunisten geholfen oder nur Katholischen, das gab es auch. Das sind Phänomene wie im wirklichen Leben auch