Wenn die Nacht stirbt und dein Herz aufhört zu schlagen

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Wenn die Nacht stirbt und dein Herz aufhört zu schlagen
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WENN DIE NACHT STIRBT

Impressum

Prolog

Ich bin ich

Der Mond geht auf

Die Nacht beginnt

Die Sterne leuchten

Der erste Tag vom Rest deines Lebens

Der Anfang vom Ende

Magisches Erbe

Die Dunkelheit in mir

Das Grauen nimmt seinen Lauf

Ein Schlag ins Gesicht

Niemand kennt Verrat besser als der Verräter

Ich sehe tote Menschen

Selbst die Dunkelheit muss weichen

Um den Krieg zu überleben, muss man selbst zum Krieg werden

Epilog oder auch die Zeit heilt alle Wunden

Danksagung

LISA LAMP

WENN DIE NACHT STIRBT

UND DEIN HERZ AUFHÖRT ZU SCHLAGEN

Romantic Fantasy

XOXO Verlag

Impressum

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Print-ISBN: 978-3-96752-044-6

E-Book-ISBN: 978-3-96752-544-1

Copyright (2020) XOXO Verlag Umschlaggestaltung:

Coverbild: © Cover von Cover Up – Buchcoverdesign / Bianca Holzmann (www.cover-up-books.de) unter Verwendung der Bilder von ©Shutterstock

Buchsatz: Alfons Th. Seeboth

Hergestellt in Bremen, Germany (EU)

XOXO Verlag

ein IMPRINT der EISERMANN MEDIA GMBH

Gröpelinger Heerstr. 149

28237 Bremen

Für Mama

und alle anderen, die aus jeder Situation das Beste machen

Prolog

1583 n.Chr.:

Es war eisig kalt in den alten Gemäuern der Kirche, in der wir seit Tagen gefangen waren. Es roch modrig und nur die Kerzen boten etwas Licht. Die Stille hallte unheilvoll durch die großen Räume mit den weißen kunstvollen Statuen an den Wänden.

Früher war ich oft hier gewesen und hatte den Worten des Pfarrers gelauscht, während mich meine Mutter immer wieder ermahnt hatte, ruhig sitzen zu bleiben. Der Gedanke an Mama war schmerzhaft. Ich konnte mich noch genau an das letzte Mal erinnern, als ich sie gesehen hatte. Ihr Zopf hing über ihre Schulter und Lachfalten durchzogen ihr Gesicht. Mit der Bürste fuhr sie durch meine langen Haare und summte mein Lieblingslied vor sich hin, als es plötzlich an der Tür klopfte. Ihr Blick wurde panisch und ihre Augen waren weit aufgerissen. Sie legte die Bürste, an der meine dunklen Haare hingen, beiseite und trat auf die morsche Tür zu.

»Wer ist da?«, fragte sie, bekam aber keine Antwort.

»Öffnen Sie die Tür!«, bellte jemand von draußen und ich zuckte zusammen.

In diesem Moment wusste ich, was uns blühte, denn gerechtfertigt oder nicht, sie würden uns mitnehmen. Zu oft hatte ich schon miterlebt wie Frauen und Kinder, in seltenen Fällen sogar Männer, mitgenommen wurden und für eine geraume Zeit verschwanden, bevor sie plötzlich am Scheiterhaufen wiederauftauchten.

Bei diesem Gedanken musste ich lächeln, auch wenn mein Grinsen in dieser trostlosen Umgebung fehl am Platz wirkte. Ich wusste nicht, wer uns verraten hatte, in der Hoffnung, dadurch seinen eigenen Hals zu retten. Nun machte es auch keinen Unterschied mehr. Jetzt war ich hier, genau wie all die anderen.

In der Nähe entdeckte ich ein junges Mädchen. Sie saß zusammengekauert auf dem Boden neben einem schwarzen Flügel. Das junge Ding konnte höchstens fünfzehn Jahre alt sein, doch in ihren Augen loderte ein Feuer, das sie älter aussehen ließ. Sie war schrecklich ausgehungert und ihr Kleid verfärbte sich langsam von weiß zu grau. Das junge Blut konnte nichts getan haben, womit sie das verdiente. Schlagartig wurde mir klar, wie grausam und ungerecht dieses Jahrhundert doch war. Kurz flackerte die Erinnerung an meine eigene Tochter auf und ich fühlte mich schlecht bei dem Gefühl der Freude, dass das magere Mädchen hier war, anstatt mein eigen Fleisch und Blut.

Ein Knarren ließ mich zur schweren Eisentür sehen, die sich gerade öffnete. Zwei Männer im mittleren Alter passierten den Eingang und gingen geradewegs auf das Mädchen im weißen Kleid zu. Sie sah ängstlich auf und eine einzelne Träne löste sich aus ihrem Augenwinkel. Hilfesuchend blickte sie panisch hin und her, doch niemand würde ihr helfen. Auch ich nicht, obwohl ich es zu gerne tun würde.

Die Männer packten das Mädchen, das schreiend versuchte, sich zu wehren. Die beiden zerrten sie zum Ausgang, von dem ich nicht wusste wohin er führte. Die junge Dame strampelte mit den Füßen und drückte ihr Gewicht zu Boden, doch die Männer schleiften den Körper einfach weiter hinter sich her. Sie wehrte sich tapfer, aber sie würde keine Chance haben. Niemand von uns hatte eine Chance.

Die Aufregung endete erst, als die schwere Eisentür hinter den Männern wieder ins Schloss fiel und die Schreie des Mädchens verstummten. Die anderen Frauen im Raum schluchzten und zitterten, aus Angst, die Nächste zu sein. Wir alle wussten was geschehen würde, wenn wir an der Reihe waren und von den Inquisitoren geholt wurden. Wir kannten die Fragen, die unabänderlich kommen würden. Name. Alter. Wohnort. Geburtsdatum. Elternhaus. Aber dann würden die Fragen kommen, die über den Rest unseres Lebens entscheiden würden. Teufelspakt. Ketzerei. Walpurgisnacht. Hexerei. Am Anfang würden wir sie natürlich verneinen, doch mit der Zeit, wenn sie die Fragen immer wieder stellten, würden wir solange schweigen, bis wir auf jeden einzelnen Vorwurf mit einem lauten und klaren Ja antworteten. Wir würden alles sagen und alles zugeben, egal ob Wahrheit oder nicht, nur um den Schmerzen und der Angst zu entkommen.

Auch das Mädchen würde alles tun, damit es endlich aufhörte. Sie würde ihre Eltern verraten und ihre Geschwister der Hexerei anklagen, nur um von hier wegzukommen. Sie würde darum flehen, endlich sterben zu dürfen, auch wenn das bedeutete auf die grausamste Art und Weise den Tod zu finden.

Die Kerzen im Raum brannten langsam ab, doch es würde bis morgen früh niemand kommen um neue anzuzünden. Ich legte mich auf den harten Boden und rollte mich zu einer Kugel zusammen, um der Kälte und dem Wind, der unter der Tür durchzog, zu entgegnen. In der Ecke über mir war eines von Hunderten Spinnennetzen, die sich in der Kirche angesiedelt hatten. Als der Raum langsam dunkler wurde, merkte ich erst, wie erschöpft ich von der ständigen Aufregung war. Die letzten Tage waren eine Zerreißprobe für meine Nerven und ich spürte wie Morpheus Hände nach mir griffen. Mein letzter Gedanke galt meinen Nachkommen und der Hoffnung, dass die Inquisition ein baldiges Ende finden würde. Im Gegensatz zu allen anderen hier im Raum war ich nämlich keinesfalls zu Unrecht in dieser Kirche. Ob ich einen Pakt mit dem Teufel geschlossen hatte? Nein. Ob ich für die Pest und das Viehsterben verantwortlich war? Nein. Ob ich Naturkatastrophen heraufbeschwor? Nein. Doch ich könnte die Kerzen wieder entzünden ohne auch nur ein Streichholz anzuzünden. Ich könnte die Fensterscheiben zerspringen oder sie durch Hitze schmelzen lassen und ich könnte mich mit den Spinnen an der Decke über die Ungerechtigkeit der Welt unterhalten. Ich war nicht zu Unrecht hier. Mein Name war Maria Holl und ich war wirklich eine Hexe.

Ich bin ich

2018 n.Chr.:

Das Leben ist schön.

Zumindest wird uns das schon vom ersten Tag unseres Lebens gepredigt. Doch uns wird mit dem gleichen Atemzug von unseren Eltern erklärt, dass es das Christkind gibt und alle Menschen gleich sind. Wieso sollten wir also glauben, dass unser Leben wundervoll ist, wenn das fliegende Geschöpf mit den goldenen Haaren, dem weißen Kleid und den großen Flügeln erstunken und erlogen war? Warum sollten wir darauf vertrauen, dass leben reizvoller ist als sterben, wenn das Mädchen auf dem Sitzplatz neben uns wegen ihrer großen Brille, ihren kurzen Haaren, ihrer altmodischen Kleidung, ihrem dunklen Hautton oder einfach, weil sie anders ist, behandelt wird, als gehöre sie nicht zu uns? Später, wenn wir schon angefangen haben, am Leben zu zweifeln, lernen wir Phrasen auswendig, in denen es darum geht, wie wichtig Schule und Bildung sind, aber letztendlich fragen wir uns doch, warum Bildung so einen hohen Stellenwert hat, wenn die Menschen früher in der Steinzeit das Rad erfunden hatten, ohne eine fünfjährige Ausbildung mit Matura absolviert zu haben. Während wir also noch darüber grübeln, wieso wir es nicht einfach so machen, wie die Menschen damals, fangen wir langsam an, uns zu verlieben und registrieren, dass wir unser eigenes Leben nicht kontrollieren können, egal wie sehr wir uns anstrengen. Wir sind jederzeit abhängig von der Reaktion der Menschen in unserer Umgebung. Aber wenn wir zehn Jahre später auf diese Zeit zurückblicken, wird uns nicht mehr die Verwirrung in den Sinn kommen, die wir damals verspürt hatten, weil wir nicht wussten, ob unser Leben auf diese Art weiter gehen sollte, sondern der Schmerz, als wir zum ersten Mal einen Korb einstecken mussten oder die Trauer, als unsere erste große Liebe uns verließ und wir nichts tun konnten, um es zu verhindern.

 

Auch stellen wir jetzt langsam fest, dass unsere Großmutter, die uns als Kind gesagt hat, dass aus uns nie etwas werden wird, unrecht hat, denn wir stehen auf eigenen Beinen. Wir arbeiten für einen Chef, den wir nicht mögen, heiraten und ziehen in eine Kleinstadt, die irgendwo im nirgendwo liegt, um die perfekten 1,7 Kinder zu bekommen, die jeder haben sollte, um gut genug für die Gesellschaft zu sein.

Gut zwei Jahrzehnte und Millionen an Streitereien später sind wir geschieden und unsere Kinder kommen einmal im Monat, um sich zu erkundigen, ob wir noch leben oder um uns zu sagen, dass wir schon wieder ein Enkelchen bekommen.

Dann, nachdem wir jeden Sonntag mit unseren Nachkommen in der Kirche dem Gott dafür gedankt haben, dass alles in unserem Leben gut läuft, kommen wir irgendwann in unser Haus mit Garten, das für uns allein viel zu groß geworden ist, setzen uns auf die Terrasse mit dem Wissen, ab jetzt nicht mehr arbeiten zu müssen und stellen uns vor, was wir in unserem Leben noch tun wollen, bevor es endet.

Doch wie es das Schicksal will, werden wir nie mehr dazu kommen, den Mount Everest zu besteigen, uns neu zu verlieben, noch einmal von vorne anzufangen oder nur der Sonne beim Aufgehen zuzusehen. Wir werden nur noch unsere Augen schließen und einschlafen.

In den letzten Sekunden, während unserer letzten Atemzüge, werden wir all die Verwirrung, den Schmerz, die Wut, die Trauer und auch unsere gesamte Angst vergessen und uns daran erinnern, wie wir zu Ostern neben unserer Mutter gesessen haben um die Eier, die sie uns gereicht hat, zu bemalen.

Vielleicht fällt uns auch wieder ein, wie unsere Schwester in unser Zimmer gekommen ist, nur um unter die Bettdecke zu kriechen und mit uns zu lachen, als wären wir wieder im Kindergarten, obwohl wir schon lange diesem Alter entwachsen sind. Wahrscheinlich werden wir uns auch an alle Kinobesuche, alle Geschenke und das gute Essen zu Weihnachten erinnern. Vielleicht sogar an den Stolz auf dem Gesicht unseres Vaters, als er uns mit unserem ersten Zeugnis von der Schule abgeholt hat.

In diesem Moment steht die ganze Welt für uns still und es zählt nichts mehr, außer den Bildern unserer Familie und Freunde, die sich in unserem Kopf abspielen. Das Leben ist in diesem Augenblick traurig, aufregend, ängstigend, abenteuerlich, schwer und doch leicht, amüsant, chaotisch und vieles mehr, doch vor allem ist das Leben in diesem Moment schön, so wie es uns als kleines Kind gesagt worden ist. Obwohl die Welt uns manchmal hart und ungerecht erscheint, lieben wir es zu leben. Bestimmt ist es verwirrend, dass ich unser Leben beschreibe, da doch jeder von uns es tagtäglich lebt. Doch mein Leben wird nicht wie ein Muster ablaufen, egal wie sehr ich es mir auch wünsche. Ich werde keine Kinder bekommen. Ich werde in keine Kleinstadt ziehen. Ich werde nicht entscheiden, wen ich heirate und ich werde vermutlich nicht in einem Schaukelstuhl friedlich einschlafen, denn die Wahrheit ist, dass mein Leben nie normal war und auch nie wieder normal sein wird. Aber um das zu verstehen, muss ich die ganze Geschichte meines Lebens erzählen oder zumindest den Teil, der mein Leben für immer verändert hat.

Deine Read

Der Mond geht auf

Liebe Marie!

Ich erinnere mich noch haargenau an den Moment, als ich im Schulgang vor den Spinden der dritten Klasse stand und an meinen Fingernägeln kaute. Damals war mir noch nicht klar, dass es das letzte Mal sein würde, dass ich das kalte Blech an meinem Rücken spüre und sich eine Ecke in meine Wirbelsäule drückt.

Das Schuljahr hatte gerade erst begonnen und es war immer noch unerträglich heiß, als würde der Sommer dieses Jahr gar nicht mehr vorübergehen wollen. Schweiß rann über meine Stirn und am liebsten hätte ich mir den Hoodie vom Leib gerissen oder die Ärmel hochgekrempelt. Meine hüftlangen Haare waren zu einem festen Zopf gebunden und lagen über meiner linken Schulter.

Ich keuchte vor Schmerz als ich mein Gewicht auf mein anderes Bein, das in der Zwischenzeit eingeschlafen war, verlagerte, bevor ich mich wieder auf meine Lernunterlage konzentrierte. Während ich in mein Französischbuch sah, schob ich meine Brille auf meine zu groß geratene Nase und las mir die Vokabeln durch, die in der fünften Stunde zu einer Wiederholung drankommen würden. Doch bis dahin hätte ich eigentlich noch Zeit gehabt, denn die dritte Stunde hatte noch nicht angefangen.

Emma, meine Klassenkollegin, die ich am ehesten noch als meine Freundin bezeichnen konnte, stand neben mir und erzählte gerade von ihrem Wochenende.

Ich weiß, was Du jetzt denkst, aber Emma wollte gar nicht, dass ich ihr wirklich zuhöre. Sie wollte nur über ihr Leben reden, ohne dass sie wirkte, als würde sie mit sich selbst reden. Es war eine stille Übereinkunft, die wir schon vor Jahren getroffen hatten. Wir hatten weder die Telefonnummer der jeweils anderen, noch verbrachten wir außerhalb der Schule Zeit miteinander. Nur während der Schulzeit hielten wir uns gegenseitig Sitzplätze frei und sammelten Mitschriften und Hausaufgaben, wenn die andere krank war. Wir verbrachten die Pausen zusammen, damit wir nicht alleine in einer Ecke stehen mussten, als hätten wir keine Freunde. Traurigerweise war genau das der Fall. Ich war nie ein Opfer von Mobbing und ich war auch nie beliebt. Ich war einfach immer unsichtbar. Die Schüler gingen an mir vorbei und selbst wenn ich fehlte, fiel es niemandem auf. Meine Mutter, eine Psychologin, die mit ihrem Beruf verheiratet war, meinte einst, als ich weinend in meinem Zimmer saß, dass es meine Schuld sei, dass niemand freiwillig mit mir Zeit verbringen will. Ich würde mich nicht genug bemühen, nett zu anderen Menschen zu sein und den Weg Gottes nicht befolgen. An dieser Stelle sollte ich vielleicht auch erwähnen, dass meine Mutter eine gottesfürchtige Katholikin, ohne Bezug zur Realität, war.

Sie war nicht immer so, aber als mein Vater uns für seine schwangere Sekretärin verließ und eine neue Familie gründete, drehte sie von einem Tag auf den anderen durch. Seitdem war sie nicht wiederzuerkennen. Aber genug davon.

Emma und ich waren am Ende des Ganges angekommen, als es passierte. Ich weiß noch exakt, was sie damals zu mir sagte. Ziemlich erschreckend, dass ich genau auf ihren letzten Satz geachtet habe, aber von dem restlichen Vortrag keine Ahnung mehr hatte.

»Read, kannst du dir vorstellen, dass dir das passieren könnte?«, hatte Emma gesagt und im Nachhinein wünschte ich, ich wüsste, worüber sie gesprochen hatte. Aber ich konnte nicht mehr nachfragen. Ich war wie erstarrt, fast gelähmt. Eine von IHNEN hatte die Eingangstüren geöffnet und der Wind schlug die Glastür hinter ihr wieder zu. Sie schwebte über den Boden des Schulflurs und ich konnte hören, wie die Schüler um mich herum scharf die Luft einzogen, bevor ihr Atem stockte. Ich konnte meine Mitschüler verstehen. Sie war wirklich wunderschön. Ihr hellblaues Seidenkleid umschmeichelte ihre Taille und erinnerte mich an die Farbe ihrer Augen. Ihr langes blondes Haar fiel über ihren Rücken und an ihren spitzen Ohren hingen große Kreolen. Auch wenn ihr Lächeln wirklich bezaubernd war und ihre Füße, an denen sie keine Schuhe trug, über den Boden schwebten, wie bei einer guten Fee aus einem Märchen, machte sie mir Angst. Ich wusste nicht warum.

Ich wusste nur, dass dieses kleine Menschlein nicht hierhergehörte, doch wie alle anderen wusste ich, was von uns erwartet wurde, wenn jemand wie sie hier auftauchte.

Ich neigte den Kopf zur Brust und murmelte: »Fatum viam invenit.«

Damals hätte mich niemand fragen dürfen, was diese Phrase bedeutet, denn ich hatte keine Ahnung und ich schätze, Emma und den anderen Jugendlichen in meiner Schule ging es genauso wie mir. Natürlich war das nicht der richtige Moment, um mit meinen Gedanken in die Vergangenheit abzuschweifen, aber ich musste sofort wieder daran denken, dass uns schon im Kindergarten diese Zeilen beigebracht wurden und wie sehr ich es verabscheut hatte, da es für mich nie einen Sinn ergeben hatte. Zu meiner Verteidigung wäre zu sagen, dass ich auch dachte, niemals in die Situation zu kommen, einer von IHNEN gegenüberzustehen. Doch nun war es soweit. Auch wenn ich wusste, dass es sich nicht gehörte oder sogar streng verboten war, hob ich den Kopf, um das Geschöpf vor mir zu betrachten. Bei kurzer Betrachtung sah sie wie ein normaler Mensch aus, mit ihren hellblauen Kulleraugen und ihrem Piercing im rechten Nasenflügel. Doch sobald ich an ihrem Körper hinabsah, konnte ich sehen, dass das unschuldig aussehende Mädchen keinesfalls normal war. An ihren Schultern, wo das Kleid die zarte Haut freilegte, stachen mir blaue kleine Tattoos ins Auge. Sie sahen aus wie Wassertropfen und schienen sich unter meinem Blick zu bewegen. Als die Farben immer dunkler wurden, sah ich panisch zurück in das Gesicht des Mädchens. Sie lächelte. Es war absurd. Sie stand einfach da, grinste mich an und klatschte drei Mal in die Hände.

Plötzlich wurde alles schwarz um mich herum und ich konnte nichts mehr sehen. Weder die grässlichen Schulwände, deren Farbe an ein Gefängnis erinnerte, noch das zierliche Gesicht mit den puppenhaften Augen. Auch mein Gehörsinn verließ mich nach und nach. Ich konnte das Atmen der anderen Schüler nicht mehr hören, auch wenn ich mich penetrant darauf konzentrierte. Bumm, bumm, bumm, hörte ich mein eigenes Blut in meinem Kopf pochen. Ich lehnte mich, um nicht zu fallen, an den Spinden hinter mir an.

»Read!«, schrie jemand und ich sah mich panisch um,

ohne auch nur einen Funken zu sehen.

»Read!«, hörte ich die Stimme wieder und drückte meine Handflächen auf meine Ohren.

»Wir brauchen dich, Read. Komm nach Hause!«

Die Stimme wurde immer lauter. Meine Sicht verschwamm, doch anstatt wieder die kalten Schulmauern und meine idiotischen Mitschüler zu sehen, sah ich Flammen. Vor mir loderte ein Feuer und Menschen liefen wie wild durch die Gegend. Eine lange Straße erstreckte sich vor mir und überall war es schmutzig. Es war heiß durch das Glühen des Feuers und es stank bestialisch. Ein Kind, höchstens zehn Jahre alt, saß in einer Ecke zwischen zwei Häusern und hatte eine alte Porzellanpuppe in der Hand. Das Gesicht der Puppe war voller Ruß und auch die Kleidung des Mädchens war kohlrabenschwarz vor Dreck. Doch am schockierendsten war, dass am Saum des Kleides trockenes Blut klebte. Das Kind wippte vor und zurück und sang leise vor sich hin. So leise, dass ich sie kaum richtig verstehen konnte.

»Kleines Püppchen, kleines Püppchen, die Welt ist grausam und gemein«, summte sie vor sich hin und streichelte dem Spielzeug über die künstlichen Haare. Die Flammen kamen näher und die Schreie der Menschen gingen mir durch Mark und Bein. Sie versuchten, sich hinter Häusern und in kleinen Spalten zu verstecken, doch überall wurden sie gefunden. Das Meer aus Flammen verschlang alles. Das Gemurmel der Kleinen war tröstlich in dieser Umgebung. Sie wirkte unbekümmert, auch wenn ich durch die Puppe ihr Gesicht nicht erkennen konnte. Als die Hitze nur noch wenige Meter von der Kleinen entfernt war, sprang sie auf und drehte sich zum Feuer, sodass ich ihren Rücken sehen konnte. Ihr Kleid war hinten aufgerissen und ihre Haut war verkrustet. Ihre langen blonden Haare waren verfilzt und ein Käfer krabbelte an einer fettigen Strähne entlang. Die Puppe baumelte an ihrer rechten Hand hinunter. Die Nägel des Kindes waren eingerissen und auch auf ihren Handrücken sammelte sich der Schmutz der Straße.

 

»Lauf!«, schrie ich ihr zu, als das Feuer das Haus vor dem Mädchen verschlang und für immer zerstörte.

»Wohin?«, fragte das Mädchen und streckte die Arme aus, als wollte sie mir zeigen, dass alles zerstört war und es für sie keinen Ort mehr gab.

»Weg vom Feuer!«, rief ich hysterisch vor Angst, weil die Flammen das Mädchen fast erreicht hatten.

»Wenn wir nicht brennen«, fing sie an und drehte sich zu mir um, »wie wird dann die dunkle Nacht erleuchtet?«

Im ersten Moment entglitten mir die Gesichtszüge. Kurz setzte mein Herz für mehrere Schläge aus, um mit doppelter Geschwindigkeit weiter zu schlagen. Mein Blutdruck stieg drastisch an und meine Atmung beschleunigte sich. Ich musste diesem Mädchen einfach helfen. Ohne länger zu überlegen, rannte ich los, um sie wegzuziehen. Ich rannte so schnell mich meine Beine trugen, doch es kam mir vor, als ob der Weg immer länger und länger werden würde. Tränen begannen meine Wangen hinunterzufließen und meine Füße verloren den Halt, sodass ich auf den Beton unter mir mit den Knien voran aufschlug.

»Vergiss nicht. Nihil fit sine causa«, flüsterte sie und trotz der Entfernung konnte ich ihre helle Stimme hören. Als die Flammen kamen, blieb sie still. Als ihre Haut Blasen warf und dunkelrot wurde, grinste sie. Ihre

Haarpracht zerfiel zu Staub und sie lachte. Nihil fit sine causa, nichts geschieht ohne Grund. Ja vielleicht. Doch damals, als meine Sicht wieder schwarz wurde und ich nur noch das Lachen des armen Mädchens im Ohr hatte, hätte ich lieber alles und jeden verklagt, als mir darüber Gedanken zu machen, ob sie recht hatte.

Ich wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, doch als ich wieder sehen konnte, stand Emma neben mir. Sie schien sich nicht einmal bewegt zu haben. Das Miststück, das nicht hierhergehörte, stand einfach da, als wäre es das Normalste auf der Welt und versuchte uns mit ihrem Blick zu röntgen. Ihre hellblauen Augen funkelten, während sie den einzelnen Schülern ins Gesicht sah. Bei jedem hielt ihr Blick kurz inne. Bei einigen länger als bei anderen und ich konnte diese Schüler unter ihrem Blick erzittern sehen.

Als sie bei Emma und mir ankam, wandte sie ihren Blick nicht mehr ab. Mir war bewusst, dass ich den Kopf eigentlich wieder senken müsste, da es angeblich Unglück brachte, eine Chooserin, wie die Wesen von uns genannt wurden, anzusehen. Doch der Schock darüber, dass das Geschöpf direkt auf uns zukam, lies mich die Regeln vergessen. Es war mir im Grunde auch egal wer sie war. Ich wollte einfach, dass sie wieder verschwindet. Vor uns angekommen, erschien ein noch breiteres Lächeln auf ihrem Gesicht, sodass eine Reihe perfekter weißer Zähne zum Vorschein kam. Emma lächelte die

Dame an, doch ich lies einfach meine Bücher vor Angst fallen. Selbst meine Mutter und ihre Bestrafungen lösten in mir nicht die Panik aus, die das Wesen in mir verursachte. Meine Hände waren in der Zwischenzeit schweißnass geworden und ich bekam eine Gänsehaut, als sie mich ansprach.

»Was wollen Sie hier?«, fragte ich mit einem genervten Ton, um die Furcht zu überspielen.

Die Chooserin zuckte zusammen und kurz hatte ich das Gefühl, dass sie auch nicht gerne hier war. Ich seufzte im Stillen und wünschte mich zurück auf meine alte Matratze.

Das strahlende Lächeln, das sie bis jetzt aufgesetzt hatte, verschwand aus ihrem Gesicht und sie murmelte: »Es tut mir so leid, dass dir das passieren musste«, bevor sie ihre Hand auf mein Schlüsselbein legte und ein stechender Schmerz durch meine Brust fuhr, noch bevor ich ihre Hand von mir stoßen konnte.

Ich hatte das Gefühl, als würde der Schmerz mich auflösen und gleichzeitig wieder zusammensetzen. Er zog sich über meine Haut in mein Blut und dann tief in meine Knochen, wo er noch einmal explodierte. Mein Gesicht verzog sich zu einer Fratze und mein ganzer Körper verkrampfte sich. Das Gefühl, als würde die Zeit stehen bleiben, lies mich fast vergessen zu atmen. Mein Herz klopfte gegen meine Rippen, als würde ich einen Marathon laufen. Ich bekam nicht mit, wie meine Füße unter mir nachgaben und ich auf den kalten Boden fiel oder wie Emma meinen Namen schrie, weil sie nicht wusste, was hier los war. Aber ich wusste es. Mutter hatte uns eingebläut wir sollen weglaufen, wenn wir einen Chooser sahen, weil sie gefährlich, böse und wider die Natur waren. Doch ich hatte ihr immer gesagt, dass es dazu nie kommen würde. Jetzt war es zu spät. Die Chooserin hatte mich als Anwärterin erkannt und mich solange gesucht, bis sie mich in meiner Schule gefunden hatte. Meine Eingeweide zogen sich zusammen und mir wurde eiskalt. Als wäre schon tiefster Winter. Ein Schweißfilm lag auf meiner Haut und mein Körper fühlte sich nicht mehr an wie ein Teil von mir. Das Buch, das mir heruntergefallen war, stach gegen mein Bein, doch ich konnte mich nicht bewegen, weshalb ich nichts dagegen tun konnte. Kurz bevor ich dachte, dass ich nun sterben müsste, verschwand die Qual und lies nur ein Kribbeln auf meinem Dekolleté zurück.

Ich brauchte keinen Spiegel, um zu wissen, dass auf meinem Schlüsselbein nun ein Brandmal war, das mich wie ein Vieh als Anwärterin kennzeichnete. Ich brauchte auch keine schreiende Emma, die auf und ab sprang, um schlussendlich panisch wegzulaufen. Ich verdrehte meine Augen und starrte in das Gesicht des Mädchens, das mein Leben, wie ich es bis jetzt kannte, zerstört hatte. Ihre Augen waren hell wie der See, an dem ich als Kind immer schwimmen war. Kurz dachte ich daran, dass ich mich wohl nie wieder an den See setzen würde, um meine Füße in den Sand zu stecken und den Wellen beim Fließen zuzusehen.

»Wir erwarten dich im schwarzen Wald«, flüsterte sie mir ins Ohr und küsste meine Wange.

Danach erhob sie sich und ging einfach den Weg zurück, den sie gekommen war. Es war grausam, die wunderschöne Frau gehen zu sehen. Sie ließ mich allein auf dem kalten Boden zurück und noch nie zuvor in meinem Leben wünschte ich mir so sehr, unsichtbar zu sein, wie vor einer Viertelstunde. Ausnahmslos alle, die nicht weggelaufen waren, sondern sich nur hinter Spinden versteckt hatten, krochen aus ihren Verstecken und starrten mich an. Ihre Blicke trafen mich wie Messerstiche und ich fürchtete mich davor, in ihre Gesichter zu sehen. In den Augen von ihnen war ich wohl jetzt ein Freak, genauso wie Cassandra Middleton damals ein Freak für mich gewesen war, als ich davon gehört hatte, dass die vierfache Klassensprecherin auserwählt wurde. Geholt trifft es wohl eher, denn danach sah man sie nie wieder. Das war das übliche Vorgehen. Jemand wurde gebrandmarkt, an einen geheimen Ort verschleppt und tauchte nie wieder auf. Niemand, der nicht auserwählt wurde, hatte je erfahren, was aus den Kindern wurde. Auch mich würden sie nicht wiedersehen. Alle Schüler waren sich diesem Umstand bewusst.

Im Endeffekt war ihre Meinung auch nicht wichtig und ich wollte mich jetzt nicht mit ihnen beschäftigen. Das

Einzige, das ich wollte, war allein zu sein und mich vor der restlichen Welt zu verstecken.

Nun gab es für mich nur zwei Möglichkeiten und beide fand ich nicht besonders berauschend. In den nächsten Tagen sterben oder dem mysteriösen Mädchen folgen. Ich versuchte, mich zusammenzureißen, sammelte meine Sachen vom Boden auf, erhob mich und rannte, so schnell meine Beine es zuließen, aus der Schule. Die Kapuze meines Hoodies zog ich tief in mein Gesicht, um mich für Passanten unkenntlich zu machen. Wir lebten in einem kleinen Ort und es würde nur wenige Stunden brauchen, bis ausnahmslos alle Bewohner Bescheid wussten. Die aufgeregten Schreie ignorierend, und mein altes Leben hinter mir lassend, sprintete ich über den Rasen des Schulhofs. In mir war immer noch die kleine Hoffnung, dass ich morgen aufwachte und alles nur ein Traum war. Vielleicht hoffte ich auch einfach, dass sich alles regeln würde. Doch wie falsch ich damit lag, sollte ich erst merken, als ich an unserem Gartenzaun ankam. Wie so oft hatte ich auf dem Weg nach Hause zu Gott gebetet, oder wer auch immer mit unserem Leben Schach spielte, dass meine Mutter nicht im Haus war, wenn ich ankam. Doch wie immer wurde ich nicht erhört. Sie stand in der Küche und telefonierte mit Elizabeth Fletscher, der Mutter von einer meiner Mitschülerinnen, die ich natürlich nicht näher kannte. So leise wie möglich kletterte ich die Rosenranke zu meinem Zimmerfenster hinauf und war zum ersten Mal froh, dass meine Erzeugerin mir nicht erlaubt hatte, in den Dachboden einzuziehen.

»Danke für den schnellen Anruf Elizabeth. Das ist ja furchtbar. Wie sich die Eltern wohl fühlen müssen. Stell dir das vor«, erklang die scheinheilige Stimme meiner Mutter von unten und ich bewegte mich noch schneller. Ich stieg durch die kleine Fensteröffnung, die ich immer offen ließ und fühlte wieder festen Boden unter meinen Füßen. Ich nahm meine Weste aus meinem schwarzen Lederrucksack und tauschte sie gegen den Kapuzenpullover, sodass das Mal auf meiner Haut nicht mehr zu sehen war.