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20. Fürst Iwan Iwanowitsch

Als die Fürstin die Verse angehört und den Verfasser mit Lob überschüttet hatte, wurde Großmutter weicher, sprach Französisch mit ihr, sagte nicht mehr »Sie, meine Liebe« und bat sie, ihre Kinder zu schicken. Die Fürstin sagte zu und fuhr dann nach kurzem weiteren Verweilen fort.

An diesem Tage kamen so viele Gratulanten, daß der Hof den ganzen Vormittag nicht leer von Wagen wurde.

»Bon jour, ma chère cousine,« sagte einer der Gäste beim Eintritt ins Zimmer, Großmutter die Hand küssend.

Es war ein großer siebzigjähriger Herr in Uniform mit großen Epaulettes und einem weißen Orden auf der Brust. Sein Gesichtsausdruck war ruhig, offen. Die Ungezwungenheit und Schlichtheit seines Benehmens fielen mir auf.

Trotzdem auf dem Scheitel nur ein Halbkreis grauer Haare stehengeblieben war, und man an der Vertiefung der vom Schnurrbart nicht bedeckten Oberlippe deutlich das Fehlen der Zähne bemerkte, war sein Gesicht noch von bemerkenswerter Schönheit. Er war direkt auf Großmutter zugegangen, und obgleich ein großer Teil der Anwesenden bei seinem Erscheinen aufstand, begrüßte er die Gesellschaft erst, nachdem er Großmutter seinen Glückwunsch dargebracht hatte.

Fürst Iwan Iwanowitsch hatte dank seinem vornehmen Charakter, seiner ruhigen Tapferkeit, vorzüglicher Protektion und hervorragendem Glück schon in jungen Jahren eine jener glänzenden militärischen Karrieren gemacht, wie sie Ende vorigen Jahrhunderts möglich waren. Er blieb im Dienst und sein Ehrgeiz wurde sehr bald in einer Weise befriedigt, daß ihm in dieser Beziehung nichts zu wünschen übrigblieb. Seit der frühesten Jugend war sein Benehmen derart, als bereite er sich vor, eine glänzende Stellung in der Welt einzunehmen, die ihm später zuteil wurde. Aus diesem Grunde änderte er, obgleich auch in seinem glänzenden, tätigen, nützlichen und etwas prunkenden Leben Enttäuschungen, wie bei allen, nicht ausgeblieben waren, seinen Charakter und seine Denkart nie und erwarb sich infolgedessen die allgemeine Achtung nicht so sehr auf Grund seiner glänzenden Position, als seiner Konsequenz in allen Lebenslagen. Er war geistig durchaus nicht hervorragend, dank seiner Stellung aber, die ihm erlaubte, auf alle Widerwärtigkeiten des Lebens ruhig und sogar ein wenig verächtlich herabzusehen, war sein Gedankenkreis ein ziemlich weiter.

Da ihn alle suchten und umschmeichelten, er aber nicht immer alle Wünsche der anderen erfüllen konnte, war er trotz seines guten Herzens etwas kalt und spöttisch im Verkehr. Diese Kälte wurde aber durch die Leutseligkeit und ruhige Höflichkeit eines den allerhöchsten Kreisen angehörigen Mannes gemildert. Seine Bildung und Belesenheit ließen manches zu wünschen übrig; was man aber wissen mußte, hatte er stets bereit und verstand darüber hübsch und fesselnd zu reden.

Seine Unterhaltung war einfach; und diese Einfachheit verdeckte gleichzeitig seine Unkenntnis gewisser Dinge und stellte sein angenehmes Wesen und seine Toleranz in helles Licht. Ich glaube nicht, daß er den Lärm der großen Welt liebte, er war aber daran gewöhnt, und deswegen machte es nichts aus, ob er im Auslande oder in Moskau lebte – er besuchte überall Bälle, wo er sich mit erlesenen Partnern an den Kartentisch setzte, und hatte seine bestimmten Empfangstage. Seine Autorität in gesellschaftlicher Beziehung war derart, daß, wenn er jemanden nicht empfing, das als ein Ereignis galt. Junge, hübsche Damen küßte er einfach auf Stirn und Wangen. Junge Leute, die er gern hatte, wurden von ihm geduzt, und mancher sehnte sich nach dieser Auszeichnung.

Großmutter war eine von den Personen, die er als ebenbürtig ansah und vor der er den gönnerhaften Ton unterließ, der ihm selbst schwer wurde. Solche Leute waren nur noch wenige am Leben, deswegen, und ferner, weil beide schon von kleinauf befreundet waren, schätzte er seine Beziehungen zu ihr und bewies ihr bei jeder Gelegenheit seine Liebe und Verehrung.

Ich konnte mich an dem Fürsten nicht satt sehen. Die Verehrung, die alle ihm bezeigten, die großen Epaulettes, die besondere Freude, die Großmutter bei seinem Anblick verriet, sowie der Umstand, daß er allein ungeniert mit ihr verkehrte und sie »ma cousine« nannte, flößten mir gleichen, ja vielleicht noch größeren Respekt vor ihm als vor Großmutter ein. Als man ihm mein Gedicht zeigte, rief er mich heran und sagte: »Wer kann's wissen, vielleicht wird das ein zweiter Dershawin,« und zwickte mich dabei so heftig in die Wange, daß ich nur deswegen nicht aufschrie, weil mir einfiel, daß es ja eine Liebkosung sein sollte.

Papa und Wolodja gingen hinaus; im Gastzimmer blieben nur der Fürst und Großmutter. Ich verstand den Sinn ihrer Unterhaltung nicht, weil fortwährend unbekannte Worte und Namen gebraucht wurden; trotzdem gefiel mir ihr Gespräch sehr; ich fand es schön, wie sich gehörte und hatte am Zuhören besonderes Vergnügen, weil Großmutter sich unterdessen gleichsam verjüngte; sie sprach viel, erzählte, lachte.

»Warum ist die liebe Natalie Nikolajewna nicht gekommen?« fragte Fürst Iwan Iwanowitsch plötzlich nach minutenlangem Schweigen.

»Ach, mon cher,« Großmutter dämpfte ihre Stimme und legte die Hand auf seinen Uniformärmel, »ich will Ihnen sagen, was mich quält. Sie schreibt mir, ihr Gatte hätte ihr geraten zu kommen, es seien aber dieses Jahr fast gar keine Einkünfte zu verzeichnen, deswegen hätte sie von selbst verzichtet. Dann schreibt sie: ›Außerdem habe ich dieses Jahr keine Veranlassung, mit dem ganzen Hause nach Moskau überzusiedeln, chère maman. Ljubotschka ist noch zu klein, und hinsichtlich der Knaben, die bei Dir wohnen, bin ich ruhiger als wenn sie hier wären.‹ Das ist ja alles recht schön,« fuhr Großmutter in einem Ton fort, der deutlich bewies, daß sie es gar nicht schön fand, »die Knaben hätten längst hierher gemußt, um etwas zu lernen und sich an die Welt zu gewöhnen – denn welche Erziehung konnten sie auf dem Lande genießen? Der älteste ist schon dreizehn, der andere zwölf. Haben Sie schon bemerkt, mon cousin,« meinte Großmutter achselzuckend, als ob sie sich über etwas wunderte, »sie sind ganz verwildert, verstehen nicht einmal, nett ins Zimmer zu treten.«

»Ich begreife nicht, ma cousine,« erwiderte Fürst Iwan Iwanowitsch, »warum da fortwährend über schlechte Erträge und zerrüttete Vermögensverhältnisse geklagt wird. Er besitzt doch ein schönes Vermögen, und ihre Besitzung Chabarowka kenne ich wie mein Eigentum. Ein prächtiges Gut, das vorzügliche Einkünfte abwerfen muß.«

»Ich will Ihnen, mein wahrer Freund, sagen,« unterbrach Großmutter den Fürsten, »es kommt mir vor, als wenn das alles nur Ausreden sind, damit ›er‹ allein hier bleiben und ungeniert in seine Klubs fahren und Gott weiß was anstellen kann, ohne daß die Ärmste etwas ahnt. Sie wissen, was für ein Engel an Güte sie ist – glaubt alles, was er ihr sagt. Er versichert, die Kinder müßten nach Moskau und sie müsse auf dem Lande bleiben – und sie glaubt es. Wenn er ihr vorreden würde, die Kinder müßten Prügel haben, wie die der Fürstin Barbara Iljinitschna, würde sie wahrscheinlich auch das glauben,« meinte Großmutter, sich verächtlich auf ihrem Sessel umdrehend. »Ja, mein Freund,« fuhr Großmutter nach kurzem Schweigen fort, indem sie eins der beiden Batisttücher in die Hand nahm, um eine Träne abzuwischen, »ich denke oft, daß er sie weder zu schätzen weiß noch versteht, und trotz all ihrer Güte und Liebe zu ihm und dem Bemühen, ihren Kummer zu verbergen, weiß ich sehr gut, daß sie mit ihm nicht glücklich sein kann, und denken Sie an mein Wort, wenn er …« – Großmutter bedeckte ihr Gesicht mit dem Taschentuch.

»O, ma bonne amie,« rief der Fürst vorwurfsvoll, »ich sehe, Sie sind noch immer nicht vernünftiger geworden. Erblicken überall Gespenster und grämen sich darüber. Können Sie sich denn gar nicht bezwingen! Ich kenne ihn schon lange und weiß, daß er ein lieber, guter, aufmerksamer Gatte ist; besonders ein Edelmensch. Un parfait honnête homme,« setzte Fürst Iwan Iwanowitsch zur Bestätigung seiner Gedanken hinzu.

Ich fürchtete, man könnte bemerken, daß ich gehört, was ich nicht zu wissen brauchte, und ging auf Zehenspitzen aus dem Zimmer.

Ich will nicht sagen, daß ich nicht verstand, wer der »er« war, dem Großmutter Vorwürfe machte und den der Fürst rechtfertigte. Worin aber die Schuld einer Person bestehen sollte, die, nach meiner Auffassung, niemals verurteilt werden konnte, das vermochte ich mir nicht zu erklären. Ich zweifelte sogar daran, ob ich diese Worte wirklich gehört und ob sie sich wirklich auf Papa bezögen. Beim Nachdenken hierüber tauchten in meinem Kopf so viel Vermutungen, Erinnerungen und Phantasien auf, daß ich durchaus keine Ordnung in meine Gedanken bringen konnte und wie stets in solchen Fällen, mich mit ganz anderen Dingen beschäftigte.

Das eine, was aus diesem Wirrwarr hervorging, war ein undeutliches Gefühl, das ich trotz aller Schrecken, die es mir einflößte, nicht loswerden konnte. Das war das Gefühl, mein Vater sei imstande, Schlechtes zu tun.

21. Iwins

»Wolodja, Wolodja! Iwins, Iwins!« rief ich. Vom gegenüberliegenden Trottoir kamen, wie ich durchs Fenster sah, drei Knaben in blauen Pekeschen mit Biberkragen hinter einem jungen hübschen Erzieher auf unser Haus zu.

Bald nach unserer Ankunft in Moskau waren wir auf einem Spaziergange mit Papa diesen Iwins begegnet, die durch den Fürsten Iwan Iwanowitsch entfernt mit uns verwandt waren. Papa hatte uns bekannt gemacht.

Der zweite Iwin, Serjoscha, machte sofort starken Eindruck auf mich. Seine ungewöhnliche Schönheit überraschte und fesselte mich. Ich fühlte eine unbezwingliche Neigung zu ihm, vielleicht, weil sein Gesicht einen kühnen, etwas spöttischen Ausdruck zeigte; vielleicht, weil ich, mein Äußeres verachtend, an anderen den Vorzug der Schönheit übermäßig schätzte; vielleicht – was ein sicheres Zeichen wahrer Liebe – weil ich mir einbildete, er müsse sehr stolz sein und würde mich niemals lieben. So fürchtete ich ihn ebenso, wie ich ihn liebte. Es kam mir vor, daß zwischen ihm und mir nicht nur keine wechselseitigen Gefühle, sondern überhaupt nichts Gemeinsames, kein Vergleich bestehen könne; so hoch war meine Meinung von ihm.

 

Ihn sehen war für mich schon genügend, um glücklich zu sein, und eine Zeitlang waren all meine Seelenkräfte darauf gerichtet. Wenn ich sein hübsches Gesicht drei oder vier Tage nicht gesehen hatte, härmte ich mich und wurde bis zu Tränen traurig. All meine Träume betrafen ihn. Wenn ich schlafen ging, hatte ich den Wunsch, von ihm zu träumen; wenn ich die Augen schloß, sah ich ihn vor mir und liebkoste dieses Phantasiegebilde mit höchstem Genuß. Niemandem machte ich von diesem Gefühl Mitteilung, und das vermehrte seine Bedeutung und Stärke.

Als Serjoscha zum erstenmal mit mir sprach, war ich über dieses unerwartete Glück so betroffen, daß ich abwechselnd erblaßte und errötete, nicht sprechen konnte und, um meine Verlegenheit vor ihm zu verbergen, widernatürlich laut umherzutollen begann.

Vielleicht, weil meine unverwandten Blicke ihn langweilten oder verletzten, oder einfach, weil er keine Neigung zu mir fühlte, spielte und sprach er ersichtlich lieber mit Wolodja als mit mir. Trotzdem war ich zufrieden, wünschte nichts, forderte nichts von ihm und war bereit, ihm alles zu opfern.

Ein trauriger Gedanke, daß dieses schöne, reine Gefühl unbegrenzter Liebe und Ergebenheit unerwidert zugrunde ging. Ich hätte ihm gern alles gesagt, was ich auf dem Herzen hatte; eine sehr begründete Furcht aber, dieses Gefühl verspottet zu sehen, hielt mich davon ab. Ich suchte ihm in allem zu gleichen, seinen Charakter nachzuahmen, ganz gleichgültig zu erscheinen und mich ihm unterzuordnen. Er fühlte seine Macht über mich und übte sie unbewußt, aber tyrannisch bei unseren kindlichen Beziehungen aus.

Serjoscha war ein brauner, krausköpfiger, munterer Knabe mit dunkelblauen lebhaften Augen, etwas aufgeworfenem Näschen und sehr roten vollen Lippen, zwischen denen zuweilen die obere Zahnreihe etwas stark hervortrat. Er lächelte niemals, sondern brach entweder in sein lautes, hellklingendes, anziehendes Lachen aus, oder behielt seinen gewöhnlichen, ruhigernsten Ausdruck. Er hatte eine üble Angewohnheit: wenn er nachdenklich war, richtete er die Augen starr auf einen Punkt und blinzelte unaufhörlich, mit der Nase und den Augenbrauen zuckend. Alle fanden diese Angewohnheit sehr entstellend; mir aber schien sie so unaussprechlich lieb, daß ich unwillkürlich das gleiche tat; einige Tage nach unserer Bekanntschaft fragte Großmutter mich, ob mir die Augen weh täten, da ich mit ihnen klapperte wie eine Eule.

Wie mag es kommen, daß ich als Kind gern groß sein wollte und als Großer oft einem Kinde zu gleichen wünschte? Eine sonderbare Erscheinung, die ich nicht nur an mir und nicht nur bei diesen Wünschen beobachtet habe. Unerklärlich, aber trotzdem existierend, sehr zum Schaden des Menschengeschlechts. Wie oft hat dieser Wunsch, nicht mehr »klein« zu sein, bei meinem Verhältnis zu Serjoscha das überströmende Gefühl zurückgedämmt, Zärtlichkeit unterdrückt und auf diese Weise Heuchelei großgezogen. Ich wagte nicht nur nicht, ihn zu küssen (wonach ich heftiges Verlangen trug), ihn bei der Hand zu fassen, ihm zu sagen, wie ich mich freute, ihn zu sehen, sondern wagte ihn nicht einmal anders als Sergei und niemals Serjoscha zu nennen. Das war bei uns so hergebracht.

Jeder Ausdruck eines Gefühls bedeutete Kinderei und bewies, daß derjenige, der sich ihn erlaubte, noch ein Knabe war. Wir hatten die bitteren Erfahrungen noch nicht durchgemacht, die Erwachsene zur Vorsicht und Kälte in ihren Beziehungen veranlassen; wir beraubten uns des reinen Genusses feuriger Kinderliebe nur infolge des sonderbaren Wunsches, Große nachzuahmen.

Schon im Dienerzimmer traf ich Iwins, begrüßte sie und rannte spornstreichs, kaum meine Freude verbergend, zu Großmutter, um ihr mitzuteilen, daß Iwins ihr gratulieren wollten, als ob diese Nachricht sie vollends beglücken müsse. Dann folgte ich Serjoscha, ohne ein Auge von ihm abzuwenden, ins Gastzimmer und beobachtete jede seiner Bewegungen, als er Großmutter gratulierte.

Als Großmutter ihm sagte, er sei gewachsen und er darüber errötete, – errötete ich noch mehr; als sie dem jungen Erzieher sagte: »Heute dürfen die Kinder zur Feier meines Geburtstages lauter dumme Streiche machen,« lachte er und ich ebenfalls.

Der hübsche Erzieher, Herr Forst, ging mit uns in den Garten, setzte sich auf die grüne Bank, legte ein Bein über das andere, stellte den Spazierstock mit Bronzeknopf dazwischen und zündete sich eine Zigarre an.

Herr Forst war ein Deutscher, aber ganz anderen Schlages als Karl Iwanowitsch. Erstens sprach er gut Russisch, und mit schlechter deutscher Aussprache aber ziemlich richtig Französisch und stand im Ruf eines sehr gelehrten Herrn; zweitens war er hübsch gewachsen, trug einen blonden Schnurrbart, elegante Kleidung, eine große Rubinbusennadel und hellblaues Beinkleid mit Strippen. Überhaupt war er der sehr seltene und komische Typ eines jungen deutschen Elegants in Rußland. Man konnte merken, daß er in Gegenwart weiblicher Personen stets sehr viel Wert auf die Wirkung legte, die er auf sie ausübte; als anziehendstes Mittel in dieser Hinsicht erschienen ihm seine Waden und Schenkel, die er bei jeder Gelegenheit in Aktion setzte und an die sichtbarste Stelle brachte.

Sobald wir im Garten angelangt waren, begann das Rennen, Toben, Geschrei, die verschiedenen Spiele, die kaum erdacht sofort wieder verworfen wurden; es war herrlich. Ich war durch das Spiel und das beständige verliebte Beobachten Serjoschas so in Anspruch genommen, daß ich mich der Einzelheiten dieser Stunden nicht mehr genau erinnere. Ich weiß nur noch, daß Serjoscha einmal stolperte und in vollem Lauf mit dem Knie so heftig gegen einen Baum schlug, daß ich glaubte, das ganze Knie würde zerschmettert. Obgleich ich Gendarm und er Räuber war, konnte ich mich nicht halten, hinzulaufen und ihn zu fragen, ob er sich weh getan hätte. Er war darüber schrecklich wütend, ballte die Fäuste, stampfte mit dem Fuß auf und schrie mich mit einer Stimme, aus der man die schrecklichen Schmerzen deutlich heraushören konnte, an: »Was soll denn das? Jetzt spiele ich aber ganz sicher nicht mehr mit! Weshalb fängst du mich nicht, fängst mich nicht!« wiederholte er noch einmal, nach Wolodja und dem älteren Iwin schielend, die auf dem Weg hin und her hüpften und Reisende vorstellten. Dann kreischte er plötzlich auf und stürmte lachend hin, um sie zu fangen. Ich kann nicht sagen, wie dieser Heldenmut mich anzog; trotz der schrecklichen Schmerzen verzog Serjoscha keine Miene und vergaß keinen Augenblick das Spiel.

Vor dem Essen gesellte sich im Garten noch der kleine Grap zu uns.

Das war der Sohn eines armen Ausländers, der früher bei Großvater gelebt hatte und ihm für irgend etwas Dank schuldig war. Der kleine Grap war dreizehn Jahre alt, groß, mager, blaß, mit einem Vogelgesicht und sehr ärmlich gekleidet, dafür aber so stark pomadisiert, daß wir versicherten, an heißen Tagen schmölze die Pomade auf seinem Kopf und liefe die Jacke hinunter. Er trug ein dunkelgrünes Jackett mit einem riesigen Umlegekragen, der an ein Bettlaken erinnerte. Schwarze Höschen, aus denen er längst herausgewachsen war, bedeckten seine ungeputzten rauhen Stiefelschäfte und umspannten die dünnen Beinchen.

Der kleine Grap war ein dienstfertiger, stiller, guter Junge, mit dem man nur Mitleid haben konnte. Damals erschien er mir aber lächerlich, dumm und verachtungswürdig. Ich war fest überzeugt, daß nichts dabei sei, den armen Grap auszulachen, anzuspucken und sogar zu verprügeln; dazu war er ja geboren, um als Zielscheibe für unsere Frechheiten zu dienen. Nie kam mir in den Sinn, ihn zu bedauern.

Beim Mittagessen passierte nichts Besonderes, nur teilte Großmutter uns mit, daß abends viel Besuch kommen würde – Damen, Musik, mit einem Worte: ein Ball.

Nach dem Essen war bis zur Ankunft der Gäste noch viel Zeit übrig, die wir möglichst gut auszunützen suchten: wir gingen nach oben und überboten uns gegenseitig in Kraft- und gymnastischen Übungen. Der kleine Grap schaute unseren Vorführungen mit blödem Lächeln zu, und als wir ihn aufforderten, doch auch etwas zu zeigen, lehnte er mit den Worten ab, er hätte keine Kräfte. Serjoscha zog die Jacke aus; sein Gesicht und die Augen glühten vor Erregung; er lachte ununterbrochen, ersann stets neue Scherze und war so lieb, daß man ihm unmöglich widerstehen konnte, vielmehr all seinen Streichen nachgeben mußte. Jetzt überlegte er einen Augenblick, blinzelte mit den Augen, schnalzte dann mit den Fingern und lief zum Bücherbord.

»Halt, meine Herrschaften, jetzt weiß ich was;« er nahm die beiden Lexika von Tatischtschew vom Bord und legte sie mitten ins Zimmer.

»Also, Leute,« er krempte seine Hemdärmel auf und maß uns alle mit einem kühnen Blick, »wer kann hierauf kopfstehen?« Und dabei führte er das Kunststück so schnell und geschickt aus, daß alle ihm Beifall zollten.

»Also, wer macht das?« fuhr er fort und wandte sich plötzlich an Grap. »Sie, Sascha?« meinte er ironisch und blinzelte uns dabei zu. »Wirklich, es ist gar nicht schwer, versuchen Sie nur.«

Grap weigerte sich schüchtern und wurde rot, als er die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich gerichtet sah.

»Nein, wirklich, warum will er gar nichts zeigen? Dieses Mädchen! Er muß unbedingt kopfstehen, unbedingt!«

Wir waren Feuer und Flamme für Serjoschas Einfall, traten auf den kleinen Grap zu, der sichtlich erschrak und blaß wurde und schrien: »Er muß auf den Kopf, auf den Kopf!« Dabei packten wir ihn an den Armen und zogen ihn zu den Wörterbüchern.

»Laßt mich, ich will selbst! Ihr zerreißt mir die Jacke!« schrie das unglückliche Opfer. Aber dieses Geschrei begeisterte uns nur noch mehr; wir vergingen vor Lachen; die graue Jacke krachte in allen Nähten. Wolodja und der ältere Iwin faßten ihn am Kopf und stellten diesen auf die Lexika. Sobald sie sagten: »los!« packten ich und Serjoscha den armen Jungen an den dünnen Beinen, mit denen er unbarmherzig strampelte, schoben die Hosen bis an die Knie in die Höhe und streckten die Beine mit lautem Gelächter aufwärts; der jüngere Iwin hielt den ganzen Rumpf im Gleichgewicht.

Dann, nach diesem lauten Gelächter verstummten wir plötzlich alle, und es wurde so still im Zimmer, daß man nur den schweren Atem des unglücklichen Grap hörte. Mir wurde recht unbehaglich zumute und ich wußte nicht recht, ob das alles wirklich komisch und lustig sei.

Serjoscha beugte sich über die Lexika und fragte in spöttischem Ton: »Das magst du wohl, mein Junge, was?«

»Weshalb quält ihr mich, was habe ich euch getan?« schrie Sascha plötzlich und schluchzte laut. Im selben Augenblick schlug er aus und traf mit dem Hacken Serjoschas Auge.

»Ach, dummer Heulfritze!« rief Serjoscha, die Zähne zusammenbeißend, bedeckte das Auge mit der Hand und stieß mit dem Fuß ein Wörterbuch unter Graps Kopf fort.

»Ihr seid gemeine Tyrannen!« brachte Grap schluchzend heraus und stieß mit dem Kopf auf den Fußboden.

Sobald wir merkten, daß nichts Lächerliches mehr dabei war, ließen wir ihn gleichzeitig los. Er schlug lang auf den Boden, die dünnen Beine klapperten wie Stelzen, er griff nach dem Hals, der beim Fall verrenkt war, stöhnte und weinte und rührte sich nicht.

Diese weinende lächerliche Gestalt mit bloßen Beinen und schmutzigen Stiefelschäften machte uns betroffen; wir schwiegen plötzlich und lächelten gezwungen.

»Altes Weib, Schwachmops!« Serjoscha trat an ihn heran, »versteht nicht einmal Spaß! … Na, nu steh auf,« er berührte ihn mit dem Fuß.

»Ich sage dir, du bist ein frecher, ganz gemeiner Bengel!« preßte Grap wütend durch die Zähne und wandte sich ab.

»Was denn?! Erst schlägt er einen mit dem Hacken ins Auge und dann schimpft er noch!« schrie Serjoscha, nach einem Wörterbuch greifend. »Da hast du eins! und noch eins!« Er schlug den armen Jungen aus Leibeskräften mit dem Buch auf den Kopf. Grap dachte nicht daran, sich zu verteidigen, weil er wußte, daß niemand für ihn eintreten würde. »Mag sich zum Teufel scheren, wenn er keinen Scherz versteht; kommt nach unten, Leute,« meinte Serjoscha mit unnatürlichem Lächeln.

Trotz des bedeutenden Einflusses, den Serjoscha auf mich ausübte, konnte ich beim Anblick des armen Jungen, der auf der Erde lag und, das Gesicht im Wörterbuch, dermaßen weinte, daß es aussah, als würde er an den Krämpfen sterben, die seinen Körper durchzuckten – konnte ich nicht anders, als Serjoscha vorwurfsvoll sagen: »Warum hast du das getan?«

»Das ist aber wirklich nett; kaum rührt man ihn an, so brüllt er schon los. Hab ich vielleicht geweint, als ich mir heute das Knie zerschlagen habe?!«

 

Das ist richtig, dachte ich. Wozu ihn bedauern! Alter Waschlappen! Serjoscha dagegen, das ist ein Junge! – Und ich dachte nicht mehr an den armen Grap.

Ich wußte nicht, daß der Ärmste sicherlich nicht so sehr wegen der körperlichen Schmerzen als wegen der Kränkung, bei dem schrecklichen Gedanken geweint hatte, daß fünf Knaben, die ihm vielleicht gefielen, ihn ohne jeden Grund haßten und verprügelten. Damals verstand ich die ganze Grausamkeit und Unmenschlichkeit unseres Benehmens nicht; jetzt verstehe ich sie wohl, kann sie mir aber nicht erklären.

Ich glaube, Serjoscha war infolge eines falschen Ehrbegriffes so grausam, indem er seine Tapferkeit zeigen wollte; ich dagegen, weil es über meine Kräfte ging, ihm nicht alles nachzumachen. Der Hauptgrund war aber wohl folgender: Eine Eigentümlichkeit des Kindercharakters besteht darin, alle Begriffe zu verallgemeinern, sie auf eine gemeinsame Grundlage zurückzuführen. Dieses Bestreben rührt von der mangelhaften Entwicklung der geistigen Fähigkeiten her.

Ein Kind kann sich nicht vorstellen, daß etwas einerseits gut und anderseits schlecht sein kann. Die Eigenschaft eines Gegenstandes, die ihm zuerst auffällt, hält das Kind für das Wesen des Ganzen. Im Verkehr mit Menschen bildet sich ein Kind sein Urteil nach dem ersten äußeren Eindruck. Übt ein Gesicht auf das Kind einen lächerlichen Eindruck aus, so denkt es nicht an die guten Eigenschaften, die neben dieser lächerlichen Seite vorhanden sein können – es hat sich bereits einen ungünstigen Begriff von den Gesamteigenschaften gebildet.

Dasselbe war mit mir in bezug auf den armen Grap der Fall. War er so lächerlich, so war er sicher ein schlechter Junge; war er aber ein schlechter Junge, so lohnte es sich nicht, darüber nachzudenken, ob er sich wohl fühlte oder nicht; folglich konnte man mit ihm machen was man wollte.

Wenn diese Reflexion mich auch nicht rechtfertigt, so mag sie doch als Beweis dafür dienen, daß ich meine Handlungsweise bereue und sie jetzt gern rechtfertigen möchte.