Und dann kommst Du dahin an einem schönen Sommertag

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Das ganze Leben

Mein Interesse galt vom ersten Interview an dem ›ganzen Leben‹. Ich wollte wissen, wie der familiäre Hintergrund meiner Interviewpartnerinnen war, wie sie aufgewachsen waren, wie sie die Verfolgung erlebt hatten oder zum Widerstand gekommen waren, wie dieser Widerstand aussah, wie sie die Haftzeit überleben konnten und wie sehr ihr Leben danach von diesen Erfahrungen geprägt war.

Doch mein Interesse an den Lebensgeschichten war für viele meiner ersten ›politischen‹ Interviewpartnerinnen befremdlich, spielte doch ›das Private‹ in ihren Augen keine große Rolle. Das, wovon sie erzählen wollten, war die Zeit des Widerstands und der Verfolgung, verbunden mit dem Appell, dass so etwas nie wieder geschehen darf. Erinnerung findet im Heute statt, in der jeweiligen historischen und lebensgeschichtlichen Situation der Erzählenden. Im Erinnern spiegeln sich auch politische Überzeugungen oder religiöse Grundsätze wider.

Wer nach dem Lager die Möglichkeit hatte, über das Erlebte zu sprechen, erinnert sich anders als jemand, der damit konfrontiert wurde, mit seiner Verhaftung »Schande über die Familie« gebracht zu haben oder gar als »Verräterin« bezeichnet zu werden. Anderen wurde gesagt, dass man sie vermutlich nicht ohne Grund eingesperrt habe. Es macht einen Unterschied, ob die Gesellschaft die Überlebenden verehrt, respektiert oder stigmatisiert hat.

Das Verhältnis zu den Befragten

Als Filmemacherin wurde ich anders empfangen als beispielsweise Wissenschaftler, die die Geschichte des Nationalsozialismus und der KZ erforschten. Alle meine Interviews sind filmische Dokumente. Ein weiterer Unterschied zu den Historikern, die sich normalerweise nur auf Akten stützen, liegt in meinem persönlichen Zugang, in dem sich mein individuelles Interesse an Lebensgeschichten mit dem beruflichen der Dokumentaristin vermischte.

Bei den Interviews war ich mit meinen Gesprächspartnerinnen nie allein. Immer waren eine Kamera und ein Mikrofon dabei, ein Kameramann und oftmals noch ein Toningenieur und eine Übersetzerin. Doch obwohl so manches Wohnzimmer zum Fernsehstudio wurde, fanden die Gespräche fast immer in einer vertraulichen Atmosphäre statt.

Von einzelnen meiner ersten Interviewpartnerinnen – den früheren politischen Häftlingen aus Deutschland – wurde ich mit der Frage empfangen: »Bist du Genossin?« Als ich verneinte, spürte ich ein kurzes Zögern, dem die Feststellung folgte: »Ja, als Journalistin solltest du auch unabhängig sein!« Die meisten Bücher zu Themen des Widerstands und der Verfolgung waren entweder von ›Genossen‹ oder zumindest ›nahe Stehenden‹ geschrieben worden. Dass nun ›unabhängige‹ Journalistinnen sich der Themen annahmen, die bislang als Domäne der Parteiorganisierten galten, war offensichtlich befremdlich und gewöhnungsbedürftig.

Erst die Kontinuität meiner Arbeit über viele Jahre hinweg führte zu einem gewissen Vertrauensverhältnis. Bei jedem einzelnen Gespräch ging ich von dem Grundsatz aus, dass nichts, was mir erzählt wird, in einem persönlichen Sinn unwahr ist. Entsprach es dennoch nicht dem tatsächlichen Geschehen, gab es dafür einen Grund. Ich versuchte – so weit es möglich war, gemeinsam mit den Interviewpartnerinnen – zu verstehen, warum etwas erzählt wurde. In der Sammlung sollte die subjektive Wahrheit dokumentiert werden, weil sie etwas über die Persönlichkeit oder die Art und Weise der Verarbeitung der Geschichte aussagte, auch wo sie nicht exakt den historischen Geschehnissen entsprach.

Einzelne Frauen konnte ich mehrfach befragen, anderen bin ich nur für einen Tag begegnet. Es gab sowohl Arbeitstreffen mit dem Ziel, die persönlichen Erinnerungen an das Lager festzuhalten, als auch das mehrtägige Eintauchen in ein achtzigjähriges Leben. Zu einigen meiner Interviewpartnerinnen entwickelte sich ein freundschaftliches Verhältnis, in dem wir auch Jahre nach dem Interview noch Briefkontakt hatten und uns gegenseitig besuchten, auch wenn es unmöglich war, mit allen befragten Frauen in Kontakt zu bleiben.

Geschichte als Prozess

Viele Frauen, die ich kennen lernte, schienen erst im hohen Alter bereit zu sein, sich mit der eigenen Verfolgungsgeschichte zu beschäftigen oder Kontakt zu früheren Leidensgefährtinnen zu suchen. Bei einigen war es der Tod des Lebenspartners, der eine Auseinandersetzung mit der Zeit der Verfolgung in Gang setzte. Manchmal waren es die Enkel, die Interesse an der Geschichte zeigten, und manchmal waren auch die im Alter wach werdenden frühen Erinnerungen der Auslöser. Oft war es ein Film, ein Artikel oder ein Jahrestag, der den Ausschlag gab, mit der eigenen Geschichte nach außen zu treten. Viele dieser Frauen sagten von sich, sie seien politisch nicht interessiert und wollten auch keiner politischen Organisation beitreten. Sie empfanden die Verfolgtenverbände als parteinahe politische Organisationen, womit sie nicht ganz Unrecht hatten.

Frauen, die bisher kaum über ihre Erfahrungen gesprochen und nichts oder wenig über die Lager gelesen hatten, in denen sie selbst inhaftiert waren, waren besonders wichtige Zeuginnen. Viele Mosaiksteine aus ihren Erinnerungen ergänzten das Bild der Lagergeschichte um wichtige Details, die anderen unwesentlich erschienen waren, weil sie nirgendwo anders erwähnt waren.

Ende der achtziger Jahre dokumentierte ich die Tagung des Internationalen Ravensbrück-Komitees4, in dem einmal jährlich Vertreterinnen der nationalen Zusammenschlüsse aus all den Ländern tagen, aus denen Frauen nach Ravensbrück deportiert worden waren. Hier lernte ich Frauen aus den westeuropäischen Ländern kennen, mit denen im Folgenden eine Reihe von Interviews entstanden.

Mit dem Film »Man musste doch was tun«5 wurde ich 1990 zur Internationalen Oral-History-Konferenz nach Essen eingeladen. Dort lernte ich den Historiker Alexander von Plato kennen, der selber filmische Erfahrungen hatte, und die Arbeit des Instituts für Geschichte und Biographie der Fernuniversität Hagen. Aus dieser ersten Begegnung entstand eine bis heute anhaltende enge Zusammenarbeit, in deren Rahmen nicht nur eine ganze Reihe meiner weiteren Interviews, sondern auch dieses Buch entstand.

Für mein Vorgehen bei den bisherigen Interviews, in denen jeweils das ganze Leben abgefragt wurde, fand ich hier einen wissenschaftlichen Hintergrund, der in der Folge meine Arbeit prägte. Durch den Erfahrungsaustausch bekam meine Interviewführung ein klareres Konzept.

Hatten die Wissenschaftler bislang ihre Interviews zumeist als reine Audiointerviews aufgezeichnet, konnte nun die Diskussion um die filmischen Aspekte erweitert werden. Die aufwändigere Filmtechnik mit einem Mitarbeiterstab für Kamera und Ton und mit ihrer – damals noch – umfangreichen Ausleuchtung etc. schien zunächst für die Interviewpartnerinnen eine Herausforderung zu sein. In allen bisherigen Interviews hatte ich jedoch die Erfahrung gemacht, dass Technik und Umfeld in den Gesprächen schnell vergessen waren. Ich hatte mit meinem Team zu Arbeitsweisen gefunden, in denen auch bei professioneller Filmarbeit eine einigermaßen intime Gesprächssituation entstehen konnte.

Ein anderes Bild der Lagergeschichte

Nach der Wende und mit dem Arbeitsbeginn von Sigrid Jacobeit als Leiterin der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück, Ende 1992, begann die Zusammenarbeit mit der Gedenkstätte. Zu dieser Zeit war das ehemalige Lagergelände Stützpunkt der sowjetischen Truppen. Die damalige DDR-Gedenkstätte trug deutliche Züge der reduzierten Sicht auf die Lagergeschichte, mit fast ausschließlicher Darstellung des kommunistischen Widerstands. Es schien, als hätte sich die DDR nicht nur das Lager Ravensbrück, sondern auch die Lagergeschichte angeeignet. Ein anderes Bild der Geschichte des Frauen-KZ Ravensbrück gab es damals noch nicht.

Deshalb suchte ich Anfang der neunziger Jahre verstärkt nach Interviewpartnerinnen, deren Aussagen dem bis dahin bestehenden Bild nicht entsprachen und die bislang in der Darstellung des Lagers nicht vorgekommen waren. Die ersten Gespräche mit Jüdinnen, Zeuginnen Jehovas oder schwarzwinkligen Häftlingen leiteten eine neue Phase der Sammlung ein, in der beispielsweise die Häftlingshierarchie eine Rolle zu spielen begann und in der ich mit sehr unterschiedlichen Erinnerungen konfrontiert war. Die Lagergeschichte von Ravensbrück wurde vielschichtiger, weniger einheitlich. Widersprüchliche Erlebnisse und Erfahrungen standen nebeneinander.

1993 wurde in der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück die Ausstellung »Ravensbrückerinnen« mit 27 Biografien eröffnet. Erstmals wurden in der Gedenkstätte frühere Häftlinge vorgestellt, die nicht zu den »antifaschistischen Widerstandskämpferinnen« im Sinne der DDR-Geschichtsschreibung gehörten.6

Anfang der neunziger Jahre waren erste Reisen nach Polen und in die Tschechoslowakei möglich. Dort erfuhr ich von Frauen, deren Erinnerungen aus politischen Gründen – z.B., weil sie sich vom Kommunismus abgewandt hatten – keine Erwähnung in der Lagergeschichte gefunden hatten oder weil sie aufgrund ihrer Arbeit im Lager als »unzuverlässige« Zeuginnen galten. Die Rolle der so genannten Funktionshäftlinge, d.h., derjenigen, die im Lager als Block- oder Stubenälteste, als Mitarbeiterinnen der Lagerverwaltung oder des Krankenreviers in direkter Nähe zur Lagerverwaltung oder den SS-Ärzten tätig waren, trat in den Vordergrund.

Der 50. Jahrestag der Befreiung im Jahr 1995, zu dem von der Landesregierung Brandenburgs mehr als zweitausend Überlebende aus aller Welt nach Ravensbrück eingeladen wurden, brachte zahlreiche Kontakte zu Frauen aus Osteuropa. Ihre Erinnerungen zeichneten wieder ein anderes Bild der Lagergeschichte, diesmal aus dem Blickwinkel derjenigen, die aus nationalsozialistischer Sicht als »Untermenschen« und »minderwertige Rasse« keine Chance zum Überleben haben sollten.

 

Mehr und mehr Überlebende aus osteuropäischen Ländern nahmen den Kontakt zur Gedenkstätte auf, vor allem auch solche, die nie im Rahmen einer offiziellen Delegation die DDR bzw. die damalige Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück besuchen konnten. Viele dieser Frauen erklärten sich zum Interview bereit, sicherlich auch in der Hoffnung, dass nun auch ihrer Sicht in die Darstellung der Lagergeschichte Raum gegeben werden könne.

Der Schwerpunkt der Sammlung verlagerte sich so ab Ende der neunziger Jahre auf ehemalige Inhaftierte aus den osteuropäischen Ländern. Auch wir als Filmteam konnten erst ab Beginn der neunziger Jahre in die früheren Ostblockstaaten einreisen und Interviews aufzeichnen. Doch entstanden auch in Westeuropa immer wieder neue Kontakte, beispielsweise zu deutschen Frauen, die nicht als politische Häftlinge im Lager gewesen waren. Die in den ersten Jahren nach der Wende neu gestaltete Gedenkstätte Ravensbrück ermöglichte es zunehmend auch ihnen, in die Öffentlichkeit zu treten, ohne eine erneute Ausgrenzung fürchten zu müssen.

Immer neue Themen

Im Lauf der fünfundzwanzigjährigen Geschichte der Sammlung veränderten sich auch meine Fragen an die Interviewpartnerinnen. Am Anfang galt mein Interesse dem Widerstand und der Verfolgung von deutschen Frauen im Nationalsozialismus, dann denjenigen, die in den westeuropäischen Ländern den Besatzern widerstanden. Mit der Erkenntnis, dass unterschiedliche Häftlingsgruppen auch das Lager unterschiedlich erlebten, wuchs nicht nur mein Interesse an der Lagerhierarchie. Der Arbeitsplatz im KZ begann eine Rolle zu spielen: Wer im Warmen arbeiten konnte, hatte größere Überlebenschancen als diejenigen, die bei Wind und Wetter schwerste Außenarbeiten verrichten mussten. Wer in seinem erlernten Beruf arbeiten konnte, verlor weniger Selbstwertgefühl als diejenigen, die zu härtester körperlicher Arbeit gezwungen waren. Es gab privilegierte Blocks der Häftlinge, die in hervorgehobenen Positionen arbeiteten, und weniger privilegierte Wohnbaracken, in denen qualvolle Enge herrschte. Manche Häftlinge konnten sich regelmäßig waschen, andere sahen Monate lang kein Wasser. Ins Zentrum meines Interesses rückten die Überlebensbedingungen einzelner Frauen und Gruppen. Gleichzeitig entstanden Querverbindungen zwischen Frauen, die zusammen gearbeitet, im selben Block gelebt oder dasselbe Schicksal geteilt hatten.

Mit den erworbenen Kenntnissen über das Lager veränderten sich auch die Interviews. Immer mehr Detailfragen konnten gestellt, Verbindungen zu anderen Gesprächen geknüpft werden. Die Vielzahl unterschiedlichster Erinnerungen an ein und dasselbe Ereignis verdichtete die Sicht auf die Geschichte von Ravensbrück.

Der Zeitpunkt, zu dem jemand in Ravensbrück inhaftiert war, erhielt eine immer größere Bedeutung. Das Lager hat sich in der Zeit von 1939 bis 1945 so sehr verändert, dass Schilderungen der ersten Jahre, 1939 bis 1940, sich gravierend von denen der Jahre 1944 bis 1945 unterscheiden. Und es wurde auch deutlich, wie sehr die Würdigung des Erlebten nach dem Krieg die Erinnerungen prägte.

Es gibt in den Erinnerungen deshalb nicht eine Geschichte von Ravensbrück, sondern vielfältige, sich überschneidende Eindrücke, die mit der Vorgeschichte der Inhaftierten, ihren Erlebnissen in Ravensbrück und mit deren Verarbeitung verknüpft sind. Es gibt so viele Erinnerungen wie Frauen, die dort inhaftiert waren. Und dabei können nur die der Überlebenden erzählt werden.

Im Verlauf der Sammlung wurde immer deutlicher, wie sehr die Erinnerung an die Haft mit dem gesamten Leben verwoben ist. In welchem Alter, mit welcher Vorgeschichte kam jemand ins Lager? Wie sehr hat das Vorleben das Erleben der Haft geprägt, das Leben danach die Erinnerung?

In den Erzählungen mischte sich bisweilen das Erlebte mit im Nachhinein Erfahrenem. Überzeugte Kommunistinnen haben propagandistische Bilder übernommen, andere haben diese bewusst demontiert. Für alle gilt, dass sie eine Sprache finden mussten, um über eine persönliche Demütigung oder gar Niederlage, als die die KZ-Haft nicht selten empfunden wurde, zu sprechen, ohne dabei das Gesicht zu verlieren. Bedeutete die Verhaftung ein Versagen im Widerstandskampf? Hatte man einem Verräter getraut? War man in einen Hinterhalt gelockt worden? Oder war man ein Opfer rassistischer Verfolgung? Verstand man sich als Opfer oder Verfolgte? Musste das Selbstbild der eigenen Haft zurechtgeschliffen werden, um überhaupt mit den Erinnerungen leben zu können?

Tatsächlich veränderte sich die Erinnerung auch mit der gesellschaftspolitischen Entwicklung. Anerkennung und Würdigung der Verfolgung machten es leichter, eigene Demütigungen zu schildern. Durch die öffentliche Verurteilung von NS-Verbrechen (z.B. in den Hamburger Ravensbrück-Prozessen, die 1946 begannen) wuchs das Selbstbewusstsein derjenigen, die ihnen zum Opfer gefallen waren. Die Vermittlung von NS-Geschichte in den Schulen half den Verfolgten, eine eigene Position innerhalb dieser Geschichte zu finden. Bestätigung der persönlichen Erinnerung durch Berichte anderer schuf Vertrauen in die eigene erinnerte Erfahrung.

Die Methode der Oral-History, die all dem eine Wichtigkeit zumisst, was erinnert werden kann und will, schien mir auch ein Weg zu sein, meine eigene Rolle im Interview zu bestimmen. Ich hörte zu, ich ermittelte und versuchte, Ursachen und Zusammenhänge zu verstehen. Ich vertraute auf mein Wissen, mein Geschick und meine Menschenkenntnis und versuchte, den Interviewpartnerinnen niemals das Gefühl zu geben, dass ihre Schilderungen mich belasteten. Eigene Betroffenheit, so habe ich es in den allerersten Interviews durchaus erfahren, verunsicherte die Interviewpartnerin. Ihr Gefühl, mit dem Erzählen eigener Demütigungen die Interviewerin zu verletzen, gibt dem Gespräch unter Umständen eine fatale Dynamik. Sie führt in ein ›Schonprogramm‹, in dem sich die Rollen vertauschen: Nicht mehr ich begleite mein Gegenüber auf dem Weg durch die Erinnerung, sondern meine Interviewpartnerin führt mich durch eine Geschichte, die erträglich sein soll.

Geschichte und Geschichten

In diesem Buch verdichten sich unterschiedliche Erinnerungen zu einer möglichen Lagergeschichte des Frauen-KZ Ravensbrück. Aus den insgesamt 200 aufgezeichneten Interviews habe ich 35 ausgewählt.

Wie schwer diese Auswahl fiel, muss ich nicht betonen. Doch ich möchte einige meiner Kriterien benennen: Ich habe auf die Interviewpartnerinnen verzichtet, die in anderen Veröffentlichungen ausführlich zu Wort kommen. Ich wollte aus jeder Phase der fünfundzwanzigjährigen Sammlung Interviewpartnerinnen vorstellen und gleichzeitig ein möglichst umfassendes Bild der Lagergeschichte aufzeigen. Vor allem beschäftigte mich die Frage nach den Besonderheiten eines Frauen-KZ. Das Krankenrevier zeigte sich mir als ein zentraler Ort des Lagers, in dem Tod und Überleben aufeinander trafen. Dort arbeiteten die so genannten Funktionshäftlinge Hand in Hand mit ihren Feinden, bemühten sich, mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln – illegalen wie gerade noch erlaubten – Leben zu erhalten.

Im Krankenrevier wurden Frauen sterilisiert, medizinische Experimente durchgeführt, ›Arbeitsunfähige‹ selektiert, und gleichzeitig kamen Kinder zur Welt. Dabei konnten die Häftlingsärztinnen und -krankenschwestern nicht verhindern und mussten tagtäglich mit ansehen, dass auch ihre Arbeit Teil der industriellen Vernichtung durch das KZ-System wurde. Die Unschärfe zwischen internem Widerstand und zwangsweiser Zuarbeit lastete gerade auf den Funktionshäftlingen noch lange nach ihrer Befreiung.

Ihre Biografien stehen im Mittelpunkt dieses Buches. Aus unterschiedlichsten Blickwinkeln beschreiben sie das Lager. Die Vielzahl der Stimmen machte es mir möglich, aus sich ergänzenden und manchmal auch widersprechenden Erinnerungen ein sich verdichtendes und zugleich vielschichtiges Bild des Lagers zu zeichnen. In diesem uneinheitlichen Bild spiegelt sich auch das Paradoxe mancher Erzählungen und der sich anschließenden Biographien. Durch ihre Verknüpfung werden sie zu einem Abbild der vielfältigen Erfahrungen des Lageralltags und des Überlebenskampfes.

Ich wollte auch Frauen zu Wort kommen lassen, deren Erinnerungen aus verschiedensten Gründen in der bisherigen Darstellung der Lagergeschichte keine Rolle spielten, die zur Persona non grata im Kreis der Überlebenden geworden waren oder nie Kontakt zur Gedenkstätte und den Häftlingsverbänden aufgenommen hatten. In exemplarischen Biografien möchte ich ein bisher nur spärlich beleuchtetes Stück Lagergeschichte erzählen: vom Überleben unter Frauen.

Einige Lebensläufe stehen für sich, andere werden in den einzelnen Kapiteln zu ›verdichteten Themen‹ verwoben. Zum Beispiel die medizinischen Experimente an jungen polnischen Frauen in Ravensbrück: Da ich mehrere Frauen interviewen konnte, die Opfer der Versuchsoperationen wurden, konnte ich deren Geschichte in einer Montage aus vielfältigen Erinnerungen wiedergeben.

Andere Schwerpunkte ergaben sich aus Themen, die signifikant für ein Frauen-KZ sind: zum Beispiel die Geburten oder Mütter mit Kindern im Lager. Anderen Themen, die in vielen Interviews erwähnt wurden, haftet fast etwas Mythisches an. So sprachen viele Interviewte über die ungebrochene Stärke und Solidarität der Häftlinge in Ravensbrück oder den uneigennützigen Einsatz der so genannten Funktionshäftlinge in ihren unterschiedlichsten Arbeitsbereichen im Lager.

Ich hatte das große Glück, die letzte Generation der Überlebenden befragen zu können. In diesem Buch möchte ich ihre subjektive Sicht vorstellen. Ihre Erinnerungen habe ich, so weit es mir möglich war, in die faktische Historiographie eingebettet, zu der mir heute – im Vergleich zum Beginn der Sammlung – umfangreiches Quellenmaterial und eine Vielzahl von historischen Veröffentlichungen und Forschungsarbeiten zur Verfügung standen.

Ich möchte an dieser Stelle allen befragten Frauen herzlichst danken und betonen, dass die notwendige Auswahl für dieses Buch keine einzige ihrer Erinnerungen schmälert. Für mich persönlich war jede Begegnung innerhalb der letzten fünfundzwanzig Jahre ein Erlebnis, das ich nicht missen möchte. Auch wenn ich von vielen grauenvollen Erlebnissen erfuhr, bin ich gleichzeitig großer Lebensfreude und starkem Lebenswillen begegnet. Viele meiner Interviewpartnerinnen haben, Ravensbrück zum Trotz, ein hohes Alter erreicht.

Dieses Buch erscheint – gleichzeitig mit einem 90-minütigen Dokumentarfilm – zum 60. Jahrestag der Befreiung des Frauen-KZ Ravensbrück. Nach fünfundzwanzig Jahren der Sammlung von Erinnerungen an Ravensbrück spiegeln beide gemeinsam den Versuch wider, Geschichte und das Erinnern an sie in erzählten Geschichten in neuer Form erfahrbar zu machen.

Loretta Walz

im Januar 2005