Za darmo

Kindheit

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Ich träumte noch manches von Sachsen, vom Generalsrang und von Mama, die mich, weil ich General wäre und bei ihr bliebe, am meisten liebhaben würde; aber all diese Träume sind schwer wiederzugeben, nicht weil sie zu töricht, sondern weil sie zu schön waren.

Da lief schon der Haushofmeister Foka mit einer Serviette unterm Arm in den Garten, um zu melden, daß angerichtet sei. Wie war er komisch in seinem langen Rock und der weißen Weste, und wie glänzte seine kahle Platte im Sonnenschein.

Gott sei Dank, da kam jemand, um auch uns zu rufen; man hörte Schritte auf der Treppe. Ich kannte alle Hausbewohner am Gang und an dem Knarren der Stiefel; aber die Schritte, die sich jetzt näherten, waren mir unbekannt, weshalb ich neugierig auf die Tür blickte.

Die Tür öffnete sich und es erschien eine mir ganz fremde Gestalt.

6. Der Narr

Ins Zimmer trat ein Mann, dem Äußeren nach etwa fünfzig Jahre alt, mit blassem, länglichem, von Pockennarben durchfurchtem Gesicht, halb grauem Haar und einem kleinen, dünnen Bärtchen. Er war so groß, daß er nicht nur den Kopf, sondern den ganzen Oberkörper bücken mußte, um die Tür zu passieren. Auf einem Auge blind, trug er halb bäurische, halb priesterliche Kleidung und hielt in der Hand einen riesigen Stab, mit dem er beim Eintritt ins Zimmer aus Leibeskräften auf den Fußboden stieß.

»Ach Vögelchen, Vögelchen! Das Weibchen härmt sich und weint, das liebe; aber die Jungen sind flügge, wollen aus dem Nest. Wird das Weibchen seine Jungen nicht wiedersehen. O weh! O weh!« schluchzte er und wischte sich richtige Tränen mit dem Rockärmel ab.

Seine Stimme klang rauh und heiser; die Bewegungen waren ungleichmäßig und seltsam; seine Rede unzusammenhängend und sinnlos; der Tonfall aber so rührend und das gelbe Gesicht so aufrichtig traurig, daß man sich bei seinem Anblick und dem Anhören eines sonderbaren, aus Mitleid, Furcht und Traurigkeit zusammengesetzten Gefühls nicht erwehren konnte. Er gebrauchte keine Fürwörter; dadurch bekamen seine einfachsten Bemerkungen einen rätselhaften, geheimnisvollen Sinn.

Das war der Narr Grischa. Er kam zur Großmutter und hatte Mama schon als kleines Kind bei ihr gesehen; er hatte sie sehr liebgewonnen und kam nun, nachdem er sie hier entdeckt, um sich über ihre »Jungen« zu freuen, so nannte er uns Kinder.

»Ah, ah!« schrie er plötzlich Karl Iwanowitsch an, der in diesem Augenblick seine blauen, gestrickten Hosenträger anlegte, die ihm in jungen Jahren eine Generalin verehrt hatte. »Du Narr, du Schaf … ziehst Hosenträger an, du Schaf!« Er riß den Mund weit auf und lachte laut.

Karl Iwanowitsch war in einer peinlichen Lage. Er wollte den Verrückten nicht anfahren; und doch war es ihm schmerzlich, in unserer Gegenwart seine Autorität untergraben zu sehen.

»Das fehlte noch,« sagte er, »geht hinunter, für euch ist hier kein Platz.«

Karl Iwanowitsch sagte das mit solchen Fehlern, und die ganze Szene war so komisch, daß wir fast losgeplatzt wären. (Wenn ich seine Worte anführe, verdrehe ich das Russische nicht, weil solche Verdrehungen mich mehr an gewöhnliche Erzählungen erinnern, die ich nicht ausführen kann, als an Karl Iwanowitsch.)

Endlich erschien der sehnlichst erwartete, pünktliche Foka, sagte: »Das Essen ist fertig«, und wir gingen nach unten. Grischa folgte uns, mit seinem Stock auf die Treppenstufen aufstoßend und allen möglichen Unsinn schwatzend.

Als wir eintraten, waren schon alle im Gastzimmer versammelt. Papa und Mama gingen Arm in Arm auf und ab und unterhielten sich leise über etwas. Maria Iwanowna saß auf einem genau rechtwinklig zum Sofa stehenden Sessel; neben ihr saß auf der einen Seite Ljubotschka, die bei unserem Anblick sofort aufsprang und uns entgegenlief, auf der anderen Katja, die gern dasselbe getan hätte, wenn es mit Mimis Anstandsregeln vereinbar gewesen wäre. So aber mußten wir erst zu ihr gehen und sagen »Bon jour, Mimi« und dann … – nein, ich weiß wirklich nicht, ob ich Katja küßte oder nicht. Ich weiß nur, daß Mimi mir bei allem hinderlich und im Wege war. In ihrer Gegenwart sprach ich niemals herzlich mit der reizenden, blonden, sauberen Katja.

Ach, wie hat diese unerträgliche Mimi mein kindliches Leben vergällt! Man brauchte nur etwas zu sagen, so begann sie auch schon mit ihrem Korrigieren und sah bald Papa, bald Mama an, um zu zeigen, daß sie auf dem Posten sei …

»Parlez donc français«, wenn man ihr zum Tort gerade gern russisch geplaudert hätte. Oder wenn einem bei Tisch etwas besonders schmeckte und man nicht gestört sein wollte, hieß es sicherlich: »Mangez donc avec du pain« oder »comment est ce que vous tenez votre fourchette?« Ach, wie war sie unerträglich! Und was ging ich sie an! Mochte sie doch ihre Mädchen unterrichten, wir hatten ja Karl Iwanowitsch dazu! Bisweilen teilte ich durchaus seinen Haß gegen »gewisse« Leute.

Ins Eßzimmer gingen die Großen vorauf, wir Kinder hinterher, was uns Gelegenheit bot, ein paar angenehme Worte zu wechseln – angenehm nur, weil man sie in Gegenwart der anderen nicht sagen konnte.

»Geht Papa auf die Jagd?«

»Ja.«

»Nimmt er euch mit?«

»Ja, zu Pferde. Und ihr?«

»Ich weiß nicht,« erwiderte Katja mit weinerlichem Gesicht.

»Das geht nicht … Aber wollen sehen.«

Man setzte sich zu Tisch. Die Suppe wurde gebracht. Grischa deklamierte von seinem Nebentisch aus, die Worte durch Schluchzen und jämmerliche Grimassen unterbrechend: »Vögelchen, Vögelchen, auf dem Grabe steht ein Stein; im Herzen ein Nagel; Taube flieg in den Himmel« usw.

Mama war seit heute morgen verstimmt. Grischas Gegenwart und Bemerkungen verstärkten diesen Zustand; obgleich sie es nicht zugab, waren Pilger und Narren ihre Schwäche. Im Grunde ihres Herzens verehrte sie Grischa und glaubte wahrscheinlich an seine Fähigkeit, die Zukunft vorauszusagen.

»Ach ja, ich habe vergessen, dich um etwas zu bitten,« sagte sie, dem Vater einen Teller mit Suppe hinreichend.

»Was denn, mein Liebling?« fragte Papa lebhaft.

»Laß, bitte, deine schrecklichen Hunde einsperren. Sie hätten den armen Grischa beinahe zerrissen, als er den Hof betrat. Ebensogut können sie sich auf die Kinder stürzen.«

Als Grischa hörte, daß von ihm die Rede war, wandte er sich zu unserem Tisch herum und zeigte kauend seine zerrissenen Rockschöße.

»Hat gehetzt … Hunde gehetzt. Sünde, große Sünde. Schlag ihn nicht Großer (so nannte er Papa). … Weshalb schlagen? Gott vergibt. Zeit ist nicht danach.«

Papa blickte ihn unverwandt und strenge an, wandte sich dann an Mama und fragte: »Was spricht er? Übersetz es mir bitte, sonst verstehe ich nichts. Vous seule avez le don de le comprendre.«

»Ich verstehe ihn,« meinte Mama lächelnd, »er erzählt, ein Jäger hätte absichtlich die Hunde auf ihn losgelassen; nun glaubt er, du würdest den Jäger dafür bestrafen und bittet, ihm zu verzeihen.«

»Ach so!« meinte Papa. »Woher weiß er denn, daß ich den Jäger bestrafen will? Vielleicht habe ich gar nicht die Absicht,« fuhr er französisch fort. »Du weißt, ich bin überhaupt kein Freund solcher Leute, aber dieser hier mißfällt mir besonders, muß ein abgefeimter Spitzbube sein.«

»Ach, sag das nicht!« unterbrach ihn Mama fast erschrocken. »Wie kannst du das wissen?«

»Nun, ich hatte, glaube ich, genügend Gelegenheit, diese Art Leute kennen zu lernen. Es kommen ja genug zu dir, alle vom selben Schlage und stets ein und dieselbe Geschichte: unbedingt vornehme Herkunft, tragen irgendein Kreuz und Leiden, nach denen niemand sie fragt. All diese Frömmelei und Scheinheiligkeit zielt nur darauf ab, leichtgläubige und schwachnervige Damen zu finden, die ihnen die dreckigen Hände küssen, sie für Propheten halten und ihnen Geld geben. All diese unverstandenen Heiligen pilgern nicht aus Liebe zu Gott, wie sie sagen, sondern aus Faulheit und gewohntem Müßiggang.«

Man sah, daß Mama in dieser Hinsicht ihre bestimmte Überzeugung hatte und nicht streiten wollte, deshalb fragte sie, um das Gespräch auf ein anderes Thema zu lenken, ob die Pasteten gut seien und bat, ihr eine zu reichen.

Papa dagegen wollte streiten; er nahm eine Pastete, hielt sie so weit, daß Mama sie nicht erreichen konnte, und fuhr erregt fort: »Nein, mich ärgert –« dabei schlug er mit der Gabel auf den Tisch, »wenn ich sehe, wie vernünftige und gebildete Leute donnent dans le panneau und an sie glauben wie an Heilige.«

»Gib mir doch die Pastete,« sagte Mama, etwas ungeduldig die Hand ausstreckend.

»Und man tut ganz recht,« Papa zog seine Hand noch weiter zurück, »diese Gesellschaft einzusperren. Der einzige Nutzen, den sie bringen, besteht darin, daß sie die ohnehin schwachen Nerven gewisser Personen ruinieren,« fügte er lächelnd hinzu, da er bemerkte, daß dieses Thema Mama mißfiel. Gleichzeitig reichte er ihr die Pastete.

»Ich will dir darauf nur eins erwidern,« sagte Mama. »Es fällt schwer zu glauben, daß ein Mensch, der trotz seiner sechzig Jahre beständig, Winter und Sommer, barfuß geht; der unter dem Anzug zwei Pud schwere Ketten trägt, die er nie ablegt, und der mehr als einmal das Anerbieten Mamas, bei ihr zu bleiben, abgelehnt hat (das weiß ich bestimmt) – daß ein solcher Mensch das alles aus Faulheit tun sollte. Was die Prophezeiungen anlangt,« fuhr sie nach kurzem Schweigen mit einem Seufzer fort – »je suis payée pour y croire: ich habe dir erzählt, wie Kiriuscha meinem Vater Tag und Stunde seines Endes vorausgesagt hat.«

»Ach, mein Gott, was richtest du da an!« sagte Papa, nach Mimis Seite die Hand an den Mund legend. (Wenn er diese Bewegung machte, horchte ich stets mit größter Aufmerksamkeit in Erwartung von etwas Komischem.) »Warum hast du mich an seine Beine erinnert? Jetzt kann ich nicht weiteressen.«

Das Mittagessen ging zu Ende. Ljubotschka und Katja zwinkerten mir beständig, bald in Mamas bald in Mimis Richtung zu. Dieses Zeichen bedeutete: jetzt ist Zeit zum Bitten; solch günstige Gelegenheit bietet sich sobald nicht wieder; jetzt alle zusammen. Ich stieß Wolodja an, und der faßte sich ein Herz; anfangs schüchtern, dann ziemlich bestimmt und laut sagte er: »Da wir heute fahren sollen, möchten wir gern, daß die Mädchen mit auf die Jagd kämen.« Mama sagte, sie führe selbst mit, und zur allgemeinen Freude wurde es erlaubt.

 

Wie schrecklich war es manchmal, mit Bitten anzufangen! Dabei schien gar nichts zu fürchten – alle waren so gut! Hatte man aber einmal angefangen, so wußte man nicht, woher auf einmal alle die Dreistigkeit kam. Selbst wenn nicht erlaubt wurde, um was man bat, stritt man bisweilen dagegen an und suchte zu beweisen, daß es eine Ungerechtigkeit sei.

Diese Schwäche, das heißt, daß mir der erste Schritt so schwer wurde, habe ich nicht nur in der Kindheit, sondern auch in reiferen Jahren an mir bemerkt. Was sage ich: diese! Nein, alle Schwächen der Kindheit sind dieselben geblieben. Der Unterschied ist nur der, daß sie andere Formen angenommen haben.

7. Vorbereitungen zur Jagd

Während des Nachtisches wurde Jakob gerufen und ihm wegen der Hunde, des Jagdwagens und der Reitpferde Befehle erteilt, alles in größter Ausführlichkeit unter Nennung jedes einzelnen Pferdes. Wolodjas Pferd lahmte, deswegen ließ Papa ihm ein Jagdpferd satteln.

Dieses Wort »Jagdpferd« klang Mamas Ohren etwas befremdlich; sie stellte sich darunter einen feurigen Renner vor, der sicher durchgehen und Wolodja ums Leben bringen würde. Trotz Papas und Wolodjas Versicherungen, der mit jugendlichem Eifer beteuerte, daß das nichts zu bedeuten hätte und daß er es gern sähe, wenn das Pferd durchginge, wiederholte die arme Mama immerfort, sie würde während der ganzen Jagd keine Ruhe haben.

Das Essen war zu Ende; die Großen gingen ins Arbeitszimmer, um Kaffee zu trinken, während wir in den Garten liefen und mit den Füßen auf den mit gelben Blättern bedeckten Wegen schurrten. Diese Beschäftigung machte mir damals großes Vergnügen.

Wir unterhielten uns darüber, daß Wolodja ein Jagdpferd reiten würde; daß Ljubotschka sich schämen müsse, weil sie nicht so schnell laufen könnte wie Katja, und wie interessant es sein müsse, Grischas Ketten zu sehen und sein Beten zu hören; – darüber, daß wir uns trennen mußten, fiel kein Wort.

Wir sprachen lange über die verschiedensten Dinge; unsere Unterhaltung wurde erst durch das Rollen des Jagdwagens unterbrochen, auf welchem hinten an jeder Feder ein Bauernjunge hockte. Hinter dem Wagen ritten die Jäger mit den Hunden, und dann folgte der Kutscher Parthenius auf Wolodjas Pferd, das meinige am Zügel führend. Sofort stürzten wir sämtlich zum Zaun, von wo aus all diese Dinge zu sehen waren.

Als der ganze Zug hinter der Hausecke verschwunden war, liefen wir mit schrecklichem Gepolter und Geschrei nach oben, um uns anzuziehen, und zwar möglichst »weidgerecht«. Das Wichtigste dabei war, die Hosen in die Stiefel zu stecken. Unverzüglich ging es ans Werk, um schnell fertig zu werden, auf die Treppe laufen, die Hunde sehen, Pferde riechen und mit den Jägern plaudern zu können.

Der Geruchssinn muß sich mit den Jahren bei mir völlig geändert haben. Wie wäre es sonst zu erklären, daß, soviel Pferde ich jetzt auch rieche, dieser Geruch nicht im geringsten die Bedeutung und den Reiz mehr für mich hat wie in der Kindheit.

8. Die Jagd

Es war ein heißer Tag; weiße, wunderbar geformte Wölkchen zeigten sich seit dem Morgen am Horizont; dann trieb ein leichter Wind sie näher und näher, so daß sie bisweilen für kurze Zeit die Sonne bedeckten. So zahlreich sie auch gegen Abend am Himmel entlang zogen, war es ihnen doch nicht bestimmt, sich zum Gewitter zusammenzuziehen und zum letztenmal unser Vergnügen zu stören. Sie begannen sich wieder zu zerteilen; nur im Osten hing eine große graue Wolke; die anderen wurden blasser, zogen sich in die Länge und eilten am Horizont hin; über dem Kopf aber verwandelten sie sich in weiße durchsichtige Schäfchen. Regen war nicht zu erwarten; selbst Karl Iwanowitsch, der stets wußte, wohin jede Wolke zog, erklärte, das Wetter bliebe gut.

Foka kam trotz seines vorgerückten Alters schnell und gewandt die Treppe heruntergelaufen, schrie: »vorfahren!« und faßte mitten in der Einfahrt, zwischen der Stelle, wo der Kutscher Iwan mit dem Jagdwagen erscheinen sollte und der Schwelle Posto in der Haltung eines Mannes, den man nicht an seine Pflicht zu erinnern braucht. Die Damen erschienen, und nach einigen Erörterungen darüber, auf welcher Seite jede sitzen und an wem sie sich festhalten sollte (obwohl das, meiner Meinung nach, überhaupt nicht nötig war), stiegen sie auf, spannten die Schirme auf und fuhren fort. Als der Jagdwagen sich in Bewegung setzte, deutete Mama ängstlich auf das »Jagdpferd« und fragte Iwan mit zitternder Stimme: »Ist das Wolodjas Pferd?«

Und als jener bejahend antwortete, machte sie nur noch eine Handbewegung und wandte sich ab. (Der Wagen mußte einen Umweg machen und fuhr deswegen vorauf.)

Sehr ungeduldig bestieg ich meinen Klepper und führte mit Hilfe der Reitpeitsche verschiedene Evolutionen auf dem Hofe aus, sorgfältig den umherliegenden Hunden ausweichend, um dem ewigen Vorwurf der Jäger zu entgehen: »Herr, seien Sie so gut, überreiten Sie die Hunde nicht!« Diese Bemerkung ärgerte mich sehr – als ob ich das nicht wüßte!

Wolodja schwang sich, trotz seines festen Charakters nicht ohne leises Zittern auf das Jagdpferd. Auf dem Tier aber machte er sich sehr gut, wie ein Erwachsener. Besonders lagen seine Schenkel so gut auf dem Sattel, daß ich ihn beneidete, weil ich, nach dem Schatten zu urteilen, bei weitem keine so gute Figur abgab.

Jetzt ertönten Papas Schritte auf der Treppe. Der Hundewärter trieb die Jagdhunde zurück, die sich losrissen; die Jäger riefen ihre Windhunde und saßen auf. Der Reitknecht führte das Pferd an die Treppe; die Hunde von Papas Meute, die bis dahin in malerischen Stellungen sein Pferd umlagert und umstanden hatten, stürzten auf ihn zu. Er trat auf die Treppe; hinter ihm kam lustig Milka mit dem Korallenhalsband voll Eisenstacheln. Sie begrüßte stets die anderen Hunde; einige knurrten sie an, mit anderen spielte sie, einigen wurden sogar die Flöhe abgesucht!

Papa bestieg sein Pferd, und wir ritten los. Der Pikör mit Beinamen »Türke« ritt vorauf, hinter ihm liefen in buntem Schwarm die zusammengekoppelten Jagdhunde. Es war ein kläglicher Anblick, wenn ein unglücklicher Hund sich einfallen ließ, stehenzubleiben, um irgendeinen interessanten Gegenstand zu beschnüffeln. Zuerst mußte er seine Gefährten zu sich herüberziehen, und dann ließ sich sicher einer der Hundewärter die Gelegenheit nicht entgehen, mit der Hetzpeitsche zuzuschlagen und zu schreien: »In die Koppel!«

Als wir auf das freie Feld kamen, verteilten sich die Jäger mit den Windhunden auf beide Seiten. Hier und da sah man so eine aus Mensch und Tieren bestehende Gruppe. Hübscher machten sich die Jäger zu Pferde, hinter denen die Hunde liefen – besonders wenn man ihnen Futter hinwarf. Dabei das Stoppelfeld oder Waldesgrün an dem sonnigen Tage – welch reizender Hintergrund für dieses Bild!

Die Ernte war in vollem Gange. Das unübersehbare glänzend gelbe Feld wurde nur auf einer Seite von einem bläulich schimmernden Hochwald begrenzt, der mir als die entfernteste geheimnisvollste Gegend vorkam, hinter welcher entweder die Welt ein Ende hatte oder unbewohnte Länder lagen. Das ganze Feld war mit Garben und Menschen bedeckt. In dem hohen dichten Roggen sah man hier und da auf dem gemähten Streifen den krummen Rücken einer Schnitterin; schwingende Ähren, wenn sie dieselben herüberwarf; ein Weib, das sich im Schatten über eine Wiege beugte, und zerstreute Garben auf dem mit Kornblumen besäten Stoppelfeld. Auf der anderen Seite luden Männer, in Hemd und Hose auf Wagen stehend, die Garben auf und wirbelten Staub über das trockene, heiße Feld. Der Aufseher in hohen Stiefeln und übergehängtem Rock, den Kerbstock in der Hand, hatte Papa schon von weitem bemerkt, nahm seinen Filzhut ab, wischte seinen roten Kopf und Bart mit einem Tuch ab und schrie die Weiber an. Der kleine Fuchs, den Papa ritt, ging spielend leicht, bisweilen den Kopf gegen die Brust werfend und die Zügel straff ziehend, oder mit dem dichten Schweif die Fliegen und Bremsen verscheuchend, die sich gierig an ihm festsetzten. Zwei Windhunde tänzelten mit sichelförmig nach oben gebogener Rute, die Beine hoch aufhebend, graziös über die hohen Stoppeln, hinter dem Pferde. Milka lief vorauf und erwartete mit erhobenem Kopf einen Leckerbissen. Die Stimmen der Menschen, der Lärm der Pferde und Wagen, das lustige Schlagen der Wachteln, das Gesumme der Insekten, die in unbeweglichen Schwärmen die Luft erfüllten, der Geruch von Wermut, Stroh und Pferdeschweiß, die tausend verschiedenen Farben und Schattierungen, die die sengende Sonne über das hellgelbe Stoppelfeld, die blaue Waldferne und die hellvioletten Wolken ergoß; die weißen Sommerfäden, die in der Luft schwebten, oder sich auf die Stoppeln legten – alles das sah, hörte und fühlte ich.

Beim Kalinowoer Wald angelangt, fanden wir den Jagdwagen schon vor, und wider Erwarten noch einen Einspänner, in dem der Küchenchef saß und einen Gegenstand in einer Serviette zwischen den Beinen hielt; aus dem Heu guckten ein Samowar und noch allerhand verlockende Dinge hervor. Kein Zweifel: das gab einen Teeabend im Freien mit Gefrorenem und Früchten. Bei diesem Anblick brachen wir in lauten Jubel aus, denn Tee im Freien, an einer Stelle, wo noch niemand getrunken, hielten wir für einen Hochgenuß.

Der Türke stieg vom Pferde und nahm Papas ausführliche Anordnungen entgegen: wie man sich verteilen und wo man herauskommen sollte (übrigens richtete er sich niemals nach diesen Befehlen, sondern handelte nach seinem Gutdünken), koppelte die Hunde los, legte gemächlich die Koppeln zusammen, bestieg sein Pferd und verschwand, leise pfeifend, hinter den jungen Birken. Die befreiten Jagdhunde bezeigten vor allen Dingen ihre Freude durch Schweifwedeln, schüttelten sich und verrichteten an unbekannt aus welchem Grunde ausgewählten Büschen das Werk und mehr als das, was Soldaten tun, wenn es heißt: »Austreten!« Dann machten sie sich mit lustigem Schweifwedeln schnüffelnd an die Arbeit.

»Hast du ein Taschentuch?« fragte Papa.

Ich zog es aus der Tasche und zeigte es ihm.

»Schön; bind den grauen Hund daran.«

»Giran?« fragte ich.

»Ja, und lauf den Weg entlang. Wenn du an die Lichtung kommst, bleib stehen. Und sieh zu, daß du nicht ohne Hasen zurückkommst.«

Ich schlang das Tuch um Girans Hals und stürmte Hals über Kopf an die bezeichnete Stelle. Papa lachte und rief mir nach: »Schnell schnell, du kommst zu spät!«

Giran blieb fortwährend stehen, spitzte die Ohren und horchte. Da meine Kräfte nicht reichten, ihn vorwärts zu ziehen, wählte ich eine List und schrie: »Faß ihn, faß ihn!« Dann konnte ich ihn wieder kaum halten und fiel mehrmals hin, bis ich meinen Platz erreichte.

Endlich ließ ich mich im Grase nieder, Giran neben mir, und wartete.

Meine Phantasie eilte der Wirklichkeit weit vorauf. Ich bildete mir ein, schon zwei Hasen gehetzt zu haben und war jetzt mit einem Fuchs beschäftigt – da gab zuerst ein Jagdhund Laut. Bei diesem Geräusch erstarrte ich auf der Stelle. Die Augen in die Weite gerichtet, lächelte ich sinnlos. Mir war, als ob dieser Augenblick über mein ganzes Leben entschiede. Der Schweiß floß in Strömen; die Tropfen rannen das Kinn entlang und kitzelten – ich wischte sie nicht ab. Diese Spannung war so unnatürlich, daß sie nicht lange dauern konnte. Die Hunde hetzten, kein Hase war zu sehen. Ich schaute nach rechts und links.

Mit Giran war genau dasselbe der Fall. Anfangs wollte er sich losreißen und winselte sogar; dann streckte er sich neben mir aus, legte die Schnauze auf meine Knie und beruhigte sich.

Rechts neben mir war ein Ameisenhaufen; in seiner Nähe schleppte eine Ameise einen riesigen Strohhalm, und obgleich dieser unaufhörlich an den Unebenheiten des Weges hängenblieb, bewegte sie ihn doch, bald an dieser, bald an jener Seite zerrend, zwar langsam aber beständig näher an den Haufen heran. Ich legte den Kopf in die Hand und sah mit großer Aufmerksamkeit zu.

Ein weißer Schmetterling mit gelben Flügelspitzen schwebte über einer wilden Kleeblüte und ließ sich darauf nieder. Ich weiß nicht, ob er den Saft aus der Blüte sog oder sich in der Sonne wärmte – jedenfalls mußte es ihm dort sehr gut gefallen. Er bewegte bisweilen die Flügel und blieb dann unbeweglich sitzen.

Plötzlich heulte Giran auf und stürmte mit solcher Kraft vorwärts, daß ich fast hingefallen wäre. Ich sah mich um und erblickte am Waldsaum einen Hasen, der, den einen Löffel angedrückt und den anderen gespitzt, leicht im hohen Grase dahinsprang. Im selben Moment vergaß ich alles, sogar Papas Rat, an mich zu halten; ich ließ den Hund los und schrie unnatürlich auf. Aber kaum war das geschehen, so überkam mich Reue: der Hase duckte sich, machte einen Satz und ward nicht mehr gesehen.

 

Wie groß war aber meine Scham, als hinter den Jagdhunden, die laut bellend am Waldrande hervorbrachen, der Türke erschien. Er sah sofort, was ich angerichtet hatte und sagte nur: »Ach Herr!« Aber wie er das sagte! Mir wäre leichter gewesen, wenn er mir wie einem Hasen die Läufe abgeschnitten und mich an den Sattel gehängt hätte.

Lange stand ich verzweifelt auf demselben Fleck, rief nicht einmal die Hunde, sondern schrie nur fortwährend mit ausdrucksvollen Gebärden: »Mein Gott, was habe ich getan!«

Ich hörte, wie die Hunde weiterjagten, wie auf der anderen Seite der Insel gehetzt wurde, wie man den Hasen zurückjagte und wie der Wärter die Hunde abrief. Ich rührte mich nicht von der Stelle.