Auferstehung

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LUNATA

Auferstehung

Auferstehung

© 1899 Lew Tolstoi

Originaltitel Woskressenije

Aus dem Russischen von August Scholz

Umschlagbild Cephas Giovanni Thompson

© Lunata Berlin 2020

Inhalt

Erstes Buch

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Zweites Buch

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Drittes Buch

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

 

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Da trat Petrus zu ihm und sprach: Herr, wie oft muß ich denn meinem Bruder, der an mir sündiget, vergeben? Ist es genug siebenmal? Jesus sprach zu ihm: Ich sage dir, nicht siebenmal, sondern siebenzig mal siebenmal.

(Ev. Matth. 18, 21–22)

Was siehest du aber den Splitter in deines Bruders Auge, und wirst nicht gewahr des Balkens in deinem Auge?

(Ev. Matth. 7, 5)

Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie.

(Ev. Johannis 8, 7)

Der Jünger ist nicht über seinen Meister; wenn der Jünger ist wie sein Meister, so ist er vollkommen.

(Ev. Luc. 8, 40)

Erstes Buch

1

Zu etlichen Hunderttausenden hatten sich die Menschen auf einem einzigen kleinen Fleck angesammelt, und wie sehr sie sich auch Mühe gaben, die Erde, auf der sie sich preßten und drängten, zu verunstalten, sie mit Steinen zu verrammeln, damit nichts darauf wüchse, jedes Gräschen, das sich ans Licht wagte, sogleich auszujäten, die Luft mit Steinkohlen- und Naphthadünsten zu vergiften, die Bäume zu beschneiden und alle Tiere, alle Vögel zu verjagen – der Frühling war doch Frühling geblieben, sogar in der Stadt. Die Sonne wärmte, das neubelebte Gras wuchs und grünte überall, wo es nur irgend nicht ausgerissen war, nicht allein auf den Rasenplätzen der Boulevards, sondern auch zwischen den Steinplatten, und die Birken, die Pappeln, die Traubenkirschen entfalteten ihre harzigen, duftenden Blätter, die Linden trieben ihre platzenden Knospen; die Dohlen, Spatzen und Tauben machten schon in froher Lenzstimmung ihre Nester zurecht, und die Fliegen summten im warmen Sonnenschein an den Wänden. Froh waren sie alle, die Pflanzen, die Vögel, die Insekten und die Kinder. Die Menschen aber – die großen, erwachsenen Menschen – hörten nicht auf, einander zu betrügen und zu quälen. Die Menschen waren der Meinung, heilig und wichtig sei nicht dieser Frühlingsmorgen, nicht diese Schönheit der Gotteswelt, die zur Beseligung aller Wesen gegeben ist und alle Herzen zum Frieden, zur Eintracht, zur Liebe stimmt – heilig und wichtig sei vielmehr das, was sie selbst sich ausgedacht haben, um über einander zu herrschen.

So wurde auch im Bureau des Gouvernementsgefängnisses nicht für heilig und wichtig gehalten, daß alle Tiere und Menschen der Lust und Seligkeit des Frühlings teilhaftig geworden, sondern für heilig und wichtig wurde gehalten, daß am Abend vorher ein mit Nummer, Siegel und Vordruck versehenes Schriftstück eingegangen war, des Inhalts, daß am heutigen 28. April um 9 Uhr morgens drei im Gefängnis inhaftierte Untersuchungsgefangene, zwei Frauen und ein Mann, nach dem Bezirksgericht abgeführt werden sollten. Eine dieser Frauen sollte, als die am schwersten belastete von den drei Personen, gesondert vorgeführt werden. Und auf Grund dieser Bestimmung trat am 28. April um 8 Uhr morgens der Oberaufseher in den übelriechenden, dunklen Korridor der weiblichen Abteilung des Gefängnisses. Gleich nach ihm betrat eine Frauensperson mit vergrämtem Gesichte und krausem, grauem Haar, in einer Jacke mit betreßten Ärmeln und blau eingefaßtem Gürtel, den Korridor. Es war die Aufseherin.

»Sie wollen die Masiowa haben?« fragte sie, während sie mit dem diensthabenden Aufseher zu einer der Zellentüren ging, die auf den Korridor mündeten.

Der Aufseher öffnete, mit dem Schlüsselbund rasselnd, das Schloß, riß die Zellentür auf, aus der eine noch übler riechende Luft, als die im Korridor war, hervorströmte, und schrie:

»Maslowa, aufs Gericht!« Dann machte er die Tür wieder zu und wartete.

Selbst auf dem Gefängnishofe spürte man die frische, belebende Luft der Felder, die der Wind in die Stadt geweht hatte. Im Korridor dagegen herrschte eine beklemmende, von Teer- und Fäulnisgeruch gesättigte Luft, die jeden, der von draußen eintrat, sogleich in eine niedergeschlagene, trübe Stimmung versetzte. Auch die vom Hofe kommende Aufseherin mußte, obgleich sie an die schlechte Luft gewöhnt war, diese Erfahrung machen. Kaum hatte sie den Korridor betreten, als sie auch schon eine Müdigkeit verspürte und schläfrig wurde.

Aus der Zelle vernahm man ein hastiges Getriebe, weibliche Stimmen und die Schritte nackter Füße.

»Immer munter, Maslowa, rühr' dich, sag' ich dir!« schrie der Oberaufseher zur Zellentür hinein.

Zwei Minuten später trat aus der Tür mit lebhaftem Schritt eine junge Frauensperson von nicht großer Statur, mit sehr vollem Busen, im grauen Gefängnisschlafrock über der weißen Jacke und dem weißen Rock. Sie wandte sich rasch um und trat neben den Aufseher. An den Beinen trug sie Leinwandstrümpfe und über den Strümpfen Filzpantoffel; der Kopf war mit einem dreieckigen weißen Halstuch bedeckt, unter dem, offenbar mit Absicht, ein paar Locken des krausen schwarzen Haars vorgeschoben waren. Das ganze Gesicht der Person hatte einen auffallend weißen Teint, wie er Leuten eigen zu sein pflegt, die lange Zeit in verschlossenem Raume zugebracht haben; es ist dies ein Weiß, das an die Keime im Keller lagernder Kartoffeln erinnert. Die gleiche Farbe wiesen auch die kleinen, breiten Hände und der volle, weiße Hals auf, der aus dem großen Kragen des Schlafrocks hervorschaute. In diesem Gesichte überraschten, zumal im Gegensatz zu seiner matten Blässe, die tiefschwarzen, glänzenden, etwas geschwollenen, doch sehr lebhaften Augen, von denen eins ein wenig schielte. Sie hielt sich sehr gerade und drückte die volle Brust stark heraus. Als sie auf den Korridor hinausgetreten war, sah sie, den Kopf ein wenig zurückwerfend, dem Aufseher gerade in die Augen und blieb stehen, bereit, alles zu tun, was er von ihr verlangen würde. Schon wollte der Aufseher die Zellentür zuschließen, als das bleiche, ernste, runzelige Gesicht einer barhäuptigen, grauhaarigen Alten in der Öffnung erschien. Die Alte sprach irgend etwas zu der Maslowa. Aber der Aufseher drückte die Tür gegen den Kopf der Alten, und der Kopf verschwand. In der Zelle ließ sich das laute Lachen einer weiblichen Stimme vernehmen. Auch die Maslowa lächelte und drehte sich nach dem vergitterten kleinen Guckloch in der Tür um. Von der andern Seite drängte sich die Alte an das Fenster und sprach mit heiserer Stimme:

»Vor allem sag' nichts Überflüssiges, bleib bei dem, was du einmal gesagt hast, verstanden?«

»Wenn's nur rasch ein Ende nähme, schlimmer kann's nicht mehr kommen,« sagte die Maslowa.

»Zwei Enden kann's nicht nehmen, das kannst du dir doch denken,« sagte der Oberaufseher in überlegenem Amtstone, höchlich überzeugt von der Scharfsinnigkeit seiner Bemerkung. »Nun komm mit, marsch!«

Das Auge der Alten verschwand von dem Guckloch, und die Maslowa trat in die Mitte des Korridors und folgte mit raschen, kleinen Schritten dem Oberaufseher. Sie stiegen die steinerne Treppe hinunter und gingen an den Männerzellen vorüber, von denen ein noch üblerer Geruch und noch lauterer Lärm als von den Frauenzellen ausging. Aus allen Gucklöchern folgten ihnen die Blicke der Insassen. Endlich kamen sie in das Bureau, wo bereits zwei Eskortesoldaten mit Gewehren standen. Der hier sitzende Schreiber übergab einem der Soldaten ein stark nach Tabak duftendes Schriftstück und sagte, indem er auf die Gefangene zeigte: »Nimm sie in Empfang!«

Der Soldat, ein Bauer aus der Gegend von Nischnij-Nowgorod, mit rotem, von Pockennarben entstelltem Gesichte, steckte das Schriftstück hinter den Ärmelaufschlag seines Mantels und blinzelte lächelnd, mit einem Kopfnicken nach der Gefangenen, seinem Kameraden zu, dessen starke Backenknochen den geborenen Tschuwaschen1 verrieten. Die Soldaten stiegen mit der Gefangenen die Treppe hinunter und begaben sich zum Hauptausgang.

In der Tür des Hauptausganges öffnete sich ein Pförtchen. Die Soldaten überschritten die Schwelle des Pförtchens, traten mit der Gefangenen in den Hof hinaus, verließen den ummauerten Hof und marschierten dann, immer mitten auf dem gepflasterten Straßendamm gehend, quer durch die Stadt.

Droschkenkutscher, Krämer, Köchinnen, Arbeiter, Beamte blieben stehen und blickten voll Neugier auf die Gefangene; einige schüttelten den Kopf und dachten: »Da sieht man, wohin ein schlechter Lebenswandel führt – uns kann man, Gott sei Dank, einen solchen nicht vorwerfen!« Die Kinder sahen voll Entsetzen auf die Verbrecherin, und nur der Umstand, daß die Soldaten hinter ihr hermarschierten und sie daran hinderten, noch mehr Böses zu tun, beruhigte sie einigermaßen. Ein Bäuerlein vom Dorfe, das Holzkohlen verkauft und im Wirtshause Tee getrunken hatte, trat auf sie zu, bekreuzte sich und reichte ihr eine Kopeke. Die Gefangene errötete, senkte den Kopf und sagte irgend etwas.

Sie fühlte die auf sie gerichteten Blicke sehr wohl und warf ihrerseits, ohne den Kopf zu wenden, unbemerkt Seitenblicke nach jenen, die sie ansahen. Die Aufmerksamkeit, die man ihr schenkte, freute sie. Es freute sie auch, die im Verhältnis zur Gefängnisluft so reine Frühlingsluft der Straßen zu atmen, dagegen fiel es ihr schwer, mit den des Gehens entwöhnten, in den plumpen Gefängnispantoffeln steckenden Füßen auf die Steine zu treten, und sie sah auf den Weg unter ihren Füßen und bemühte sich, so leicht wie möglich aufzutreten. Als die Gefangene an einer Mehlhandlung vorüberkam, vor der sorglos und unbehelligt mit leichtschaukelndem Gange eine Taubenschar sich tummelte, wäre sie beinahe auf einen blauen Täuberich getreten – rasch mit den Flügeln schlagend, flatterte er in die Höhe und flog dicht am Ohre der Gefangenen vorüber, daß sie den von ihm verursachten Windhauch deutlich spürte. Sie lächelte, und als sie dann ihrer Lage gedachte, entrang sich ihr ein tiefer Seufzer.

1 Ein finnisch-türkischer Volksstamm

2

Die Geschichte der Arrestantin Maslowa war eine sehr alltägliche Geschichte.

Die Maslowa war die Tochter einer leibeigenen Bauerndirne, die mit ihrer Mutter zusammen auf einem zwei adeligen Schwestern gehörenden Gute als Stallmagd lebte. Diese ledige Person gebar jedes Jahr ein Kind; das Kind wurde, wie das gewöhnlich auf den Dörfern geschieht, getauft, dann aber kümmerte sich die Mutter nicht weiter um das unerwünscht erschienene, überflüssige, bei der Arbeit störende kleine Wesen und ließ es ohne Nahrung, so daß es bald verhungerte.

So waren ihr fünf Kinder gestorben. Getauft wurden sie alle, jedoch nicht gefüttert, so daß sie starben. Das sechste Kind, dessen Vater ein zufällig das Dorf passierender Zigeuner war, war ein Mädchen, und das Schicksal der Kleinen wäre dasselbe gewesen, wenn nicht zufällig eine der beiden alten Damen, denen das Gut gehörte, in den Kuhstall gekommen wäre, um die Mägde dafür auszuschelten, daß der Rahm nach der Kuh roch. In der Mägdestube lag die Wöchnerin mit ihrem hübschen, gesunden Säugling. Das alte Fräulein schalt nun nicht nur wegen des Rahms, sondern auch wegen der Ungehörigkeit, daß man eine Wöchnerin in der Stube der Viehmägde gelassen hatte, und schon wollte sie weggehen, als sie das Kind erblickte. Sie ward gerührt und erbot sich, seine Taufpatin zu sein. Sie hob es auch wirklich aus der Taufe, sorgte für das Patenkindchen, gab der Mutter Milch und Geld, und so blieb die Kleine am Leben. Die alten Damen nannten sie denn auch »die Gerettete«.

 

Das Kind war drei Jahre alt, als seine Mutter erkrankte und starb. Der Großmutter, die selbst Stallmagd war, fiel die Enkelin zur Last, und so nahmen die alten Fräulein das Kind zu sich. Die schwarzäugige Kleine wuchs zu einem ungemein lebhaften und anmutigen Mädelchen heran, und die alten Damen hatten ihre Freude an ihr.

Es waren, wie gesagt, zwei alte Damen da: die jüngere, Sofia Iwanowna, war von gutartigem Naturell – sie war es auch gewesen, die das Kind aus der Taufe gehoben hatte; die ältere, Maria Iwanowna, war von strengerer Gemütsart. Sofia Iwanowna putzte das Mädchen, lehrte es lesen und hätte es am liebsten als Pflegekind behalten. Maria Iwanowna aber sagte, das Mädchen müsse arbeiten lernen, müsse zu einem tüchtigen Stubenmädchen ausgebildet werden, und darum war sie streng gegen das Mädchen, strafte es und schlug es sogar, wenn sie schlechter Laune war. So wuchs das Mädchen unter dem Einfluß der beiden alten Damen zu einem Zwitterwesen, halb Stubenmädchen und halb Pflegekind, heran. Und auch einen Zwitternamen gab man ihr – nicht Katjka, und nicht Katenjka, sondern Katjuschka. Sie nähte, räumte die Zimmer auf, putzte die Beschläge der Heiligenbilder mit Kreide, röstete, mahlte und servierte den Kaffee, besorgte die kleine Wäsche und saß zuweilen bei den Fräulein und las ihnen vor.

Sie hatte verschiedene Bewerber, doch wollte sie keinen von ihnen heiraten, da sie wohl ahnte, daß das Leben an der Seite dieser dem arbeitenden Stande angehörenden Freier ihr, nachdem sie die Annehmlichkeiten des Herrenlebens kennen gelernt, doch gar zu schwer fallen würde.

So lebte sie bis zu ihrem sechzehnten Jahre. Als sie aber sechzehn Jahre alt geworden, erhielten die Fräulein den Besuch eines Neffen, eines reichen Studenten, und Katjuschka verliebte sich in ihn, ohne daß sie es wagte, ihm oder auch nur sich selbst die Tatsache dieser Liebe zu gestehen. Zwei Jahre später machte derselbe Neffe, als er in den Krieg zog, seinen Tanten abermals einen Besuch, blieb bei ihnen vier Tage, verführte Katjuscha und reiste ab, nachdem er ihr am Tage seiner Abreise eine Hundertrubelnote in die Hand gedrückt hatte. Fünf Monate nach seiner Abreise wußte Katjuscha bestimmt, daß sie schwanger war.

Von der Zeit an ward ihr alles gleichgültig, und sie dachte nur darüber nach, wie sie der Schande entgehen könnte, die sie erwartete. Nicht genug daran, daß sie ihren Dienst bei den Fräulein unwillig und schlecht verrichtete, wurde sie auch – sie wußte selbst nicht, wie es geschah – ungezogen und ausfällig gegen sie. Sie sagte den Damen Grobheiten, die sie selbst später bereute, und bat um ihre Entlassung. Und die Fräulein, die mit ihr sehr unzufrieden waren, entließen sie.

Sie ging von ihnen zu einem Bezirkskommissar in Dienst, konnte dort jedoch nur drei Monate bleiben, da der Kommissar, ein fünfzigjähriger Alter, ihr nachzustellen begann. Eines Tages, als er ganz besonders zudringlich geworden, geriet sie in Zorn, nannte ihn einen Dummkopf und einen alten Teufel und stieß ihn so heftig gegen die Brust, daß er zu Boden stürzte. Sie wurde wegen rohen Benehmens aus dem Dienste gejagt. Wieder in Dienst zu treten, hatte keinen Zweck, da sie nun ihrer Niederkunft entgegensah. Sie quartierte sich bei der Dorfhebamme ein, einer Witwe, die nebenher einen Branntweinhandel betrieb. Die Niederkunft war leicht. Aber die Hebamme, die gleichzeitig eine kranke Frau im Dorfe entbunden hatte, steckte Katjuscha mit dem Kindbettfieber an, und das Kind, ein Knabe, kam ins Findelhaus, wo es nach der Aussage der Alten, die es hingebracht hatte, sogleich nach der Einlieferung starb.

Als Katjuscha zu der Hebamme kam, besaß sie an Geld im ganzen hundertsiebenundzwanzig Rubel; siebenundzwanzig hatte sie verdient, und die hundert hatte ihr Verführer ihr gegeben. Als sie von der Hebamme wegzog, besaß sie nur noch sechs Rubel. Sie verstand sich nicht aufs Sparen, verbrauchte das Geld für sich und gab jedem, der sie darum anging. Die Hebamme hatte von ihr für Unterkunft, Kost und Tee auf zwei Monate vierzig Rubel genommen, fünfundzwanzig Rubel hatte die Unterbringung des Kindes gekostet, vierzig Rubel hatte ihr die Hebamme abgeborgt, um sich eine Kuh anzuschaffen, zwanzig Rubel waren so, für Kleider und Geschenke, draufgegangen, und als nun Katjuscha wieder gesund war, stand sie ohne Geld da und mußte sich eine neue Stelle suchen. Sie fand diese Stelle bei einem Förster. Der Förster war verheiratet, aber ebenso wie der Kommissar wurde er vom ersten Tage an zudringlich gegen Katjuscha und ließ sie nicht mehr in Ruhe. Seine Frau kam hinter seine Schliche, und als sie ihn einmal allein mit Katjuscha im Zimmer überraschte, stürzte sie sich auf diese, um sie zu schlagen. Katjuscha wehrte sich, und es kam zu einer Prügelei, derentwegen sie aus dem Hause gejagt wurde, ohne ihren Lohn bekommen zu haben. Nun fuhr Katjuscha nach der Stadt und hielt sich bei einer Tante auf. Der Mann der Tante war ein Buchbinder, dem es früher gut gegangen war, der aber jetzt alle Kunden verloren und sich dem Trunke ergeben hatte – alles, was ihm unter die Hand kam, vertrank er.

Die Tante aber betrieb eine kleine Wäscherei, von deren Ertrage sie sich samt ihren Kindern wie auch den heruntergekommenen Gatten ernährte. Sie schlug der Maslowa vor, bei ihr als Wäscherin einzutreten. Als die Maslowa jedoch sah, was für ein beschwerliches Leben die Wäscherinnen bei der Tante führten, zögerte sie und suchte sich in einem Vermittlungsbureau eine Stelle als Dienstmädchen. Sie fand eine solche bei einer Dame, die zwei das Gymnasium besuchende Söhne hatte. Acht Tage nach ihrem Dienstantritt hörte der ältere Sohn, ein schnurrbärtiger junger Mann, der die sechste Klasse des Gymnasiums besuchte, auf zu lernen und ließ die Maslowa nicht mehr in Ruhe. Die Mutter gab an allem der Maslowa schuld und entließ sie. Eine neue Stelle fand sie nicht gleich, doch geschah es, daß die Maslowa, als sie in das Vermittlungskontor kam, dort eine Dame mit Ringen und Bracelets an den üppigen bloßen Armen traf. Diese Dame gab der Stellung suchenden Maslowa, als sie ihre Lage erfuhr, ihre Adresse und lud sie zu sich ein. Die Maslowa folgte der Einladung. Die Dame empfing sie freundlich, setzte ihr Pasteten und süßen Wein vor und schickte inzwischen ihr Stubenmädchen irgendwohin mit einem Zettel fort. Am Abend erschien ein hochgewachsener Mann mit graumeliertem langem Haar und grauem Vollbart im Zimmer. Er setzte sich sogleich zu der Maslowa und begann sie lächelnd anzublinzeln und mit ihr zu scherzen. Die Hausfrau rief ihn in ein anderes Zimmer, und die Maslowa hörte, wie sie zu dem Gaste sagte: »Sie kommt ganz frisch vom Dorfe.« Dann rief die Hausfrau die Maslowa heraus und sagte, der Herr sei ein Schriftsteller, der sehr viel Geld habe und sich erkenntlich zeigen werde, wenn sie ihm gefiele. Sie gefiel ihm, und der Schriftsteller gab ihr fünfundzwanzig Rubel und versprach, sie öfters wiederzusehen. Das Geld ging sehr bald für Bezahlung der Kost bei der Tante, für ein neues Kleid, einen Hut und Bänder drauf. Nach einigen Tagen schickte der Schriftsteller zum zweiten Mal nach ihr. Sie ging. Er gab ihr noch fünfundzwanzig Rubel und schlug ihr vor, sie solle in eine besondere Wohnung ziehen.

Während die Maslowa das von dem Schriftsteller gemietete Quartier bewohnte, verliebte sie sich in einen lustigen Kommis, der auf demselben Hofe wohnte. Sie machte dem Schriftsteller selbst davon Mitteilung und zog in eine andere, kleinere Wohnung. Der Kommis aber, der ihr die Ehe versprochen hatte, reiste, ohne ihr ein Wort zu sagen, offenbar in der Absicht, mit ihr zu brechen, nach Nischnij ab, und die Maslowa blieb allein. Sie wollte nun allein in dem Quartier weiterwohnen, doch erlaubte man ihr das nicht. Man erklärte ihr auf der Polizei, sie könne das nur, wenn sie sich unter die Aufsicht der Polizei stelle. Da zog sie wieder zu ihrer Tante. Als diese sie in dem eleganten Kleide samt Umhang und Hut erblickte, empfing sie sie achtungsvoll und wagte nun nicht mehr ihr vorzuschlagen, sie solle Wäscherin werden, da nach ihrer Meinung Katjuschka jetzt eine höhere Lebensstufe erklommen hatte. Für die Maslowa handelte es sich nicht mehr um die Frage, ob sie Wäscherin werden solle oder nicht. Sie blickte jetzt mitleidig auf das Sklavenleben herab, das diese – zum Teil schwindsüchtigen – blassen Wäscherinnen mit den mageren Armen in den vorderen Zimmern der Wohnung führten, wo sie bei dreißig Grad Wärme und bei im Sommer wie im Winter geöffneten Fenstern in den heißen Seifendämpfen wuschen und plätteten, und sie ward von Entsetzen erfüllt bei dem Gedanken, daß auch sie ein solches Sklavenleben führen sollte.

Zu jener Zeit nun, in der es der Maslowa, da sie gerade keinen Beschützer hatte, ganz besonders schlecht ging, wurde sie von einer Vermittlerin aufgesucht, die Mädchen für ein öffentliches Haus anwarb.

Das Rauchen hatte sich die Maslowa schon längst angewöhnt, und in der letzten Zeit hatte sie auch am Trinken mehr und mehr Gefallen gefunden. Der Branntwein zog sie weniger darum an, weil er ihr schmeckte, als vielmehr darum, weil er ihr die Möglichkeit gab, all das Schwere, das sie erlebt, zu vergessen, und weil er ihr eine gewisse Ungezwungenheit und eine Überzeugung von dem Werte ihrer Persönlichkeit einflößte, die sie ohne den Branntwein nicht gehabt hätte. Wenn sie nicht trank, war sie stets niedergeschlagen und schämte sich.

Die Vermittlerin bewirtete die Tante, machte die Maslowa betrunken und schlug ihr vor, in ein gutes, ja in das beste Haus in der Stadt einzutreten. Sie wußte ihr alle Vorteile und Vorzüge einer solchen Stellung in den glänzendsten Farben zu schildern, und der Maslowa blieb nur die Wahl, entweder von neuem die erniedrigende Stellung einer Dienstmagd anzunehmen, bei der es sicherlich ohne Nachstellungen von Seiten der Männer nicht abging, oder sich in die gesicherte, ruhige, gesetzmäßige Lage zu begeben, die ihr der Eintritt in ein öffentliches Haus darbot. Sie glaubte überdies durch ihren Eintritt in ein solches Haus auch an ihrem Verführer und an dem Kommis und überhaupt an allen Leuten, die ihr jemals Böses angetan hatten, Rache zu nehmen. Ausschlaggebend aber war für ihre Entscheidung, daß die Vermittlerin ihr sagte, sie könne sich dort so viele Kleider bestellen, als sie nur wolle – aus Samt, aus Rips, aus Seide, auch Ballkleider, welche die Schultern und Arme frei ließen. Als die Maslowa sich vorstellte, wie schön sie in einem hellgelben, mit schwarzem Samt besetzten, ausgeschnittenen Seidenkleide aussehen würde, da konnte sie nicht länger widerstreben und gab ihren Paß ab. Noch an demselben Abend brachte die Vermittlerin sie in das bekannte Haus der Kitajewa.

Und von diesem Augenblick an begann für die Maslowa ein Leben, das nichts anderes als ein fortlaufendes Übertreten der göttlichen und menschlichen Gesetze war, das von hundert und aber hundert Tausenden von Frauen geführt wird und für neun Zehntel von ihnen mit qualvollen Krankheiten und vorzeitigem Verfall und Tode endet.

Am Morgen und tagsüber der dumpfe, schwere Schlaf nach den Orgien der Nacht. Um drei, vier Uhr nachmittags das müde Aufstehen vom schmutzigen Bett, Selterwasser zur Vertreibung des Katzenjammers, und Kaffee – dann das träge Herumschlendern von Zimmer zu Zimmer, im Frisiermantel, in der Nachtjacke, im Schlafrock, das Herausschauen aus dem Fenster, hinter den Vorhängen, das müde Gezänk; dann das Waschen, Salben und Parfümieren des Körpers und des Haars, das Anprobieren der Kleider, das Streiten mit der Wirtin um diese Kleider, das Beschauen im Spiegel, das Schminken des Gesichts und Färben der Augenbrauen, die süße, fette Mahlzeit; dann das Anziehen des hellen, seidenen, den Körper entblößenden Kleides; dann das Hinaustreten in den festlich geschmückten, hell erleuchteten Saal, die Ankunft der Gäste jedes Alters, jedes Standes, jedes Charakters – und Geschrei und Zoten, Prügeleien und Wein, Tabak, Musik und Tanz vom Abend bis zum Morgen, und Konfekt und wieder Wein und Branntwein und Tabak. Und erst am Morgen kommt dann die Erlösung und der dumpfe Schlaf. Und so jeden Tag, im Sommer wie im Winter, am Wochentag wie am Feiertag.

So verlebte die Maslowa sieben volle Jahre. Während dieser Zeit wechselte sie zweimal das Haus und war einmal im Hospital. Im siebenten Jahre ihres Aufenthalts in dem öffentlichen Hause und im achten nach ihrem ersten Fehltritt, als sie eben sechsundzwanzig Jahre alt war, ereignete sich jener Vorfall, der sie ins Gefängnis brachte und jetzt vor den Richterstuhl führte, nachdem sie sechs Monate lang mit Mörderinnen und Diebinnen zusammen in Untersuchungshaft gesessen hatte.