Und dann kommst Du dahin an einem schönen Sommertag

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»Mein Mädchen kriegen sie nicht«

Ihr Vater überließ Elfriede die Entscheidung – die sie eigentlich schon gar nicht mehr frei treffen konnte – und bot ihr einen Ausweg an, wenn sie die Arbeit im Rüstungsbetrieb verweigern würde: Sie sollte dann sofort zu ihrem Onkel nach Neckarsulm gehen und ihm Bescheid sagen. Vater und Onkel hatten für diesen Fall ein Versteck im Keller vorbereitet. »Ich hab ja gewusst, was geschieht, wenn Krieg ist, denn mein Vater hatte vom Ersten Weltkrieg erzählt, da war er Leutnant. Er hat erzählt, was mit den Menschen passiert, wie furchtbar das ist. Und wenn meine Brüder in den Krieg müssen, dann wollte ich nicht dran schuld sein, dass ich mitgeholfen habe, die Waffen zu bauen. Ich wäre da nie drüber weggekommen, wenn mein Bruder gefallen wäre, und einer ist ja gefallen. Heute brauche ich nicht darüber nachzudenken, ob ich mitgeholfen habe. Das war für mich das Ausschlaggebende. Mich hat fasziniert, was mein Vater gemacht hat. Ich wollte auch helfen und ich wäre auch heute sofort wieder mit dabei

Als Elfriede die Dienstverpflichtung erhielt, ging sie nicht zur Fabrik, sondern auf direktem Weg zu ihrem Onkel. »Natürlich hatte ich die Angst im Nacken. Angekommen bei meinem Onkel, bin ich ihm in die Arme gefallen. Ich wusste, er beschützt mich. Er war sowieso mein Lieblingsonkel. Dann hat er mich in den Keller gebracht. Von der Stunde an war ich im Keller und hab die Freiheit nicht mehr gesehen

Sie blieb nicht lange allein, denn ihr Vater versteckte noch zwei jüdische Mädchen in dem Keller, in dem auch die Druckmaschine stand. »Mein Vater hat zu meiner Mutter gesagt: ›Mein Mädchen kriegen sie nicht. Und wenn was ist: Sie ist weg. Wir haben sie ins Ausland geschafft.‹ Meine Mutter blieb auch dabei. So war ich spurlos verschwunden

»Ich hab einen Frühling erlebt bei Nacht«

Die Tante versorgte die Mädchen im Keller ihres Hauses mit Essen. Nach Klopfzeichen wurde die Falltüre geöffnet, doch nur selten kam jemand runter. »Ja, und dann verging der Tag mit Quatschen, mit Dummheiten machen und Radio hören. Es gab auch eine Setzerei. Mein Vater hatte die organisiert.7 Es war dann meine Aufgabe, die Buchstaben für die Flugblätter zu setzen, und mein Vater hat das dann abends gedruckt. Für mich war das nie langweilig

Nur nachts durfte Elfriede ab und zu nach draußen. »Wir waren von 1940 bis 1941 in dem Keller, ein bisschen mehr als ein Jahr. Wenn ich nachts rauskam, standen meine Brüder da und haben auf mich aufgepasst. Ich hab einen Frühling erlebt bei Nacht. Ich hab den Sommer erlebt bei Nacht

In ihrem Versteck bekam die sechzehnjährige Elfriede zum ersten Mal ihre Periode. Sie stand Todesängste aus: Niemand hatte sie aufgeklärt, und sie befürchtete eine schlimme Krankheit. Als die Tante endlich kam, erfuhr sie, was los war. »1941 sind meine Onkel und Tanten immer mehr unter Kontrolle geraten. Wenn ich dann nicht raus durfte, gab es schon Tage, wo ich aggressiv wurde. Dann gab es auch Zeiten, da ist nur ein Brief runtergefallen: ›Wir können jetzt nicht kommen.‹ Da wurde ich natürlich sauer. Vor allen Dingen haben sie mich gewarnt, weil ich immer so böse wurde. Ich wurde richtig wild und aggressiv. Ich wollte mit Gewalt raus. ›Ist mir scheißegal, was passiert! Ich hab das satt bis oben hin! Ich lass mich nicht länger einsperren! Sie sollen mich erst einsperren, wenn ich ins Gefängnis komme.‹ So hab ich da unten rumgeschrien. Und manchmal bin ich auf dem Boden gelegen und hab mit den Fäusten auf die Erde eingeschlagen. Dann haben sie mich wieder beruhigt und haben gesagt: ›Willst du deinen Vater und deinen Onkel in Gefahr bringen?‹ Da kam ich wieder zu mir. Aber es gab schon schwere Stunden. Und dann hat uns einer verraten

Erst nach dem Krieg erfuhr Elfriede Schneider, dass es jemand aus der Familie war.

»Nachher war mir völlig egal, wie ich ausse he«

»Mein Vater hat gewusst, dass wir verraten werden. Er konnte zwar die beiden Mädchen vorher noch nach Frankreich bringen, aber mich nicht mehr wegschaffen. Ich wäre auch nicht weg von ihm. Ich hab immer gedacht: Wenn mein Vater oder mein Onkel bei mir ist, kann mir nichts passieren. Den Glauben hab ich bis zuletzt gehabt, bis sie meinen Vater dann von mir weggerissen haben

Die letzten acht Tage verbrachte die Siebzehnjährige alleine im Keller, sie spürte, das etwas Schlimmes geschehen würde. »Ich war alleine, die Maschine war weg, kein Papier, nichts mehr war da. Ich durfte auch nachts nicht mehr raus. Ich hab keinen Bruder, niemanden mehr gesehen. Das war die schlimmste Zeit, die letzten acht Tage da unten. An dem Tag, als ich verhaftet worden bin, kam mein Vater zu mir und sagte: ›Was jetzt auf dich zukommt, das musst du gefasst nehmen. Denk aber immer daran, dass ich bei dir bin, egal, wo du bist.‹ Dann hat er mich fest an die Hand genommen. Auf einmal haben wir Stiefel gehört, schwere Schuhe und Gebrüll. Dann hab ich einen Schrei gehört, und die Falltür ging auf. ›Gestapo. Ihr seid verhaftet! Rauskommen!‹, mit der Pistole in der Hand. Da habe ich zu meinem Vater gesagt: ›Gott sei Dank.‹ Der konnte das gar nicht fassen. Ich hab wirklich geglaubt, jetzt bin ich frei. Jetzt kann ich wieder heim. Jetzt bin ich aus allem raus. Der Meinung war ich, bis ich ins Gefängnis kam

Im November 1941 war Elfriede Schneider gerade siebzehn Jahre alt und kam nach mehr als einem Jahr direkt aus dem Keller ins Gefängnis. Sie wurde verhört, geschlagen, durfte ihre Eltern nicht sehen und wusste nicht, was mit ihnen passierte. Im KZ Rudersberg, wohin man sie nach einigen Wochen brachte, verweigerte sie die Arbeit und wurde nach acht Wochen wieder abtransportiert. Nach vielen Stationen erreichte sie das Gefängnis Berlin-Alexanderplatz. »Im Alex war ich acht Tage. Das war eine große Zelle, in der Frauen, alte Frauen und Kinder eingepfercht waren. Wochenlang war ich in denselben Klamotten. Ich hatte nur morgens ein bisschen Wasser fürs Gesicht. Ich hab Ausschlag gekriegt am ganzen Körper, am Rücken, im Mund, überall, durch den Schmutz. Ich hab gerade mal ne Schale voll Wasser gesehen. So dreckig, wie ich war, kam ich auch auf den Transport. Aber da hat niemand gefragt: ›Ja, wie siehst du denn aus?‹ Nachher war mir völlig egal, wie ich aussehe. Ich hab bloß immer um mich geguckt und gesehen, dass die andern genauso aussehen wie ich. Ich hab mich damit abgefunden. Ich kam nach Auschwitz. Dort auf der Rampe wurden wir gleich aussortiert: dahin und dahin. Die Kranken raus. Da war ein Arzt. Ich nehme an, das war Mengele. Der kam und hat mich angesehen und fragte, wie ich heiße. Da hab ich gesagt: ›Mergenthaler.‹ Er fragte mich, ob der Reichsminister Dr. Mergenthaler8 aus Stuttgart mein Onkel wäre. Da hab ich automatisch gesagt: ›Ja.‹ Ich kam gleich auf die Seite. Zwei Tage später bin ich in Lublin gewesen. Dort war ich sechs, sieben Wochen und kam dann ins Jugendschutzlager Uckermark. Im Sommer 1942 bin ich dort angekommen

»Ich hab mich geekelt vor den Frauen«

Das Jugendschutzlager Uckermark war im Mai 1942 als Jugend-KZ für jugendliche weibliche Häftlinge eröffnet worden. Angesiedelt ganz in der Nähe des Frauen-KZ, unterstand es der Verwaltung von Ravensbrück. »Wir sind ausgestiegen in Fürstenberg am Bahnhof. Dort waren gleich die SS-Frauen da, mit Hunden, und SS-Männer. Wir mussten uns hintereinander stellen, und dann ging’s ab, wir mussten laufen bis in die Uckermark. Das war oberhalb von Ravensbrück im Wald. Als ich reinkam, waren das nur drei Blocks und kein Zaun. Wir haben graublaue Kleider bekommen

Die jungen Mädchen wurden einem militärischen Drill unterzogen. »Fünf Uhr Wecken, aufstehen, raus, Turnhose und Hemd an und zum Sport. Da sind wir bei Sturm und Regen und Wind immer im Kreis gerannt. Das war unser Frühsport und dann in der Turnhalle Sport treiben. Arbeiten musste ich unten am See, Schiffe be- und entladen. Da musste ich auch mal Kohlen ausladen. Ich hab einmal nur einen Satz vor mich hingesprochen, da hatte ich schon einen Tritt im Hintern: ›Du Schwein, willst du wohl arbeiten! Du Drecksau!‹ Mir liefen bloß die Tränen runter. Wenn ich so in den See reingeguckt hab, hab ich so für mich gedacht: ›Da reinspringen, und du bist von allem erlöst.‹ Dann hab ich wieder gedacht: ›Ach nein, wer weiß, bist noch so jung.‹ Die anderen waren alle reifer als ich. Die haben mir Sachen erzählt, da hab ich bloß mit den Ohren geschlackert. Das war eigentlich der erste Schock, den ich gekriegt habe, die Sachen über die Liebe, und wie man das macht. Die haben mir das alles erzählt. ›Hast du schon mit einem Kerl geschlafen?‹ Das war meine erste Berührung mit dem ›Thema eins‹. ›Komm mal mit, dann zeigen wir dir, wie man’s macht.‹ Abends, wenn wir in den Betten lagen, die waren drei Etagen hoch, lag ich ganz oben. Da haben sie gerufen: ›Willst du mal runterkommen und gucken? Guck mal, was wir treiben.‹ Ich hab mich geekelt vor den Frauen. Ich hatte das noch nie in meinem Leben gesehen. Ich hab mir gedacht: ›Mensch, was seid ihr Dreckschweine.‹ Mich durfte keine Frau anfassen. Wenn mich eine angefasst hat, wurde ich hysterisch und schrie: ›Fass mich nicht an!‹ Die haben bloß gelacht und gekichert. ›Stell dich nicht so an! Das wirst du schon noch erleben.‹ Ich wurde von Vierzehn-, Fünfzehnjährigen aufgeklärt, wie das geht, und wenn du ein Kind kriegst und, und, und. Das wusste ich doch alles nicht. Ansonsten lief ein Tag wie der andere ab, arbeiten, morgens raus und abends rein, Sport und rüber in den Bastelraum. Das war dann halt mein Leben

»Aber ich hab den Himmel über mir gesehen«

Im November 1942 wurde Elfriede Schneider ins Frauenlager Ravensbrück verlegt. Sie war inzwischen achtzehn Jahre alt, seit einem Jahr in Haft, ohne jeglichen Kontakt nach Hause. »Dann sind mir meine Haare abgeschnitten worden. Das war der zweite Schock. Dann musste ich zum Doktor Rosenthal9. Der hat mich gefragt: ›Hast du schon mal einen Mann gehabt?‹ Ich sagte: ›Nein.‹ Da hat der mir eine ins Gesicht gehauen. Ich wusste überhaupt nicht, was ich machen sollte. Ich stand splitternackt vor dem Mann. Da hat er mich noch mal gefragt. Ich hab wieder gesagt: ›Nein.‹ ›Das werden wir ja sehen!‹ Dann kam die Untersuchung. Als ich rauskam, hab ich die anderen nicht wiedererkannt. Die haben alle die Haare ab gehabt. So kam ich auf den Zugangsblock

 

Elfriede Schneider bekam den roten Winkel der politischen Häftlinge und die Nummer 15089. Im Zugangsblock traf sie überwiegend auf Häftlinge mit grünen oder schwarzen Winkeln, die als ›Kriminelle‹ und ›Asoziale‹ eingestuft worden waren. Ihre Erfahrungen unterscheiden sich sehr von denen jener, die direkt nach ihrer Einlieferung in Blocks mit ›Gleichgesinnten‹ kamen. »Da wusste ich noch nicht, was mit mir überhaupt geschieht, und warum, und weshalb ich überhaupt in dem Lager war. Erst dann hab ich gelernt, was für Bestien die Frauen waren, die dort lebten. Vor den Häftlingen hab ich wirklich Angst gekriegt, denn so was Brutales von Frauen, so was Kaltes von Menschen hab ich noch nie gesehen. Nachdem ich die Nummer hatte, durfte ich auch schon mal raus auf die Lagerstraße. Das war für mich wie eine Freiheit, obwohl ich eingesperrt war, aber ich hab den Himmel über mir gesehen. Das Lager war groß, riesig – und ein Haufen Menschen. Ich konnte mich mit einzelnen Frauen unterhalten. Die haben mich empfangen: ›Warum bist du da? Was hast du gemacht?‹ Dann ging’s halt ans Erzählen

Freundschaft und Zahnpasta

Elfriede Schneider kam anschließend auf Block 5, zur Stubenältesten Minna Rupp10, die wie Elfriede aus Schwaben stammte und das junge Mädchen sogleich in ihre Obhut nahm. »Sie nahm mich auf ihre Blockseite und sagte: ›Wenn’s geht, leg dich nach oben.‹ Da war es noch nicht so überfüllt, da hat jede noch ihr eigenes Bett gehabt, auch noch karierte Überzüge. Wir mussten morgens um fünf raus und Appell stehen, ob es geregnet hat oder nicht. Jemand hat mich aufmerksam gemacht: ›Wenn’s geht, stell dich nie nach vorne in die erste Reihe. Wenn du hinten stehst, kannst du dich ein bisschen bewegen.‹ Vorne musste man immer strammstehen. Ich ging immer als die Letzte aus dem Block raus, hab immer geschaut, dass ich nach hinten kam. Ich hab es immer verstanden, mich zu drücken. Aber da hat mir auch die Blockälteste viel geholfen

Elfriede Schneider wurde verfügbare Arbeiterin und musste Schwerstarbeit leisten; für das junge, zart gebaute Mädchen kaum auszuhalten. Sie wurde krank und konnte – dank Minna Rupp – ein paar Tage auf dem Block bleiben. »Eines Tages fragte sie: ›Hast du Schreibgenehmigung?‹ Ich wusste es nicht, und sie versprach, es herauszufinden

Die Freude war übergroß, als Elfriede Schneider erfuhr, dass sie nach Hause schreiben durfte. »Sie hat mir Schreibpapier gebracht, aber gleich gesagt, dass ich nicht schreiben darf, was hier drin vorgeht, sondern nur meine Wünsche und weiter nichts. Ich hab zuerst an meine Tante Sophie geschrieben, dass ich mich in einem Lager befinde. Sie soll sich keine Sorgen machen, mir gehe es sehr gut. Ich bin wohlauf. Wenn es geht, soll sie mir doch bitte Zahnpasta, Zahnbürste und Seife schicken. Nach vierzehn Tagen, abends, als ich von der Arbeit kam, sollte ich zur Paketausgabe. Ich musste über die Lagerstraße auf die andere Seite, und da ist meine Nummer aufgerufen worden, dann hab ich mein Paket empfangen. Als ich zurückkam auf den Block, fragte die Blockälteste gleich, was ich bekommen habe, und hat mich in ihr Zimmer reingeholt. Ich sagte ihr, das und das und das, und sie fragte: ›Brauchst du die Zahnpasta?‹ Selbstverständlich brauchte ich sie. Da hat sie gesagt: ›Wenn du wieder schreibst, kannst du dann Zahnpasta für mich schicken lassen?‹ So hab ich die Blockälteste und auch die Stubenälteste auf meine Seite gezogen, meine Freundschaften gekauft und Vergünstigungen gehabt. Von solchen Freundinnen konntest du genügend haben. Aber echte Kameradschaft, wo du sagen kannst, mit der gehst du durch dick und dünn, das hat lange gebraucht, bis ich so was gefunden hatte. Erst viel später hab ich zwei Berliner kennen gelernt, Zwillinge, Sabine und Ursula. Das weiß ich noch wie heute, zwei Blonde. Mit denen hab ich wirklich eine dicke Freundschaft gehabt. Wir haben uns alles geteilt. Die hatten von zu Hause nichts

Wieder unter der Erde

Ein halbes Jahr später wurde Elfriede Schneider zur Arbeit in die Luftmunitionsanstalt Fürstenberg (Luftmuna) geschickt. »Das war ein unterirdisches Lager. Da sind Häftlinge runtergekommen, die haben nie mehr die Freiheit gesehen. Da unten haben sie Granaten, Bomben und alles Mögliche gebaut, und was nach draußen kam, das mussten wir verladen

Es war wie ein Hohn für sie, jetzt doch für die Rüstung arbeiten zu müssen. Die Arbeit war schwer, und gleichzeitig wurden die Lebensbedingungen im Lager immer unerträglicher. »Wenn wir abends reinkamen, abgeschafft und todmüde, musstest du um dein Essen kämpfen. Wenn du dich umgedreht hast, war die Schüssel weg. Wehe, du hast sie weggestellt. Dann war sie geklaut. Genauso mit meinen Paketen, wenn ich die dagelassen hätte, ich hätte nichts wiedergefunden. Wenn ich ein Paket hatte, trug ich das zur Blockältesten rein, bevor ich zur Arbeit ging. Abends hab ich mir das wiedergeholt und dann verteilt. Du konntest ja nicht alleine essen und die anderen zuschauen lassen. Jetzt waren wir auch schon zu zweit im Bett. Ich wollte mich zu keiner Frau ins Bett legen. Ich hab mich gesträubt. Trotzdem musste das so gemacht werden. Die Betten waren so eng beieinander, und so musste ich zusehen, was die nebendran getrieben haben. Ich ging zur Blockältesten: ›Ich halt das nicht mehr aus.‹ Doch auch die sagte, ich soll mich nicht so anstellen. Die haben gelacht und haben’s noch ärger getrieben, um mich zu ärgern

Kartoffeln und Zigeunerkinder

Elfriede Schneider wurde immer geschickter darin, die Blockälteste zu bestechen, und erreichte, dass sie ihr Bettruhe verordnete, sodass sie sich tagsüber ausschlafen konnte. Nach anderthalb Jahren im Lager kam sie zur Arbeit in die Küche. Gemeinsam mit Kindern musste sie Kartoffeln schälen und sah, welchen Hunger die Kinder litten. »Die Kinder haben geweint vor Hunger, haben die Mülleimer durchgewühlt. Da hab ich ihnen was abgegeben

Mit ihren Freundinnen erkundete sie, dass die Kinder aus dem ›Zigeunerlager‹ kamen, zu dem niemand Zutritt hatte. »Zu fünft haben wir ausbaldowert, wie wir ihnen helfen können. Eine war bei der Lagerpolizei. Ihre Warnungen, was passiert, wenn sie uns erwischen, hab ich nicht wahrhaben wollen. Ich hab einfach die Angst nicht gehabt. Am Tag haben wir einen ganzen Kübel Kartoffeln verschwinden lassen. Der war plötzlich weg, und es ist ja auch in dem Betrieb gar nicht aufgefallen. Dann haben wir bei Nacht den Kübel ins Zigeunerlager geschafft. Das hat mehrmals gut geklappt

Die Lagerpolizistin forderte eines Tages die Seife aus Elfriedes Paket für ihr Schweigen, doch die war bereits der Blockältesten versprochen. »Dann ist die hergegangen und hat uns tatsächlich verraten. Wegen einem Stückchen Seife! Da wurde morgens beim Appell meine Nummer aufgerufen, zum Kommandanten musste ich vor. Bin ich rein, und hab ich mich gemeldet: ›Fünfzehnnullneunundachtzig meldet sich zur Stelle!‹ Was mir eingefallen sei, warum ich das gemacht hätte? Ich sagte: ›Weil die Kinder Hunger haben.‹ Das hätte ich schon nicht sagen dürfen. Die Zigeunerinnen haben nix zu verlangen, das sind keine Menschen. ›Ab in den Zellenbau!‹ Es gab drei Tage Essensentzug, und ich musste immer auf dem kalten Zementboden liegen. Nach acht Tagen da drin war ich so richtig zermürbt. Dann musste ich wieder zum Kommandanten. Der hat nur gesagt: ›Fünfundsiebzig Stockschläge!‹ Ich wusste von vielen, die Stockschläge bekommen hatten. Da ging mir aber das Zäpfchen runter, als ich das gehört hab

»Die eine sagte auf einmal zu mir: ›Werd ohnmächtig‹«

Die Prügelstrafe wurde in einer Zelle des Zellenbaus ausgeführt.

»Ich bin rausgeholt worden auf den Bock, wurde angeschnallt, und sie haben die Hose nass gemacht. Der Doktor Rosenthal stand dabei und hat mir den Puls gefühlt. Ich spüre heute noch, wie mir das Herz ging. Dann kamen zwei Häftlinge mit grünem Winkel rein. Als ich dann angeschnallt war, sagt mir eine ganz leise ins Ohr: ›Wenn du mir was von deinem Paket abgibst, dann schlag ich dich nicht so fest.‹ Ich hab der natürlich mein ganzes nächstes Paket versprochen. Dann musste ich die Schläge mitzählen. Ich hatte beiden meine Pakete versprochen, und da haben die mich nicht so richtig geschlagen. Die eine sagte auf einmal zu mir: ›Werd ohnmächtig!‹ Da hab ich mich dann umfallen lassen. Die letzten Schläge hab ich schon nicht mehr gespürt, hab bloß noch gehört, wie der Doktor Rosenthal sagte: ›Aufhören, die hält es nicht durch.‹ Sie konnten mir keine fünfundzwanzig auf einmal geben. Dann kam ich ins Krankenrevier. Ich konnte nicht mehr liegen, bin vierzehn Tage nur auf dem Bauch gelegen. Dann kam ich zurück auf den Block und war dort acht Tage, denn ich hab nicht arbeiten können. Ich konnte nicht mehr sitzen, bin nur noch gestanden und auf dem Bauch gelegen. Dann musste ich wieder zum Kommandanten, die nächsten Fünfzehn abholen. Ich hab die nächsten Fünfzehn bekommen, und war das so einigermaßen verheilt, ist es wieder von vorne losgegangen. Ich hab gedacht: Jetzt ist alles aus. Jetzt ist Schluss. Dann waren zwei andre mit dem Prügeln dran. Die haben geschlagen! Je mehr ich geschrien habe, desto mehr haben die geschlagen. Dann kam ich wieder ins Revier zum Verbinden und anschließend in den Strafblock, weil sie mich gefragt haben, ob ich’s wieder tun würde. Da hab ich gesagt: ›Ja, das würde ich wieder tun für die Kinder.‹«

Im Unterschied zum Bunker – ein Zellenbau hinter der Lagermauer – befand sich der Strafblock innerhalb des Lagers. Eine abgeriegelte Baracke, die von vielen Häftlingen als Hölle beschrieben wurde. Doch Elfriede Schneider erlebte dort zum ersten Mal Zusammenhalt unter den Häftlingen. Dort habe es keinen Verrat gegeben und keine Bestechung. Sie erinnerte sich außerdem an eine gute Blockälteste. Doch ihre Schreib- und Paketerlaubnis wurde ausgesetzt. »Ich kam wieder zum Außenkommando, wieder zum See. Da mussten wir noch schwerer arbeiten. Das war 1943 im Sommer, es war furchtbar heiß, und ich hatte noch immer die offenen Wunden. Und dann am See arbeiten, Schiffe beladen, entladen … und Läuse. Nicht wir hatten die Läuse, sondern die Läuse hatten uns. Die gingen in die Wunden rein. Ich bin nur ins Revier gegangen, wenn ich tatsächlich zum Verbinden musste, und so schnell wie möglich wieder raus. Ein halbes Jahr war ich im Strafblock. Dann kam ich zurück auf den früheren Block, Block 5. Da hat die Blockälteste zu mir gesagt: ›Du gehst mit den Wunden nicht mehr ins Außenkommando. Ich sorge dafür, dass du in den Industriehof11 kommst.‹ Ich kam dann dort in eine Baracke und in die Kürschnerei, wo ich mit Pelzen gearbeitet hab. Die Arbeit hat mir gut gefallen. Ich hab die Nachtschicht gearbeitet, und wenn ich dann von der Arbeit kam, war ich froh. Da war das Bett noch warm von der anderen aus der Tagschicht, und ich konnte bis mittags schlafen