Anna Karenina

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

26

Am Morgen war Konstantin Ljewin aus Moskau abgefahren, und gegen Abend langte er zu Hause an. Unterwegs auf der Bahn hatte er sich mit seinen Reisegefährten über Politik und über neue Eisenbahnlinien unterhalten, und ebenso wie in Moskau waren ihm seine Begriffe in Verwirrung geraten, und eine Unzufriedenheit mit sich selbst und ein eigentümliches Schamgefühl hatten ihn befallen. Aber als er nun auf seiner Station ausstieg und seinen krummen Kutscher Ignat mit dem hochgeschlagenen Mantelkragen erblickte und als er in dem schwachen Lichtschimmer, der durch die Fenster des Bahnhofsgebäudes drang, seinen mit Decken wohlversehenen Schlitten und seine Pferde mit den aufgebundenen Schwänzen, in dem mit Ringen und Fransen verzierten Geschirr, sah und als der Kutscher Ignat, noch während das Gepäck aufgeladen wurde, ihm die Gutsneuigkeiten erzählte, daß ein Agent für Arbeitskräfte angekommen sei und daß Pawa gekalbt habe: da fühlte er, daß die Verwirrung in seinem Kopfe sich allmählich löste und das Gefühl der Scham und der Unzufriedenheit mit sich selbst verging. Das hatte er schon beim ersten Blick auf Ignat und die Pferde empfunden; aber als er nun gar den für ihn mitgebrachten Schafpelz anzog, sich wohlvermummt in den Schlitten setzte und dahinfuhr und dabei über die von ihm in Aussicht genommenen Anordnungen auf dem Gute nachdachte und das eine Seitenpferd beobachtete, das früher sein Reitpferd gewesen war, aus einem Donischen Gestüt, ein schon etwas abgerackertes, aber immer noch tüchtiges Tier: da gelangte er zu einer ganz anderen Auffassung seines letzten Erlebnisses. Er fühlte sich wieder als das, was er war, und wollte nichts anderes sein. Nur besser wollte er jetzt werden, als er früher gewesen war. Erstens nahm er sich vor, von nun an nicht mehr auf ein außerordentliches Glück, wie er es sich von der Ehe versprochen hatte, zu hoffen und nicht mehr infolge einer solchen Hoffnung die Gegenwart gering zu schätzen. Zweitens wollte er sich nicht wieder von garstiger Sinnlichkeit hinreißen lassen, weil die Erinnerung an frühere Fälle solcher Schwäche ihn damals, als er seinen Heiratsantrag zu machen beabsichtigte, so furchtbar gemartert hatte. Ferner gedachte er seines Bruders Nikolai und gab sich das Wort, ihn nie wieder zu vergessen, sich stets Kenntnis über sein Ergehen zu verschaffen und ihn nie aus den Augen zu verlieren, um zur Hilfe bereit zu sein, wenn es ihm schlecht ginge. Daß es bald soweit sein werde, daran konnte er nicht zweifeln. Auch was sein Bruder zu ihm über den Kommunismus gesagt hatte, ohne daß er seinerseits dabei ernstlich Stellung zu diesem Gegenstande genommen hätte, brachte ihn jetzt zum Nachdenken. Er hielt eine gänzliche Umgestaltung der sozialen Verhältnisse für ein Ding der Unmöglichkeit, aber er hatte immer seinen eigenen Überfluß gegenüber der Armut der Masse als Ungerechtigkeit empfunden und nahm sich nun, um das Gefühl einer vollen Berechtigung zu haben, fest vor, wenn er auch schon vorher viel gearbeitet und ohne Üppigkeit gelebt hatte, jetzt noch mehr zu arbeiten und sich noch weniger Wohlleben zu gestatten. Und daß er zur Verwirklichung aller dieser Absichten die Kraft in sich finden werde, schien ihm so sicher, daß er den ganzen Weg in den angenehmsten Träumereien verbrachte. Mit einem mutigen Gefühle der Hoffnung auf ein neues, besseres Leben fuhr er bald nach acht Uhr an seinem Hause vor.

Aus den Fenstern seiner alten Kinderfrau und jetzigen Wirtschafterin Agafja Michailowna fiel ein Lichtschein auf den schneebedeckten Platz vor dem Hause. Sie schlief noch nicht. Der Diener Kusma, den sie geweckt hatte, kam verschlafen und barfuß auf die Freitreppe heraus. Die Hühnerhündin Laska kam gleichfalls herausgesprungen, wobei sie den Diener beinahe umstieß, und rieb sich winselnd an Ljewins Knien; sie hob sich in die Höhe und hätte ihm gern die Vorderfüße auf die Brust gesetzt, wagte dies aber doch nicht.

»Sie sind ja schnell wieder zurückgekommen, Väterchen«, sagte Agafja Michailowna.

»Ich bekam Heimweh, Agafja Michailowna. Auf Besuch sein ist schön, aber zu Hause ist es doch am besten«, antwortete er ihr und ging in sein Zimmer.

Die Kerze, die er hineintrug, erhellte die einzelnen Teile des Zimmers einen nach dem anderen. Die ihm so wohlbekannten Stücke der Einrichtung traten aus dem Dunkel hervor: die Hirschgeweihe, die Bücherregale, der Spiegel, der Ofen mit der Ventilation, die schon längst einer Ausbesserung bedurfte, das altväterische Sofa, der große Tisch, auf dem Tische ein aufgeschlagenes Buch, ein zerbrochener Aschenbecher, ein Heft, in dem er geschrieben hatte. Beim Anblick aller dieser Gegenstände überkam ihn für einen Augenblick ein Zweifel, ob es möglich sein werde, jenes neue Leben ins Werk zu setzen, das er sich unterwegs so schön ausgemalt hatte. Alle diese seine bisherigen Lebensbegleiter schienen ihn gleichsam in ihre Arme zu schließen und zu ihm zu sagen: ›Nein, du entrinnst uns nicht und wirst nie ein anderer werden; du bleibst immer derselbe, der du gewesen bist: mit deinen Zweifeln, mit deiner steten Unzufriedenheit mit dir selbst, mit deinen vergeblichen Versuchen, dich zu bessern, und deinen sich immer wiederholenden Rückfällen, und mit deinem lebenslänglichen Warten auf ein Glück, das dir nicht beschieden ist und das du nicht erringen kannst.‹

Aber während die leblosen Gegenstände so zu ihm sprachen, sagte ihm eine andere Stimme in seinem Inneren, man dürfe sich nicht zu einem Knechte der Vergangenheit herabwürdigen, und der Mensch könne aus sich alles machen. Und auf diese Stimme hörend, ging er in die Ecke, wo er zwei schwere Gewichte stehen hatte, und hob sie turnermäßig in die Höhe, um sich dadurch in eine frische, mutige Stimmung zu versetzen. Aber da wurden vor der Tür knarrende Schritte vernehmbar, und eiligst stellte er die Gewichte wieder hin.

Der Verwalter trat ein und berichtete, daß gottlob alles in Ordnung sei, machte aber zugleich die Mitteilung, daß der Buchweizen auf der neuen Darre von unten angebrannt sei. Über diese Nachricht war Ljewin sehr ärgerlich. Die neue Darre hatte er zum Teil nach seinen eigenen Vorschlägen errichten lassen. Der Verwalter war immer gegen diese Darre gewesen und meldete nun mit einem verhaltenen Gefühle des Triumphes, daß der Buchweizen angebrannt sei. Ljewin war fest überzeugt, daß, wenn der Buchweizen angebrannt war, dies nur von einer Nichtbeachtung der Vorsichtsmaßregeln gekommen sein konnte, die er dem Verwalter schon hundertmal eingeschärft hatte. Er war sehr verdrießlich und erteilte dem Verwalter einen Verweis. Es gab aber auch ein wichtiges Ereignis erfreulicher Art: Pawa, die beste Kuh, hatte gekalbt, ein teueres Stück, das auf einer Ausstellung angekauft war.

»Kusma, gib mir den Schafpelz her! Und Sie, Sie können eine Laterne bringen lassen; ich will hingehen und mir es mal ansehen«, sagte er zu dem Verwalter.

Der Stall für die wertvolleren Kühe lag gleich hinter dem Hause. Ljewin ging über den Hof an dem großen Schneehaufen beim Fliederstrauche vorbei und gelangte so zum Stalle. Ein warmer, stark riechender Düngerdampf schlug ihm entgegen, als die angefrorene Tür geöffnet wurde, und verwundert über das ungewohnte Licht der Laterne, regten sich die Kühe auf dem frischen Stroh. Der glatte, schwarz gescheckte, breite Rücken einer Holländer Kuh schimmerte im Halbdunkel. Berkut, der Bulle, lag mit seinem Ring in der Lippe da und machte Anstalten, aufzustehen; aber er besann sich eines anderen und schnaufte nur ein paarmal, als die Besucher vorbeigingen. Pawa, die rote Prachtkuh, groß wie ein Nilpferd, drehte sich rückwärts, um ihr Kälbchen vor den Eintretenden zu verdecken, und beschnupperte es.

Ljewin trat in den Verschlag hinein und hob das rotscheckige Kälbchen auf seine schwankenden, langen Beine. Die aufgeregte Pawa wollte schon ein Gebrüll ausstoßen, beruhigte sich aber wieder, als Ljewin ihr das Kalb wieder hinschob, und begann, schwer atmend, es mit ihrer rauhen Zunge zu belecken. Das Kalb stieß suchend mit dem Maule seine Mutter in die Weichen und krümmte das Schwänzchen.

»Leuchte mal hierher, Fjodor; hier halte die Laterne her!« sagte Ljewin, der das Kalb besah. »Es artet nach der Mutter, wenn es auch die Farbe vom Vater hat. Ein sehr schönes Tier. Lang, mit schmalen Weichen. Wasili Fedorowitsch, nicht wahr, es ist schön?« wandte er sich an den Verwalter; in seiner Freude über das Kalb hatte er ihm den angebrannten Buchweizen schon vergeben.

»Nach welchem der Eltern könnte es denn auch schlecht sein?« erwiderte der Verwalter. »Ja, und dann ist der Agent Semjon am Tage nach Ihrer Abreise angekommen. Wir werden wohl mit ihm einen Vertrag über Arbeiter schließen müssen, Konstantin Dmitrijewitsch. Über die Maschine habe ich Ihnen schon früher Bericht erstattet.«

Durch diese eine schwebende Frage sah sich Ljewin wieder mitten in das ganze Getriebe seiner großen, verwickelten Wirtschaft hineinversetzt. Vom Kuhstall ging er unmittelbar ins Kontor und sprach dort mit dem Verwalter und dem Agenten Semjon; dann kehrte er in das Haus zurück und ging sogleich ins Wohnzimmer hinauf.

27

Es war ein großes, altertümliches Haus, und obwohl Ljewin es allein bewohnte, so benutzte er doch sämtliche Zimmer und ließ sie alle heizen. Er wußte, daß dies töricht war; er wußte, daß es sogar unrecht von ihm war und seinen jetzigen neuen Plänen zuwiderlief; aber dieses Haus war für Ljewin eine ganze Welt. Es war die Welt, in der sein Vater und seine Mutter gelebt hatten und gestorben waren. Sie hatten darin ein Leben geführt, das Ljewin als geradezu ideal betrachtete und das er mit seiner Frau und seinen Kindern zu erneuern gehofft hatte.

An seine Mutter konnte sich Ljewin kaum erinnern; aber die Vorstellung, die er sich von ihr machte, trat ihm an die Stelle einer geheiligten Erinnerung, und seine künftige Gattin sollte – so malte er sich das aus – eine Erneuerung jenes entzückenden, heiligen Frauenideals sein, das seine Mutter gewesen war.

 

Die Liebe zu einer Frau konnte er sich gar nicht ohne die Ehe vorstellen, ja er stellte sich zuerst die Kinder vor und dann erst die Frau, die ihm die Kinder bescheren würde. Seine Begriffe vom Heiraten waren daher himmelweit verschieden von den Begriffen seiner meisten Bekannten, für die das Heiraten ein gewöhnliches Geschäft war wie viele andere. Für Ljewin war die Eheschließung die wichtigste Handlung des Lebens, von der das ganze Lebensglück abhing. Und jetzt mußte er diesem Glücke entsagen.

Als er in die kleine Wohnstube, sein übliches Teezimmer, getreten war und sich nun mit einem Buche in seinen Lehnstuhl niederließ und Agafja Michailowna ihm den Tee brachte und dann mit ihrer herkömmlichen Redewendung: »Na, ich setze mich auch her, Väterchen!« sich auf einen Stuhl am Fenster setzte, da fühlte er, daß, so sonderbar es auch sein mochte, er von seinen Glücksträumereien noch nicht Abschied genommen hatte und daß er ohne ihre Verwirklichung nicht leben könne. Ob nun mit ihr oder mit einer anderen, aber geschehen mußte es. Er las in seinem Buche, dachte über das Gelesene nach, machte eine Pause darin, um auf Agafja Michailowna zu hören, die unermüdlich plauderte; aber gleichzeitig traten ihm allerlei Bilder aus seiner Wirtschaft und aus seinem künftigen Familienleben vor das geistige Auge, ohne Verknüpfung miteinander. Er fühlte, wie etwas in der Tiefe seiner Seele sich festgesetzt, dann sich auf engeren Raum beschränkt und sich nun endgültig zurechtgelagert hatte.

Er hörte zu, wie Agafja Michailowna erzählte, daß dieser Prochor doch ein ganz gottvergessener Mensch sei und das Geld, das ihm Ljewin zum Ankauf eines Pferdes geschenkt habe, vertrinke, ohne jemals aus dem Rausche herauszukommen, und daß er seine Frau beinahe zu Tode geprügelt habe. Er hörte zu und las in dem Buche und erinnerte sich der ganzen Gedankenreihe, die dieses Lesen das vorige Mal in ihm wachgerufen hatte. Es war Tyndalls Buch über die Wärme. Er erinnerte sich, wie ihm an Tyndall mißfallen hatte, daß er so selbstgefällig von seiner Geschicklichkeit im Experimentieren spreche und keiner philosophischen Anschauung fähig sei. Und plötzlich kam ihm ein freudiger Gedanke dazwischen: ›In zwei Jahren werde ich in der Herde zwei Holländer Tiere haben; auch Pawa selbst kann noch hinreichend frisch sein; dazu zwölf junge Nachkommen von Berkut; da kann ich günstigenfalls die drei zur Kreuzung benutzen, – wundervoll!‹ Er griff wieder nach dem Buche. ›Nun gut, Elektrizität und Wärme sollen ein und dasselbe sein; aber kann man denn, wenn es sich um die Lösung einer Aufgabe auf diesem Gebiete handelt, in einer Gleichung die eine Größe für die andere setzen? Nein. Also wie steht es damit? Einen gewissen Zusammenhang zwischen allen Naturkräften spürt man ja auch so schon durch den bloßen Instinkt. – Besonders hübsch wird es sein, wenn Pawas Kalb erst eine rotscheckige Kuh sein wird und vielleicht ebenso die ganze Herde, die ich aus der Kreuzung mit diesen dreien erzielen will. – Prächtig! Dann werde ich mit meiner Frau und unseren Gästen die Herde besehen. – Meine Frau sagt: »Dieses Kalb hier haben Konstantin und ich wie ein Kind großgezogen.« »Wie kann Sie das nur so interessieren?« sagt einer der Gäste. »Alles, was ihn interessiert, interessiert auch mich.« Ja, aber wer wird sie sein?‹ Hier mußte er an das denken, was ihm in Moskau begegnet war. – ›Nun, was ist da zu machen? Meine Schuld ist es nicht gewesen. Aber jetzt soll alles einen neuen Gang nehmen. Es ist Torheit, zu glauben, daß das wirkliche Leben dem entgegenstünde und daß die Vergangenheit dem entgegenstünde. Ich will alle meine Kraft daransetzen, um ein besseres, ein weit besseres Leben zu führen.‹ Er hob den Kopf in die Höhe und überließ sich seinen Gedanken. Die alte Laska, die mit ihrer Freude über seine Ankunft noch nicht ganz zurechtgekommen und auf den Hof gerannt war, um sich auszubellen, kam nun schwanzwedelnd zurück, wobei sie den Geruch von frischer Luft mit ins Zimmer brachte, lief zu ihm hin, schob den Kopf unter seine Hand und verlangte mit kläglichem Winseln, daß er sie liebkosen möchte.

»Nur, daß sie nicht sprechen kann«, sagte Agafja Michailowna. »So ein Tier! Sie versteht, daß ihr Herr zurückgekommen und traurig ist.«

»Wieso meinst du, daß ich traurig bin?«

»Wie werde ich denn das nicht sehen, Väterchen? Wo ich doch schon so lange hier bin, muß ich doch meine Herrschaft kennen. Ich bin doch von Kindesbeinen an hier bei der Herrschaft aufgewachsen. Aber grämen Sie sich nicht, Väterchen! Wenn man nur gesund ist und ein reines Gewissen hat!«

Ljewin blickte sie unverwandt an, ganz erstaunt darüber, wie richtig sie seine Gedanken erraten hatte.

»Wie ist's, soll ich Ihnen noch ein bißchen Tee bringen?« fragte sie, nahm seine Tasse und ging damit hinaus.

Laska schob immer noch ihren Kopf unter seiner Hand hin und her. Er streichelte sie, und sie rollte sich sofort zu seinen Füßen rund zusammen, indem sie den Kopf auf die eine ausgestreckte Hinterpfote legte. Und um auszudrücken, daß jetzt alles in schönster Ordnung sei, öffnete sie ein wenig das Maul, schmatzte ein paarmal auf, legte die feuchten Lippen bequemer um die alten Zähne zurecht und verstummte in glückseliger Ruhe. Ljewin hatte aufmerksam diese letzten Bewegungen des Tieres beobachtet.

›Ganz, wie ich es auch mache!‹ sagte er zu sich selbst. ›Ganz, wie ich es auch mache! Ich will es mich nicht anfechten lassen. Es wird noch alles gut werden.‹

28

Am Morgen nach dem Balle schickte Anna Arkadjewna ihrem Manne ein Telegramm, daß sie am selben Tage von Moskau abfahren werde.

»Nein, ich muß fahren, ich muß!« sagte sie, um diese plötzliche Änderung ihrer Anordnungen zu erklären, zu ihrer Schwägerin in einem Tone, als ob sie zu Hause so viel vor hätte, daß sie es gar nicht alles aufzählen könnte. »Nein, am besten fahre ich gleich heute.«

Stepan Arkadjewitsch aß nicht zu Hause zu Mittag, hatte aber versprochen, um sieben Uhr zurück zu sein, um seine Schwester nach dem Bahnhof zu begleiten.

Auch Kitty war nicht zum Mittagessen gekommen; sie hatte ein Briefchen geschickt, daß sie Kopfschmerzen habe. Dolly und Anna speisten allein mit den Kindern und der Engländerin. Kam es nun daher, daß Kinder unbeständig sind, oder daher, daß sie feinfühlig sind und diese hier es herausfühlten, daß Anna heute eine ganz andere war als an jenem Tage, da sie sie so liebgewonnen hatten, und sich nicht mehr für sie interessierte: genug, sie hatten die Lust, mit der Tante zu spielen, ganz verloren, auch mit der Liebe zu ihr war's zu Ende, und daß Anna nun abreise, machte ihnen gar keinen Eindruck. Anna war den ganzen Vormittag mit Vorbereitungen zu ihrer Abreise beschäftigt gewesen. Sie hatte kurze Abschiedsbriefe an ihre Moskauer Bekannten geschrieben, ihre Ausgaben vermerkt und ihre Sachen gepackt. Überhaupt hatte Dolly den Eindruck gehabt, daß Anna sich nicht in ruhiger Seelenstimmung, sondern in jener nervösen Aufregung befand, die Dolly nur zu gut von sich selbst kannte, ein Zustand, der sich nicht ohne besondere Ursache einstellt und hinter dem sich meistenteils eine Unzufriedenheit mit sich selbst verbirgt. Nach dem Mittagessen begab sich Anna in ihr Zimmer, um sich umzukleiden, und Dolly ging mit ihr.

»Du bist ja heute so eigentümlich?« sagte Dolly zu ihr.

»Ich? Findest du das? Ich bin weiter nicht eigentümlich, mir ist nur nicht recht wohl. So etwas kommt manchmal bei mir vor: ich möchte in einem fort weinen. Das ist sehr dumm; aber es geht vorüber«, sagte Anna schnell und beugte ihr errötendes Gesicht über eine elegante Reisetasche, in die sie eine Nachthaube und einige Batisttaschentücher einpackte. Ihre Augen hatten einen besonderen Glanz und füllten sich fortwährend mit Tränen. »Zuerst wollte ich gar nicht von Petersburg abreisen, und nun möchte ich am liebsten von hier nicht wieder fort.«

»Du bist hergekommen und hast hier ein gutes Werk vollbracht«, sagte Dolly, sie aufmerksam betrachtend.

Anna blickte sie mit tränenfeuchten Augen an.

»Sage das nicht, Dolly! Ich habe nichts getan und habe nichts tun können. Ich wundere mich oft, warum mich die Leute, wie auf Verabredung, verhätscheln. Was habe ich getan, und was habe ich tun können? Du hast eben in deinem Herzen so viel Liebe gefunden, um verzeihen zu können.«

»Gott weiß, wie es ohne dich noch gekommen wäre! Wie glücklich du bist, Anna!« sagte Dolly. »In deiner Seele ist alles klar und gut.«

»Jeder Mensch hat in seiner Seele seine skeletons13, wie die Engländer sagen.«

»Was für skeletons könntest du haben? Bei dir ist alles klar und rein.«

»Ich habe skeletons!« erwiderte Anna plötzlich, und ein schlaues, lustiges Lächeln, wie man es nach den Tränen gar nicht hätte erwarten sollen, spielte um ihre Lippen.

»Nun, dann werden sie wohl sehr heiter sein, deine skeletons, und nicht finster und drohend«, meinte Dolly lächelnd.

»Nein, sie sind finster und drohend. Weißt du wohl, warum ich heute abreise und nicht erst morgen? Ich habe etwas auf dem Herzen, was mich schwer bedrückt, und ich will es dir jetzt beichten«, sagte Anna. Sie lehnte sich mit entschlossener Miene in ihrem Sessel zurück und blickte ihrer Schwägerin offen in die Augen.

Und zu ihrem Erstaunen sah Dolly, daß Anna bis an die Ohren errötet war, bis an die schwarzen Löckchen, die sich hinten an ihrem Halse kräuselten.

»Ja«, fuhr Anna fort. »Weißt du auch wohl, warum Kitty nicht zum Mittagessen gekommen ist? Sie ist auf mich eifersüchtig. Ich habe ihr diesen Ball verdorben; ich meine, ich bin die Veranlassung gewesen, weshalb dieser Ball für sie eine Qual und nicht eine Freude war. Aber wahrhaftig, wahrhaftig, ich trage keine Schuld oder doch nur ganz wenig«, sagte sie, wobei sie mit hoher Stimme auf den Worten »ganz wenig« verweilte.

»Ach, was hattest du eben für eine überraschende Ähnlichkeit mit Stiwa, als du das sagtest!« rief Dolly lachend.

Anna nahm das übel.

»O nein, o nein! Ich bin nicht wie Stiwa«, versetzte sie stirnrunzelnd. »Gerade deshalb sage ich es dir ja, weil ich mich auch nicht für einen Augenblick unsicher fühle.«

Aber in diesem Augenblicke, in dem sie diese Worte aussprach, wurde sie sich bewußt, daß sie unwahr waren; sie fühlte sich nicht nur unsicher, sondern sie empfand schon bei dem bloßen Gedanken an Wronski eine starke Erregung und reiste nur deswegen früher ab, als sie ursprünglich beabsichtigt hatte, um nicht mehr mit ihm zusammenzutreffen.

»Ja, Stiwa hat mir erzählt, du hättest mit ihm die Masurka getanzt, und er hätte . . . «

»Du kannst dir gar keine Vorstellung davon machen, wie komisch die ganze Geschichte war. Ich dachte an weiter nichts, als wie ich wohl helfen könnte, diese Heirat zustande zu bringen, und nun kam die Sache auf einmal so ganz anders. Vielleicht habe ich sogar wider meinen Willen . . . «

Sie errötete und brach ab.

»Ja, die Leute merken so etwas sofort«, sagte Dolly.

»Aber ich wäre in Verzweiflung, wenn dabei auf seiner Seite irgend etwas Ernsteres vorliegen sollte«, unterbrach Anna sie. »Und ich bin überzeugt, daß das alles bald wieder vergessen sein und Kitty mich nicht mehr hassen wird.«

»Übrigens, Anna, um dir die Wahrheit zu sagen: Ich wünsche für Kitty diese Heirat gar nicht einmal so besonders. Und wenn er, Wronski, es fertiggebracht hat, sich in dich an einem einzigen Tage zu verlieben, dann ist es schon das beste, daß die Sache auseinandergeht.«

»O Gott, das wäre aber doch zu dumm!« rief Anna, und von neuem überzog eine dunkle Röte ihr Gesicht, diesmal vor Freude, als sie den Gedanken, der sie selbst beschäftigte, von einem anderen aussprechen hörte. »So reise ich also nun ab, nachdem ich mir Kitty, die ich doch so liebgewonnen hatte, zur Feindin gemacht habe! Ach, was ist sie für ein liebes, gutes Wesen! Aber du wirst das schon wieder in Ordnung bringen, Dolly. Nicht wahr?«

Dolly konnte kaum ein Lächeln unterdrücken. Sie liebte Anna; aber sie sah mit einer gewissen Befriedigung, daß auch diese nicht frei von Schwächen war.

»Zur Feindin? Das ist unmöglich.«

»Ich wünschte von ganzem Herzen, daß ihr alle mich so liebhaben möchtet, wie ich euch liebhabe. Und jetzt habe ich euch noch weit mehr liebgewonnen«, sagte Anna mit Tränen in den Augen. »Ach, wie dumm ich doch heute bin!«

 

Sie fuhr sich mit dem Taschentuche über das Gesicht und begann sich umzukleiden.

Erst ganz kurz vor der Abfahrt nach dem Bahnhof kam Stepan Arkadjewitsch nach Hause, der sich verspätet hatte; er hatte ein rotes, vergnügtes Gesicht und roch nach Wein und Zigarren.

Annas gerührte Stimmung war auch auf Dolly übergegangen, und als sie ihre Schwägerin zum letzten Male umarmte, flüsterte sie ihr zu: »Sei versichert, Anna, ich werde nie vergessen, was du für mich getan hast. Und sei auch versichert, daß ich dich liebhabe und immer liebhaben werde als meine beste Freundin!«

»Ich weiß gar nicht, wie ich das verdiene«, erwiderte Anna, indem sie sie küßte und ihre Tränen verbarg.

»Du hast mein Herz verstanden und verstehst mich auch jetzt. Lebe wohl, du Liebe, Gute!«