Auferstehung

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Vierundzwanzigstes Kapitel.

Die Vermuthungen des Pjotr Gerassimowitsch waren richtig.

Als der Präsident aus dem Beratungszimmer zurückkehrte, nahm er das Papier und las:

»Im Jahre 188 . am 28. April, hat auf Befehl Sr. Majestät des Kaisers das Bezirksgericht zu N. in der Kriminalabteilung, kraft der Entscheidung der Herren Geschworenen, auf Grund des § 3 des Artikels 771, des § 3 des Artikels 776 und des Artikels 777 der Kriminalprozeßordnung erkannt:

den Bauer Simon Kartinkin drei und dreißig Jahre alt, und die Kleinbürgerin Jekaterina Maslowa, sieben und zwanzig Jahre alt, nach Entziehung aller bürgerlichen Rechte in Zwangsarbeit zu verschicken, und zwar den Kartinkin auf acht Jahre, und die Maslowa auf vier Jahre, beide mit den Folgen nach Artikel 25 des Strafgesetzbuches;

die Kleinbürgerin Jewfimia Botschkowa, drei und vierzig Jahre alt, nach Entziehung aller persönlichen Rechte in Sonderheit und der bürgerlichen Rechte im Allgemeinen, ins Gefängnis einzuschließen für den Zeitraum von drei Jahren, mit den Folgen laut Artikel 48 des Strafgesetzbuches;

die Gerichtskosten für diesen Prozeß zu gleichen Teilen den Verurteilten aufzuerlegen, und im Falle der Zahlungsunfähigkeit auf Rechnung des Fiskus zu setzen;

die zum Prozeß gehörigen corpora delicti zu verkaufen, den Ring zurückzuerstatten, die Gläser zu vernichten.«

Kartinkin stand da, ebenso stramm die Hände mit den abstehenden Daumen an den Hosennähten, während seine Wangen zitterten. Die Botschkowa schien vollständig ruhig. Die Maslowa wurde purpurrot, als sie das Urteil vernahm.

»Ich bin unschuldig . . . unschuldig . . . « schrie sie plötzlich über den ganzen Saal hin. »Das ist Sünde. Ich bin unschuldig . . . Ich hatte es nicht gewollt, nicht daran gedacht . . . Ich sage die Wahrheit . . . die Wahrheit . . . « Und mit lautem Schluchzen ließ sie sich auf der Bank nieder.

Kartinkin und die Botschkowa waren schon hinausgegangen, während sie noch immer dasaß und weinte, sodaß der Gendarm sie am Ärmel des Schlafrockes berühren mußte.

»Nein, das darf man nicht so lassen«, sagte Nechljudow, der die unangenehme Empfindung gänzlich vergessen hatte, zu sich selbst. Und er eilte hinaus auf den Korridor, um sie nochmals zu sehen.

In der Thür drängte sich lebhaft ein Haufen von hinausgehenden Geschworenen und Advokaten, die froh über die Beendigung der Verhandlung waren. Nechljudow wurde einige Minuten auf gehalten. Als er auf den Korridor hinaustrat, war sie schon weit. Ohne an die Aufmerksamkeit, die er auf sich lenkte, zu denken, holte er sie ein, überholte sie und blieb dann stehen. Sie hatte schon aufgehört zu weinen und schluchzte nur noch stoßweise. Sie wischte sich das gerötete Gesicht mit dem Zipfel des Kopftuches und ging, ohne sich umzusehen, an ihm vorüber. Er ließ sie an sich vorbeigehen und kehrte dann schnell wieder um, um noch den Präsidenten zu sprechen. Aber der Präsident war schon weggegangen und Nechljudow holte ihn nur noch im Treppenhause ein.

Nechljudow trat an den Präsidenten heran, als er bereits seinen hellen Überzieher angezogen hatte und nach dem Stock mit dem silbernen Knauf griff, den ihm der Portier reichte.

»Herr Präsident«, sagte Nechljudow, »darf ich Sie einen Augenblick wegen der Sache sprechen, die soeben verhandelt wurde? Ich bin Geschworener . . . «

»Ah, jawohl, Fürst Nechljudow! Sehr an genehm, wir haben uns schon früher gesehen«, sagte der Präsident, ihm die Hand drückend, wobei er sich mit Vergnügen daran erinnerte, wie gut und lustig, besser als alle jungen Leute, er an dem Abend getanzt hatte, als er Nechljudow begegnete. »Womit kann ich Ihnen dienen?«

»Die Maslowa ist das Opfer eines Mißverständnisses geworden. Sie ist am Morde unschuldig und man hat sie dennoch zu Zwangsarbeit verurteilt«, sagte mit einem konzentrierten, finsteren Ausdruck Nechljudow.

»Das Gericht hat sein Urteil auf Grund der von Ihnen selbst gegebenen Antwort gefällt«, sagte der Präsident, während er sich der Ausgangsthür näherte, »obgleich die Antworten auch dem Gerichtshof nicht ganz der Sachlage entsprechend erschienen.«

Der Präsident erinnerte sich, wie er den Geschworenen hatte einschärfen wollen, daß ihre Antwort: »ja, schuldig«, wenn ihr nicht die Klausel von der Verneinung des vorsätzlichen Mordes bei gefügt würde, den vorsätzlichen Mord bestätigen müßte, und wie er in der Eile dieses unterlassen hatte.

»Ja, aber kann man denn den Fehler nicht wieder gut machen?«

»Eine Veranlassung zur Kassation wird sich immer finden. Sie müssen sich an die Advokaten wenden«, sagte der Präsident, indem er sich den Hut etwas schief aufsetzte und sich immer mehr dem Ausgang näherte.

»Aber das ist doch entsetzlich!«

»Ja, sehen Sie mal, der Maslowa stand nur eins von beiden bevor . . . « sagte der Präsident, der augenscheinlich Nechljudow gegenüber möglichst liebenswürdig und höflich sein wollte. Er nahm ihn leicht unter den Arm und fragte, indem er ihn zur Ausgangsthür lenkte: »Sie gehen doch auch?«

»Ia«, sagte Nechljudow. Er zog sich schnell an und folgte dem Präsidenten.

Sie traten an die helle, heitere Sonne hinaus und mußten sofort, wegen des Rasselns der Räder auf dem Pflaster, lauter sprechen.

»Ihre Lage war, wie Sie wohl die Güte haben zu sehen eine merkwürdige«, fuhr der Präsident fort. »Ihr, dieser Maslowa stand nur eins von beiden bevor: entweder fast eine Freisprechung, eine Gefängnishaft, bei welcher ihr das, was sie schon abgesessen hatte, angerechnet werden konnte, ja sogar nur Arrest, oder aber Zwangsarbeit. Eine Mitte giebt’s da nicht . . . Hätten Sie die Worte hinzugefügt: »aber ohne Absicht, den Tod herbeizuführen«, so wäre sie freigesprochen worden.«

»Ich hatte das ganz unverzeihlicher Weise über sehen«, sagte Nechljudow.

»Das ist eben die Sache«, sagte lächelnd der Präsident und sah nach der Uhr.

Es waren nur noch dreiviertel Stunden bis zum letzten Termin übrig, der ihm von Klara bestimmt worden war.

»Jetzt, wenn Sie wünschen, wenden Sie sich an einen Advokaten. Man muß eine Veranlassung zur Kassation finden. Die findet man immer . . . Nach der Dworjanskajastraße«, antwortete er dem Droschkenkutscher, »dreißig Kopeken, mehr zahle ich niemals . . . «

»Bitte schön, Exzellenz . . . «

»Ich habe die Ehre. Wenn ich mit etwas dienen kann — Haus Dwornikow auf der Dworjanskaja . . . Leicht zu behalten . . .

Und mit einem freundlichen Gruß fuhr er davon.

Fünfundzwanzigstes Kapitel.

Das Gespräch mit dem Präsidenten und die reine Luft hatten Nechljudow etwas beruhigt. Es schien ihm jetzt, als sei das von ihm empfundene Gefühl, infolge des ganzen, unter so ungewohnten Umständen verbrachten Morgens etwas übertrieben gewesen.

»Es ist natürlich ein sonderbares und frappantes Zusammentreffen! Und ich muß alles nur mögliche thun, um ihr Schicksal zu erleichtern . . .

Und zwar schnell, sofort . . . Ja, ich muß mich hier im Gericht erkundigen, wo Fanarin oder Mikischin wohnt.« Er erinnerte sich der Namen zweier berühmten Advokaten.

Nechljudow kehrte in das Gerichtsgebäude zurück, zog den Überzieher aus und ging nach oben. Aber schon im ersten Korridor stieß er auf Fanarin. Er hielt ihn auf und sagte, daß er ein Anliegen an ihn hätte. Fanarin kannte ihn von Ansehen und dem Namen nach, und sagte, daß er ihm mit Vergnügen zu Diensten stehe.

»Ich bin zwar müde . . . aber wenn es nicht lange dauert . . . sagen Sie mir Ihre Sache — Bitte, gehen wir hier herein.«

Und Fanarin führte den Fürsten in irgend ein Zimmer, wahrscheinlich das Kabinett eines Richters. Sie setzten sich an den Tisch.

»Nun, was haben Sie?«

»Vor allen Dingen möchte ich Sie bitten«, sagte Nechljudow, »daß niemand etwas davon erfährt, daß ich mich für diese Sache interessiere . . . «

»Das versteht sich von selbst. Also . . . «

»Ich war heute Geschworener, und wir haben eine Frau zur Zwangsarbeit verurteilt, — eine Unschuldige . . . Das quält mich.«

Nechljudow errötete, für sich selbst unerwartet, und blieb stecken. Fanarin warf auf ihn einen forschenden Blick, und senke dann wieder die Augen, um ihm zuzuhören.

»Nun . . . «, sagte er blos.

»Wir haben eine Unschuldige verurteilt und ich möchte nun das Urteil kassieren lassen, an eine höhere Instanz appellieren . . . «

»An den Senat«, korrigierte ihn Fanarin.

»Und ich bitte Sie also, das zu übernehmen.«

Nechljudow wollte möglichst schnell das Schwerste erledigen und sagte daher sofort:

»Das Honorar . . . Die Kosten dieses Prozesses übernehme ich, wie hoch sie auch sein mögen.« Und dabei errötete er wieder.

»Nun, das werden wir mit Ihnen vereinbaren«, antwortete der Advokat, über die Unerfahrenheit des Fürsten nachsichtig lächelnd.

»Worin besteht denn die Sache?«

Nechljudow erzählte.

»Gut, morgen lasse ich mir die Akten geben und werde dieselben durchsehen. Und übermorgen, nein, Donnerstag, fahren Sie bei mir vor, so um sechs Uhr nachmittags, dann erhalten Sie meine Antwort. Nicht wahr? Also gehen wir jetzt, ich muß hier noch einige Erkundigungen einziehen.«

Nechljudow verabschiedete sich und ging hinaus.

Das Gespräch mit dem Advokaten und der Umstand, daß er bereits Maßregeln zur Verteidigung der Maslowa ergriffen hatte, beruhigten ihn noch mehr. Er trat ins Freie. Das Wetter war schön, und er sog die Frühlingsluft freudig ein. Die Droschkenkutscher boten ihm ihre Dienste an, er ging jedoch zu Fuß. Und sofort erfüllte ihn ein’ ganzer Schwarm von Gedanken und Erinnerungen an Katjuscha und das an ihr begangene Verbrechen. Ihm wurde wieder trübe zu Mut, und alles erschien ihm finster.

 

»Nein, das will ich mir später überlegen«, sprach er zu sich selbst. »Jetzt aber muß man sich im Gegenteil von den schweren Eindrücken zerstreuen.«

Er dachte an das Mittagessen bei Kortschagins und sah nach der Uhr. Es war noch nicht spät, und er konnte noch zum Diner da sein. Ein Tramwaywagen fuhr klingelnd an ihm vorüber. Er lief dem Wagen nach und sprang hinein. Auf dem Platze sprang er wieder ab, nahm eine gute Droschke und hielt zehn Minuten später an der Auffahrt des großen Kortschaginschen Hauses.

Sechsundzwanzigstes Kapitel.

Ich bitte, Ew. Durchlaucht! Die Herrschaften erwarten . . . «, sagte der freundliche dicke Portier des fürstlichen Hauses, indem er die sich geräuschlos auf englischen Angeln bewegende Thür des Vestibuls öffnete. »Die Herrschaften speisen, nur Ew. Durchlaucht werden gebeten . . .

Der Portier trat an die Treppe und gab ein Glockenzeichen nach oben.

»Ist jemand da? fragte Nechljudow während er ablegte.

»Herr Kolossow und Michail Sergejewitsch, sonst nur die Unseligen«, antwortete der Portier.

Auf der Treppe zeigte sich ein bildschöner Lakai im Frack und weißen Handschuhen.

»Ew. Durchlaucht werden gebeten . . . « sagte er.

Nechljudow stieg die Treppe hinauf und ging durch den bekannten prächtigen und geräumigen Saal ins Speisezimmer. Am Tisch im Speisezimmer saß die ganze Familie, mit Ausnahme der Mutter, der Fürstin Sofja Wassiljewna, die niemals ihr Kabinett verließ. Oben am Tische saß der alte Kortschagin, links neben ihm der Arzt: an der anderen Seite der Freund des Hausherrn Iwan Iwanowitsch Kolossow, Gouvernements adelsmarschall a. D. und Direktor einer Bank, ein Mann von liberaler Gesinnung. Weiter links saßen Miß Reder, die Gouvernante der kleinen Schwester Missys und das vierjährige Mädchen selbst, ihnen gegenüber auf der rechten Seite Petja, der einzige Sohn Kortschagins, ein Tertianer, wegen dessen Klassenexamen die ganze Familie in der Stadt blieb, und ein Student, sein Repetitor. Links folgte dann Katerina Alexejewna, ein vierzigjähriges slavophilisch angehauchtes Fräulein, und ihr gegenüber auf der rechten Seite Michail Sergejewitsch oder einfach Mischa Telegin, Missys Vetter. Unten am Tische saß Missy selbst und neben ihr war ein unangerührtes Gedeck.

»Ah, das ist schön. Setzen Sie sich, wir sind erst beim Fisch«, sagte, angestrengt und vorsichtig mit den falschen Zähnen kauend, der alte Kortschagin, während er die blutunterlaufenen Augen mit den kaum sichtbaren Lidern zu Nechljudow erhob.

»Stepan«, wandte er sich mit vollem Munde, indem er mit den Augen auf das leere Gedeck wies, an den dicken pompösen Maître d’hotel.

Obgleich Nechljudow den alten Kortschagin gut kannte und ihn häufig auch bei Tische gesehen hatte, so berührten ihn heute doch ganz besonders unangenehm dieses rote Gesicht mit den sinnlichen Gourmandslippen über der hinter die Weste gesteckten Serviette, der feiste Hals und die ganze wohl gemästete militärische Generalsfigur des Fürsten.

Nechljudow erinnerte sich unwillkürlich dessen, was er von der Grausamkeit dieses Menschen wußte, der früher als Statthalter die Leute Gott weiß wozu — denn er war reich und angesehen und brauchte sich nicht hinaufzudienen — hatte peitschen und sogar hängen lassen.

»Den Augenblick wird serviert, Ew. Durchlaucht«, sagte Stepan, während er aus dem mit silbernen Vasen besetzten Buffett einen großen Vorlegelöffel holte und dem schönen Lakai mit dem Backenbart einen Wink gab. Der Lakai begann sofort das neben Missy befindliche Gedeck mit der kunstvoll gehaltenen gestärkten und wappengeschmückten Serviette zu ordnen.

Nechljudow ging um den ganzen Tisch herum und drückte allen die Hände. Alle außer dem alten Kortschagin und den Damen erhoben sich, wenn er an sie herantrat. Und diese Wanderung um den Tisch und das Händedrücken mit allen Anwesenden, mit deren Mehrzahl er nie gesprochen hatte, erschien ihm heute besonders unangenehm und lächerlich.

Er entschuldigte sich wegen der Verspätung und wollte sich auf den leeren Platz am Ende des Tisches, zwischen Missy und Katerina Alexejewna, niederlassen. Aber der alte Kortschagin verlangte, daß er, wenn er auch keinen Schnaps trinke, doch zuerst von der auf einem besonderen Tisch servierten Sakuska essen solle. Auf dem Tisch standen Hummern, Kaviar, einige Sorten Käse, Hering und anderes. Nechljudow hatte nicht geglaubt, so hungrig zu sein, aber als er angefangen hatte, Brot mit Käse zu essen, konnte er nicht aufhören und aß gierig.

»Nun, haben Sie mal wieder die Grundlagen untergraben?« sagte Kolossow, den Ausdruck eines konservativen Blattes, das gegen die Geschworenengerichte kämpfte, ironisierend. »Die Schuldigen freigesprochen und die Unschuldigen verurteilt? Nicht?«

»Grundlagen untergraben . . . Grundlagen untergraben . . . « wiederholte lachend der Fürst, der zu dem Verstand und zu der Gelehrsamkeit seines liberalen Kameraden und Freundes ein unbegrenztes Vertrauen hegte.

Nechljudow riskierte unhöflich zu sein und antwortete Kolossow nichts. Er setzte sich zu der unterdes servierten dampfenden Suppe und fuhr fort zu kauen.

»So lassen Sie ihn doch essen«, sagte lächelnd Missy. Das Fürwort »ihn« sollte ihre nahen Beziehungen zu Nechljudow dokumentieren.

Kolossow erzählte unterdes lebhaft und laut den Inhalt des Artikels gegen das Geschworenengericht, der ihn empört hatte. Ihm stimmte Telegin, der Neffe des Fürsten, bei und gab den In halt eines anderen Artikels desselben Blattes zum Besten.

Missy war wie immer sehr »destinguée« und gut, unauffällig gut gekleidet.

»Sie sind wahrscheinlich furchtbar müde und hungrig?« wandte sie sich an Nechljudow, als er ausgekaut hatte.

»Nein, nicht besonders. Und Sie? Waren Sie in der Gemäldeausstellung?« fragte er.

»Nein, wir haben es aufgeschoben. Wir waren aber zum Lawn-Tennis bei Salomatows. Mr. Crooks spielt wunderbar!«

Nechljudow war hergekommen, um sich zu zerstreuen, und immer pflegte es ihm in diesem Hause wohl zu sein, nicht nur wegen des guten Tones, der dem Luxus hier eigen war und der auf seine Sinne angenehm wirkte, sondern auch besonders infolge einer gewissen Atmosphäre schmeichelnder Liebenswürdigkeit, die ihn unmerklich umfloß.

Heute aber — war das nicht sonderbar? — erschien ihm alles in diesem Hause widerwärtig, alles, angefangen von dem Portier, der breiten Treppe, den Blumen, den Lakaien, der Tafeldekoration und bis zu Missy selbst, die ihm heute unsympathisch und unnatürlich erschien. Unangenehm waren ihm auch dieser selbstbewußte, banalliberale Ton Kolossows, unangenehm die stierartige, selbstbewußte, sinnliche Figur des alten Fürsten, unangenehm die französischen Phrasen der Slavophilin Katerina Alexejewna, unangenehm das genierte Gesicht der Gouvernante und des Repetitors, und ganz besonders unangenehm war ihm das Fürwort »ihn«, das ihm gegenüber angewandt worden war . . .

Nechljudow hatte immer zwischen zweierlei Stellungnahme zu Missy geschwankt. Bald hatte er, gleichsam die Augen zukneifend, oder wie bei Mondschein, in ihr alles Schöne gesehen und dann war sie ihm frisch, schön, klug und natürlich erschienen. Und dann plötzlich wieder hatte er, wie bei grellem Sonnenlichte, alles das, was ihr fehlte, gesehen, einfach sehen müssen.

Heute war für ihn ein solcher Tag. Er sah jedes Fältchen auf ihrem Gesicht, er wußte und sah, wie ihr Haar aufgekämmt war, er sah die Spitzigkeit der Ellenbogen, und er bemerkte namentlich den breiten Nagel ihres Daumens, der an den gleichen Nagel beim Vater erinnerte.

»Ein langweiliges Spiel!« sagte Kolossow vom Lawn-Tennis. »Da war doch das Ballspiel unserer Kindheit viel lustiger?«

»Nein, Sie kennen das nicht. Es ist furchtbar hinreißend . . . « entgegnete Missy, indem sie das Wort »furchtbar«, wie es Nechljudow schien ganz besonders unnatürlich aussprach.

Und es begann ein Streit, in den auch Telegin und Katerina Alexejewna eingriffen. Nur die Gouvernante, der Repetitor und die Kinder schwiegen und langweilten sich augenscheinlich.

»Immer müssen Sie streiten!« sagte laut lachend der alte Kortschagin. Und die Serviette aus der Weste hervorziehend, scharrte er mit dem Stuhl, den der Lakai sogleich auffing und stand vom Tische auf. Nach ihm erhoben sich auch alle übrigen und traten an das Tischchen heran, wo die mit warmem aromatischen Wasser gefüllten Spülschälchen standen. Das niemand besonders interessierende Gespräch wurde während des Mundspülens fortgesetzt.

»Nicht wahr?« wandte sich Missy an Nechljudow, um ihn zur Bestätigung ihrer Ansicht darüber aufzufordern, daß man bei nichts anderem den Charakter des Menschen so deutlich erkennen könne, als beim Spiel. Sie sah auf seinem Gesicht jenen konzentrierten und wie ihr schien verurteilenden Ausdruck, den sie an ihm fürchtete, und sie wollte erfahren, wodurch dieser Ausdruck hervorgerufen worden war.

»Ich weiß wirklich nicht . . . Ich habe nie darüber nachgedacht . . . antwortete Nechljudow.

»Gehen wir zu maman?« fragte Missy.

»Ja, ja«, sagte er, eine Cigarette hervorholend, in einem Tone, der deutlich zeigte, daß er eigentlich nicht gehen möchte.

Sie sah ihn schweigend und fragend an, und er schämte sich. »In der That, zu Leuten hin zugehen, um sie zu langweilen . . . « dachte er von sich selbst. Und mit dem Willen, liebenswürdig zu sein, sagte er, daß er mit Vergnügen gehen werde, wenn die Fürstin empfange.

»Ja, ja, maman wird sich sehr freuen. Rauchen können Sie auch dort. Iwan Iwanowitsch ist auch da . . . «

Die Hausfrau, die Fürstin Sofja Wassiljewna, war eine liegende Dame. Sie lag in Gegenwart der Gäste bereits das achte Jahr in Spitzen und Bändern, mitten unter Samt, Vergoldung, Elfenbein, Bronze, Lack und Blumen, fuhr nicht mehr aus und empfing nur, wie sie zu sagen pflegte, »ihre Freunde«, das heißt alle die, die sich ihrer Meinung nach irgendwie vor dem Haufen auszeichneten. Nechljudow war in die Zahl dieser Freunde aufgenommen worden, weil er erstens für einen gescheiten jungen Mann galt, weil zweitens seine Mutter eine nahe Freundin der Familie gewesen war, und weil es drittens gut gewesen wäre, wenn er Missy geheiratet hätte.

Das Zimmer der Fürstin Sofja Wassiljewna befand sich hinter dem großen und kleinen Salon. Im großen Salon blieb Missy, die Nechljudow voran gegangen war, entschlossen stehen und sah ihn, sich auf die Lehne eines vergoldeten Stühlchens stützend, an.

Missy hatte große Lust, zu heiraten, und Nechljudow war eine gute Partie. Außerdem gefiel er ihr, und sie hatte sich an den Gedanken gewöhnt, daß er der Ihrige werden müßte. Nicht sie sollte die Seinige, sondern er der Ihrige werden. Und sie kam ihrem Ziel näher mit jener unbewußten, aber ausdauernden Schlauheit, wie sie bei Geistes kranken vorkommt.

Sie redete ihn jetzt an, um ihn zu einer Erklärung zu veranlassen.

»Ich sehe, daß Ihnen irgend etwas passiert ist . . . Was fehlt Ihnen?« sagte sie.

Er dachte an seine Begegnung im Gericht, er rötete und wurde finster.

»Ja, es ist etwas passiert . . . «, sagte er in der Absicht, aufrichtig zu sein. »Ein seltsames, ungewöhnliches und wichtiges Ereignis.«

»Was war es denn? Können Sie mir nicht sagen, was es war?«

»Nein, jetzt nicht. Gestatten Sie mir, es Ihnen zu verschweigen. Es ist etwas geschehen, das ich noch nicht Zeit gehabt habe, zu über denken«, sagte er und errötete noch stärker.

»Und Sie werden es mir nicht sagen?« Eine Muskel ihres Gesichts erzitterte und die Prinzeß rückte mit dem Stuhl, an dem sie sich hielt.

»Nein, ich kann es nicht . . . « antwortete er. Und er fühlte, daß die Antwort, die er ihr gegeben, auch eine Antwort für ihn selbst gewesen war, ein Zugeständnis, daß sich mit ihm wirklich etwas außerordentlich Wichtiges begeben hätte.

»So wollen wir denn gehen.«

Sie schüttelte den Kopf, als ob sie die unnötigen Gedanken verjagen wollte, und ging vorwärts mit rascheren Schritten als gewöhnlich.

Es schien ihm, daß sie den Mund auf eine unnatürliche Weise zusammenpreßte, um die Thränen zurückzuhalten. Er schämte sich und es that ihm weh, daß er sie gekränkt hatte. Aber er wußte, daß die geringste Schwäche ihn zu Grunde richten, das heißt binden würde. Dieses aber fürchtete er heute vor allem. So folgte er ihr denn schweigend zum Kabinett der Fürstin.