Und dann kommst Du dahin an einem schönen Sommertag

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›Schutzhaft‹ in Ravensbrück

Anfang November 1943 wurde die achtunddreißigjährige Hermine Schmidt zur ›Schutzhaft‹ in das Frauen-KZ Ravensbrück eingewiesen. Sie kam nach einem vierwöchigen Transport über Köln, Essen, Bremen, Hamburg nach Berlin. Dort erlebte sie schwere Bombenangriffe; die Häftlinge wurden drei Stunden lang im Waggon auf einem toten Gleis abgestellt. In Ravensbrück kam sie erst im Dezember 1943 an. »Vor dem Tor stand die ganze SS, die Aufseherinnen. Da wurden wir in Empfang genommen, und dann ging es direkt ins Bad. Sie waren mit Hunden da, wie Verbrecher wurden wir behandelt. Wir mussten uns aufstellen und wurden angeschrien, gemeinste Worte hat man zu uns gesagt. Wir mussten alles ausziehen, wurden untersucht, die guckten direkt nach den Zähnen, schrieben auf, wer Goldzähne hatte! Wir hatten im Winter keine Strümpfe, bloß ein Hemd und ein Kleid, und einige hatten noch eine Jacke. Wir bekamen einen roten Winkel, aber an die Nummer kann ich mich nicht mehr erinnern, das war irgendwas mit 24.000

Acht Wochen lang blieb Hermine Schmidt auf dem Zugangsblock als ›Verfügbare‹. »Der Zugangsblock war einer der schrecklichsten. Morgens mussten die Betten gemacht werden. Wenn das alles fertig war, kriegten wir ne Tasse Kaffee, das war ein Sauzeug. Dann wurde gestanden: Zählappell! Das dauerte manchmal Stunden, je nachdem, wie die gelaunt waren oder ob es regnete, dann kamen die später. Da durfte man sich nicht rühren

Nach dem Zählappell erfolgte die Aufteilung der Arbeitskommandos. Hermine Schmidt arbeitete im Straßenbau, musste Schiffe entladen und Gartenarbeiten ausführen. »Da war viel Schikane. Im Winter bin ich mal auf einem Kommando gewesen, da mussten wir ein Schiff Ziegelsteine ausladen. Da war eine dünne Eisschicht am See, da sind Frauen gewesen, die hatten ganz blutige Hände. Die ganze Haut war erfroren und abgegangen. Im Revier kriegten sie Jod drauf und mussten am andern Tag wieder arbeiten. Bei der Arbeit im Außenkommando mussten wir Häftlingskleider tragen, und so gingen wir zur Kleiderkammer. Dort arbeitete Lieschen Kubier. Ich sagte: ›Du musst mir unbedingt eine Jacke mit einem Gürtel dazutun.‹ Denn ich hatte schon von anderen gehört, wie die klauten. Als ich dann schon alles ein bisschen kannte, fiel es auch leichter. Mittags kriegten wir Kartoffeln, die wurden in großen Kesseln für die Schweine gekocht. Davon kriegten wir welche zu essen. Die hab ich unterm Kleid mit ins Lager gebracht. Wenn ich jetzt dran denke, dass die mich am Tor geschnappt hätten – das Wenigste wäre der Strafblock gewesen oder Bunker oder fünfundzwanzig Schläge –, das wäre furchtbar gewesen. Aber ich hab in so was immer Glück gehabt

»Weißt du noch, wie du mir den Gürtel …?«

Bei einem meiner Besuche bat mich Hermine Schmidt, sie mit dem Auto zu Lieschen Kubier zu fahren. Sie könne den Berg nicht mehr hochlaufen und habe ihre Freundin, die das Haus nicht verlassen kann, seit Jahren nicht mehr gesehen. Voller Vorfreude saß sie im Auto und lotste mich hin. Doch an der Haustüre wurden wir barsch und unfreundlich von jungen Leuten empfangen: Frau Kubier wäre zu krank, sie könne keinen Besuch empfangen. Als sich im Hintergrund eine Türe öffnete und eine alte Frau herausschaute, stürmte Hermine auf sie zu und zog mich mit hinein. Lieschen Kubier war voller Freude über den unerwarteten Besuch, und nach der Begrüßung waren wir sogleich mitten in Ravensbrück: die Kartoffelgeschichte! »Weißt du noch, wie du mir den Gürtel …?« Natürlich erinnerte sich Lieschen Kubier, und beide Frauen erzählten aufgeregt, wie sie die Kartoffeln im Kleid unter der Brust – durch den Gürtel gehalten – ins Lager schmuggelten. Immer noch erregt bei dem Gedanken, was gewesen wäre, wenn … Doch die Freude dieser Begegnung währte nur kurz. Unfreundlich wurden wir aus dem Raum gewiesen: Frau Schmidt müsste doch wissen, dass immer nach ihren Besuchen die Erinnerungen hochkämen und Frau Kubier sich nicht mehr beruhigen ließe und sie es wieder so schwer hätten mit ihr. Auch der Widerspruch von Frau Kubier half nicht. Wir sollten sofort gehen. Beim Abschied nahm Lieschen Kubier meine Hand und sagte: »Ich bin jede Sekunde meines Lebens im Lager5

»Ich dachte, du wärst schon durch den Schornstein gegangen«

Nachdem Hermine Schmidt ein Vierteljahr in Ravensbrück war, erkrankte sie schwer. »Auf einmal fing das an, ich fiel immer so rüber, und das Essen lief mir aus dem Mund, die ganze Seite war wie gelähmt. Hernach hat mich die Stubenälteste ins Revier geschickt, zur Untersuchung. Da saß die Schwester Luise am Tisch, das war eine braune Schwester, Stiefel hatte sie an, das werde ich nie vergessen. Ich denke immer, da fehlte nur noch eine Zigarette im Mund! Die Häftlingsärztin musste ihr dann sagen, was man hatte. ›Auch zu faul zum Arbeiten, raus!‹, schrie sie. Aber ich konnte doch nicht mehr stehen! Da hab ich lange Zeit im Block unter dem Tisch gelegen, wo die Frauen am Stricken waren. Ich durfte doch nicht ins Bett! Wenn die mich gefunden hätten, dann wäre ich in den Krankenblock gekommen – und wenn der Krankenblock voll war, dann ging ein Transport weg zur Vergasung. Die das wussten, sagten immer: ›Und wenn du über die Erde kriechen musst, meld dich nicht krank.‹ Mehr sagten die nicht

Der Blockältesten gelang es, Hermine Schmidt zum Stubendienst einzuteilen, damit sie nicht zur Arbeit ausrücken musste. »Es gab auch eine tschechische Ärztin, ein Häftling, zu der ging ich irgendwann hin und klagte mein Leid. ›Das ist alles Einbildung, du bist überhaupt nicht krank!‹ Ich sollte mir das doch nicht einbilden, so schimpfte sie mich aus. Ich denke: Was will die? Ich bin doch krank! Nach ein paar Wochen treffe ich sie wieder, sie bleibt vor mir stehen und sagt: ›Ich dachte, du wärst schon durch den Schornstein gegangen.‹ Ich fragte: ›Warum denn?‹ ›Ich wusste, dass du das nicht überlebst, du warst so krank, du solltest aber nicht dran glauben.‹ Die wollte gut zu mir sein und hat mich ausgeschimpft! Kannst du dir das vorstellen? Die war wirklich prima. Ich sollte mich nicht hängen lassen, so schlimm wäre das alles nicht. Sonst wäre ich ja nicht nach Hause gekommen

Hermine Schmidt wurde gesund. Sie war der Meinung, dass die tschechische Ärztin ihr den entscheidenden ›Schubs‹ gegeben habe. »Ich sagte mir, die werden mich hier nicht kaputt kriegen. Wir hielten doch zusammen wie Pech und Schwefel, dann kommt das andere von selber. Wer alleine war, der überlebte das nicht. Alle, die nach Hause gekommen sind, haben solch einen Willen gehabt. Die haben auch im Lager Halt gehabt

Schlimme Erinnerungen hatte Hermine Schmidt an die hygienischen Bedingungen im Lager. Die Waschbecken reichten nicht aus für die vielen Frauen im Block, und zwischen Wecken und Appell blieb kaum Zeit für alle, sich zu waschen. »Für dreihundert Frauen waren da viel zu wenig Waschhähne, da kamst du selten dran. Ich hab zum Glück die ganze Zeit keine Periode gehabt, viele hatten sie nicht mehr. Die ist ausgeblieben. Erst ein halbes Jahr, nachdem ich wieder hier war, fing sie wieder an. Diejenigen, die ihre Blutungen hatten, mussten das runterlaufen lassen, die hatten keine Binden, nichts, gekriegt. Auf diese Art war es gut, dass ich sie nicht hatte

»Auf Sabotage stand Tod durch Erschießen«

Hermine Schmidt ist überzeugt, dass sie nicht überlebt hätte, wenn sie weiterhin schwere körperliche Arbeit hätte leisten müssen. »Da war eine russische Ärztin in der Weberei, die sagte: ›Hermine, melde dich in die Weberei, da bist du sicher.‹ Das hab ich getan. Ich bin angenommen worden, weil ich das gelernt hab. In der Weberei mussten wir hart arbeiten. Der Bandstuhl blieb einmal mittendrin hängen. Dann gingen die ganzen Fäden kaputt, alles fiel nach hinten. Die Anweiserin hat mir geholfen. Doch ein paar Tage drauf passierte dasselbe wieder. Wieder war ich an dem Stuhl. Da sagt die Anweiserin: ›Ich muss dich melden.‹ Das war ja ein Ausfall, also war sie gezwungen, das zu melden. Ich denke: Mein Gott, jetzt ist es zu Ende! Besser ich melde das selber. Ich ging also hin und sagte: ›Herr Scharführer, am Stuhl klappt was nicht.‹ Ich wüsste nicht, was das wäre, ob er mal nachsehen wollte. Er ging hin, setzt ein, klatsch, dasselbe. Da ist mir ein Stein vom Herzen gefallen! Ich hatte Todesangst gehabt, denn das war Sabotage, und auf Sabotage stand Tod durch Erschießen! Das zu melden war das Einzige, was ich machen konnte, und zum Glück, beim ersten Schuss direkt, blieb der Stuhl stehen. Dann kam ich anderswo hin. Der war zu faul, den Stuhl wieder in Ordnung zu bringen. Das waren Augenblicke, wo man wirklich Todesangst hatte

»Hier geht noch eine rein«

In der Weberei blieb sie bis zum 28. Juli 1944 – das Datum wusste sie genau, es war ihr Geburtstag. Hermine Schmidt sollte aus Ravensbrück entlassen und in Hamm vor Gericht gestellt werden. Doch sie war wieder erkrankt und nicht transportfähig, so wurde ihr Prozess vertagt. Mit Geschwüren am ganzen Körper verbrachte sie sechs Wochen im Krankenrevier. Als sie davon erzählte, fiel ihr Folgendes ein: »Wie ich auf dem Krankenblock war, da mussten wir die Toten in den Totenkeller bringen. Die eine machte den Sarg auf: ›Geht nix mehr rein.‹ Dann den nächsten: ›Hier geht noch eine rein.‹ Den Deckel hoch, da wurde die Trage umgekippt – wir durften die ja nicht anfassen, wegen Leichengift –, und abends kamen die alle auf eine lange Karre; die wurde von Frauen zum Krematorium gezogen, und dort wurden die verbrannt

Jeden Tag war man mit dem Tod konfrontiert. »Ich hab zwei junge Mädchen erlebt, ich glaube, die waren aus Litauen oder Estland. Die eine haben sie vom Hund zerreißen lassen. Die Hunde waren darauf abgerichtet! Ich weiß nicht, wie ich das sagen soll, aber es ist viel wert gewesen, dass man abgestumpft ist. Die Aussprache war nicht so fein wie hier, da wurde man ein bisschen gewöhnlich, das kommt von selber mit der Zeit

 

Fünf Monate später, Anfang Januar 1945, brachte man Hermine Schmidt schließlich als Untersuchungsgefangene nach Hamm, um sie dort vor Gericht zu stellen. Wegen der Bombenangriffe kam es aber nicht zum Prozess, denn alle Akten waren zerstört. Sie wurde in das Gefängnis von Wiedenbrück bei Gütersloh weitertransportiert. Dort erlebte sie die Befreiung durch amerikanische Soldaten – Hermine Schmidt war vierzig Jahre alt. Nach zwei Wochen Fußmarsch erreichte sie ihr Elternhaus und traf ihre Mutter und Schwester an. »Ich sah ja ein bisschen verboten aus. Vierzehn Tage unterwegs. Ich bin durch die Lippe gegangen, durch den Fluss. Alle Brücken waren ja kaputt. Ich kann bis heute nicht verstehen, wie ich das ausgehalten habe, bis nach Hause zu kommen. Meine Mutter hatte ja so viel Leid erlebt. Die hat sich gefreut, wenn sie auch geheult hat. Nun dachten wir ja immer, der Vater wäre auch gekommen, der ist aber nicht gekommen, der blieb vermisst. Als er verurteilt wurde, hat er acht Jahre gekriegt. Vielleicht hat er einen Tod gehabt, wo er nichts von gemerkt hat …«

»Ich träume, dass man mich wieder holt«

Von ihren Erlebnissen in der Haftzeit konnte Hermine Schmidt niemandem erzählen. »Hier konntest du nichts sagen – die meisten hier sind Nazis gewesen. Übergeschnappt waren die! Wie das im Lager gewesen ist, das haben die Nachbarn hier ja nicht geglaubt

Auch wenn das Leben weiterging, Hermine die elterliche Weberei wieder in Betrieb nahm und sich ein bescheidenes Leben einrichtete, Ravensbrück konnte sie nie vergessen. »Zuerst hab ich immer geträumt, sie haben mich wieder geholt. Lange Jahre hab ich das geträumt, und ich wusste, wenn sie einen wieder holten, kam man direkt in den Strafblock. Wenn ich jetzt darüber rede, dann bin ich schon wieder ein bisschen aufgewühlt

Hermine Schmidt wurde Mitglied der Lagergemeinschaft Ravensbrück. Das jährliche Zusammentreffen mit den Kameradinnen bedeutete ihr sehr viel. Selbst wenn sie nur wenig mit den anderen Ravensbrückerinnen sprach – für sie war das entscheidende Gefühl, im Kreis von Leidensgefährtinnen zu sein. »Jeder Mensch hat was, woran er sich wieder aufrichten kann, so ist das auch da. Wenn ich kann, geh ich nächstes Jahr wieder. Die Kraft hat man einfach. Das kann man vergleichen, wie ich damals nach Hause ging. Man war ja halb verhungert und hatte so viel hinter sich. So ähnlich ist das jetzt auch, wie man die Kraft aufbringt. Aber wenn ich ständig darüber reden sollte, käme ich nie zur Ruhe

Hermine Schmidt starb am 25. Januar 1995 im Alter von 89 Jahren. Bis zu ihrem Tod lebte sie von einer spärlichen Rente zusammen mit einem ihrer Brüder und ihrer Schwester in dem kleinen Schieferhaus in Beyenburg.

ELFRIEDE SCHNEIDER


Elfriede Schneider lernte ich 1983 bei der Tagung der Lagergemeinschaft Ravensbrück in Moringen kennen. Sie war zum ersten Mal dabei. Die mädchenhaft zierliche, knapp sechzigjährige Frau war die Jüngste im Kreis der Überlebenden. Zurückhaltend und schüchtern hielt sie sich am Rand des Geschehens. Beim Mittagessen des zweiten Tages saßen wir nebeneinander. Sie getraute sich kaum, Essen zu bestellen, ließ sich dann aber doch dazu überreden. Als ihr Schnitzel kam, stocherte sie lustlos auf dem Teller herum und aß kaum etwas. Dann brach es aus ihr heraus: Drei Nächte habe sie nicht geschlafen, vor Aufregung hierherzukommen. Noch nie sei sie in einem früheren Lager gewesen. Und auch wenn sie selbst nicht in Moringen inhaftiert gewesen sei, würden alle Erinnerungen an die Haft in Ravensbrück wieder lebendig werden. Sie habe schreckliche Träume und könne nichts zu sich nehmen. Dazu kam, dass niemand mit ihr sprach und manche ihr sogar zu verstehen gaben, dass sie unmöglich in Ravensbrück gewesen sein könne. Nur einmal habe sie beiläufig geäußert, dass sie im Lager keine Gemeinschaft erfahren habe, nicht diese Solidarität gekannt habe, von der permanent die Rede sei. »Dann war ich wohl in einem anderen Lager«, hatte sie die Beschreibungen der anderen kommentiert. Daraufhin habe diejenige, die zufällig neben ihr saß, gesagt, dass sie wohl keine ›Politische‹ sei.

Ein aufgeregtes Häuflein Elend saß neben mir. Meine Gedanken kreisten um die Frage, warum diese ›Neue‹ nicht so in den Kreis der Lagergemeinschaft aufgenommen worden war, wie ich es zuvor bei vielen anderen erlebt hatte. Sie hatte sich kaum an den engagierten Diskussionen beteiligt und auch zum Ausdruck gebracht, dass sie von der Politik die Schnauze voll habe. Ihre Sprache war nicht immer damenhaft.

Im Verlauf der Tagung versuchte ich so oft wie möglich an ihrer Seite zu bleiben, erfuhr immer mehr Einzelheiten aus ihrem Leben und beschloss, sie um ein Interview zu bitten. Sie war einverstanden.

Von einigen Vertreterinnen der Lagergemeinschaft wurde mir – wenn auch indirekt – zu verstehen gegeben, dass ich Elfriede Schneider nicht unbedingt befragen müsste. Was sie zu sagen habe, wäre nicht so wichtig. Als wir uns dann 1984 zum Interview bei ihr zu Hause im Schwarzwald trafen, bat sie mich zuerst in ihr Schlafzimmer, zog den Pullover aus und zeigte mir ihren Rücken, der voller Narben war. Dies, so sagte sie, seien die Spuren von Ravensbrück, die sie mir zeigen wollte, damit ich ihren Erinnerungen Glauben schenken würde. Diese Geste rührte mich zu Tränen, doch erst später erfasste ich ihre Tragweite.

Umsorgt von ihrem weitaus jüngeren Lebensgefährten Klaus, redeten wir fast drei Tage lang. Es war kein Interview wie die meisten bisherigen, in denen ich reflektierte Berichte aufnahm. Elfriede Schneider redete sich alles von der Seele. Bei meiner Abreise hatte ich den Eindruck, dass ich einer Ravensbrückerin begegnet war, die ihre Haft nie verwunden, geschweige denn verarbeitet hatte. Das Lager hatte ihr Verwundungen zugefügt, von denen sie sich nie wieder erholte. Im Alter von nur vierundsechzig Jahren ist sie 1988 gestorben.

»Ja, arisch ist rein deutsch …«

Elfriede Schneider kam am 15. Mai 1924 in Heilbronn zur Welt. Ihre Mutter war Köchin, der Vater, zu dem sie ein inniges Verhältnis hatte, Dachdecker und überzeugter Sozialdemokrat. Elfriede hatte zwei ältere Brüder. »Kurz vor 1933, ich war damals neun Jahre alt, hat mein Vater zu mir gesagt: ›Komm, jetzt schauen wir uns mal die Braunen an.‹ Ich hab damals ein grünkariertes Kleid angehabt, mit schwarzen Lackschuhen, weißen Strümpfen, Zöpfchen, und so sind wir auf die Neckarbrücke in Heilbronn. Er nahm mich bei der Hand. Mein Onkel kam dazu. ›Jetzt geht’s los!‹ Da kamen die Braunen auf Lastwagen. Dann wurde geschrien: ›Pfui, holt sie runter!‹ Und dann ging die Rauferei los. Ich hab aber nicht kapiert, was das bedeutete

Konsequent versuchte der Vater, die kleine Tochter Elfriede in sein politisches Leben einzuführen. Später erfuhr sie, dass Vater und Onkel eine Druckerei betrieben, in der illegale Schriften für den sozialdemokratischen Widerstand hergestellt wurden, und dass ihr Vater sich für konspirative Treffen in Gaststätten als Trinker tarnte. »Er hat aber nie getrunken. Wenn mein Vater nachts heimkam, hat man ihn schon von weitem gehört. Wenn er nicht kam, wurde ich losgeschickt, um ihn zu holen. Ich hatte einen schwarzen Schäferhund gekriegt, weil ich meinen Vater immer aus dem Lokal holen musste. Meine Mutter hat gesagt: ›Wenn du hingehst, dann geht er mit.‹ Vor der Haustüre war er dann immer stocknüchtern. Da habe ich gesagt: ›Papa, du bist ja gar nicht betrunken.‹ Hat er gesagt: ›Geht niemand was an.‹ Ich wusste anfangs nicht, was er damit meinte. Jedenfalls war das am Wochenende immer so. Er hat mich immer mitgezogen, und er hat gewusst: Wenn sein Kind da ist, kann ihm nix geschehen. Das Trinken war die Tarnung. Nachbarn sind sogar zu meiner Mutter gekommen und haben gefragt, warum sie sich nicht scheiden lässt. Sie hat immer gesagt: ›Solange mein Mann mich nicht schlägt und die Kinder nicht quält, kann’s euch egal sein.‹«

Die Mutter war sehr streng, ließ dem Mädchen viel weniger Freiheiten als den Jungs, was Elfriede maßlos ärgerte. »Dann wollte ich zum BDM6. Ich wollte mehr Freiheit haben. Ich dachte, ich geh zwei-, dreimal in der Woche dorthin, und dann komme ich ein bisschen raus. Ich hab zu meinem Vater gesagt: ›Ich will zum BDM.‹ Natürlich war er entrüstet. Ich hab’s trotzdem gemacht. Ich musste aber eine arische Abstammung mitbringen. Da bin ich aufs Rathaus gerannt, und da hat sich herausgestellt, dass ich ein Achtel jüdisches Blut in mir habe. Ich bin heimgekommen und hab geheult: ›Ich darf nicht zum BDM. Was ist überhaupt arische Abstammung?‹ Ich konnte das einfach nicht begreifen. ›Ja, arisch ist rein deutsch, und du bist halt nicht rein deutsch‹, hat mein Vater gesagt. Er wollte mir alles leicht machen. Er sagte, das sei nicht schlimm, und ich durfte zu den Blauen Falken, einer Jugendgruppe der Kommunisten, die nachher verboten wurde

Als Elfriede vierzehn Jahre alt wurde, weihten Vater und Onkel sie in ihre illegalen Aktivitäten ein, zeigten ihr die geheime Druckerei im Keller und nahmen sie mit zum Verteilen von Flugblättern. »Das war der erste Einschnitt in meinem Leben. Dann hab ich gesehen, was sie da im Keller druckten. Ich musste das austragen, zusammen mit zwei Cousins. Wir Kinder waren flinker als die Älteren, und meine Brüder haben mir beigebracht, wie man durch die Finger pfeift. Ich musste Schmiere stehen. Wenn ich jemanden hörte, dann hab ich gepfiffen, und weg war ich. Wir sind wie die Ratten in die Löcher verschwunden. Ich hab die Gefahr nicht gesehen, und so war ich halt ein bisschen frecher als die anderen

Anfang 1939 hatte Elfriede Schneider die Grundschule und ihr Pflichtjahr im Haushalt beendet; eigentlich wollte sie Schneiderin werden. Es gab jedoch keine Lehrstellen. Der Krieg war bereits geplant, und die Jugendlichen sollten in Rüstungsbetrieben arbeiten »Mein Vater sagte: ›Wenn du in einen Rüstungsbetrieb gehst, musst du für Hitler Granaten und Bomben bauen.‹«