Geisel des Piraten

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Kapitel Drei

Nicht gerade sanft zog Captain Hawk ihn über die Leiter mit sich hinauf zum Hauptdeck. Nathaniel erhaschte einen Blick in die Quartiere der Crew im Bug des Schiffes: ein beengter Raum, dunkel und nach Schweiß, Schimmel und wusste –der –Himmel –was –sonst noch alles stinkend. Ein Koch schuftete an einem Herd. Die Männer verstauten ihre Hängematten, während die Sonne höher stieg, und zogen lange Tische zum Essen heraus. Dann wurde Nathaniel grob die Leiter hochgeschubst.

An Deck inhalierte er dankbar die kalte, frische Luft. Die Sonne, die gerade am Horizont aufging, blendete ihn. Er saugte alle Bilder und Gerüche um sich herum tief in sich ein, denn die Androhung eines ganzen Monats allein in der Kabine des Captains erfüllte ihn mit einer Angst, die ihn zu verschlingen drohte. Die Beengtheit eines Schiffes war schrecklich genug. Aber so lange in diesem einen Zimmer gefangen zu sein? Sein Magen verkrampfte sich.

Er blickte sich um, sein Herz hüpfte, als er in der Ferne Segel sah. War das die Proud William? Es musste wohl so sein, denn niemand sonst beachtete das Schiff. Nathaniel schaute bedrückt zu, wie es langsam zu einem winzigen Fleck zusammenschrumpfte. Aber Susanna war in Sicherheit, und das war alles, was zählte. Er hasste es, dass sie für den Rest ihrer Reise allein sein würde, besonders in ihrem verletzlichen Zustand. Schuldgefühle stiegen in ihm auf, obwohl er wusste, dass er nicht das Geringste dagegen hatte tun können.

Er sah den Captain an, der ihn schließlich aus seinem abscheulichen Griff entlassen hatte. Die aufsteigende Sonne enthüllte seine überraschend blauen Augen, die einen Stich Grau hatten. Sein kleiner quadratischer Goldohrring blitzte.

Der Quartiermeister, ein Mr. Snell, so die schroffe Begrüßung des Captains, näherte sich. »Captain, die Männer wollen etwas von dem Salzfisch essen, den wir mitgenommen haben. Soll der Koch ihn zubereiten?«

»Aye.«

Der Gedanke an Essen ließ Nathaniels Magen knurren, aber er würde lieber verhungern, als Captain Hawk – nein, einfach nur Hawk, denn er verdiente keinen ehrenwerten Titel – danach zu fragen. Als Hawk und Mr. Snell sich ein paar Meter entfernten und so leise miteinander sprachen, dass er nichts hören konnte, begutachtete Nathaniel sein Gefängnis.

Die Damned Manta war ein Einmaster, eine Schaluppe, die wahrscheinlich ursprünglich ein Handelsschiff gewesen war. Dicke Seilrollen bedeckten das Schiff. Wenn es anfangs ein Achterdeck in der Nähe des Hecks gegeben hatte, vermutete Nathaniel, dass es entfernt worden war, um weitere Geschütze hinzuzufügen. Er zählte vierzehn um das Oberdeck herum, das vom Bug bis zum Heck etwa sechzig Fuß lang und auf der ganzen Länge flach war. Aus weiter Entfernung musste es so aussehen, als läge die Schaluppe tiefer im Wasser. Sie war wie dazu gemacht, um auf ihr zu rennen, und es juckte Nathaniel in den Füßen. Nur zu gern wäre er vom Bug zum Heck, um das massive Rad des Schiffes herum und wieder zurück gerannt.

Er war sich nicht sicher, wie viele Piraten genau an Bord waren, schätzte ihre Anzahl aber auf fünfundvierzig bis fünfzig. Es schien ein bunt zusammengewürfelter Haufen zu sein, Männer jeder Herkunft, jeden Alters und jeder Größe, einige mit langen, einige mit kurzen Haaren, einige mit sauberen Gesichtern und wieder andere mit verfilzten Bärten. Viele trugen weite Hosen. Tattoos und Piercings schmückten nackte Haut. Ein Mann in einer Lederweste hatte so viele dunkle Bilder auf der Haut, dass Nathaniel zunächst dachte, er trüge ein dunkles Hemd.

Hoch über ihnen am Mast thronte der Ausguck. Die schwarze Flagge flatterte im Wind. Sie zeigte außerdem einen weißen Raubvogel mit weit gespreizten Schwingen und einem grausamen Schnabel. Einen Seeadler, vermutete er.

Jetzt rissen die Männer an den Tauen, um die Flagge einzuholen und sie den Blicken neuer Opfer zu entziehen. Er wandte den Blick von den Segeln und der Takelage ab.

Hawk und Snell schienen über ihn zu sprechen, denn sie beäugten ihn auf eine Art und Weise, die ihm die Haare auf den Armen zu Berge stehen ließ. Er konnte ihre Musterung kaum ertragen und sah hinaus auf die Wellen, seine Haut kribbelte. Der Wind toste ihm in den Ohren und ihm war nicht klar, ob er sich darüber freuen sollte oder nicht, dass er ihre Worte nicht verstehen konnte.

In Wahrheit hatte er den schrecklichen Verdacht, dass Hawk den Wert, den Nathaniel für seinen Vater hatte, ziemlich überschätzte. Es stimmte, dass Walter sich einen Sohn mit einer an Besessenheit grenzenden Inbrunst gewünscht hatte, zumindest war das Nathaniel immer erzählt worden. Nathaniels Onkel, der ältere Bruder seines Vaters, hatte nicht nur das Familienvermögen, das Anwesen und den Titel des Baronets geerbt, sondern auch drei stramme, intelligente Söhne gezeugt. Walter hatte es ihnen allen bitter übelgenommen und war entschlossen gewesen, einen eigenen Sohn zu zeugen, als ein Emblem und Zeichen seiner Männlichkeit.

Margaret, Nathaniels Mutter, hatte Walter zunächst Hollington eingebracht. Dann eine Tochter, Jane, die mit ihrem Mann, einem Marineoffizier, der oft auf See war, und ihren vier Kindern in Kent lebte. Als Nächstes war Susanna gekommen; noch eine Enttäuschung für Walter. So hatte er Margaret wieder und wieder geschwängert, trotz der Warnung des Arztes, dass schon die ersten beiden Schwangerschaften sie beinahe umgebracht hatten. Nathaniel wusste nicht genau, wie viele Babys sie verloren hatte, bevor sie es geschafft hatte, ihn zur Welt zu bringen.

Walter hatte endlich seinen Sieg errungen, und obwohl er nach allem, was man hörte, seine Frau aufrichtig betrauerte, argwöhnte Nathaniel, dass Walters größte Trauer darin lag, dass sein Sohn völlig darin versagte, der Sohn zu sein, den er sich gewünscht hatte. Zu sagen, dass er eine Enttäuschung war, wäre eine milde Untertreibung gewesen. Für einen Moment gestattete er sich die kindliche Sehnsucht nach der Mutter, die er nie gekannt hatte. Sie hatte ihr Leben für seines gegeben und er war sich sicher, dass das kein guter Tausch gewesen war. Er hätte auch sie sehr enttäuscht. Ein Schwachkopf und ein Sünder, das war er.

»Die Zeit ist um«, verkündete Hawk und riss ihn aus seinen auf Abwege geratenen Gedanken. Dann verengten sich die blauen Augen. »Warum siehst du so schuldbewusst aus?«

»Es ist n… nichts«.

Mit einem großen, kraftvollen Schritt überwand Hawk die Entfernung zwischen ihnen. Die Reling drückte sich in Nathaniels Rücken. Hawk beugte sich vor und überragte ihn. »Welch heroische Idee auch immer dir im Kopf herumspuken mag, vergiss es. Wenn du irgendeinen Angriff auf mich oder meine Männer versuchst oder in einer irgendwie fehlgeleiteten Vorstellung eines edlen Opfers über Bord springst, werden wir dieses Handelsschiff jagen und deine Schwester und ihr ungeborenes Kind leiden lassen. Und wie sie leiden werden. Habe ich mich klar ausgedrückt oder muss ich noch deutlicher werden?«

Nathaniel schüttelte den Kopf und versuchte verzweifelt, sich von Hawks spöttischem Grinsen abzuwenden. Ohne Rückzugsmöglichkeit war er eingequetscht. Der Körper des Mannes vor ihm war wie eine undurchdringliche Mauer, seine Willensstärke unbezwingbar. Hawk hatte recht. Über Bord zu springen, wäre Selbstmord, und Nathaniel hatte nicht die geringste Chance, auch nur einen der Männer auf diesem Schiff zu überwältigen, ganz zu schweigen von fünfzig von ihnen. Er war gefangen.

»Noch Fragen?«

»Von wem habt ihr dieses Schiff gestohlen?« Die Wörter schossen ihm durch den Kopf und rutschten ihm irgendwie heraus. Nathaniel presste leicht verspätet die Lippen zusammen, das Blut rauschte ihm in den Ohren.

Hawk richtete sich auf, als sei er beleidigt worden. Er knurrte: »Dies ist mein Schiff. Ich habe sie bei einer Wette fair und ehrlich gewonnen. Es war dein Vater, der versucht hat, sie mir zu stehlen.«

»Ich verstehe nicht. Warum?«

Er stieß hervor: »Es spielt zwar keine verdammte Rolle, was du verstehst oder nicht. Aber nach jahrelanger Mühsal hatte ich endlich mein eigenes Schiff. Ich erwog, Handelsfracht damit zu befördern, aber ich wollte mehr für mein Land tun, obwohl …«

Nathaniel wartete ein paar Sekunden und sah, wie Hawks Kiefer sich verspannte. »Obwohl was?«

»Nichts«, spuckte er aus. »Man verlieh mir meinen Kaperbrief, der es mir erlaubte, feindliche Schiffe zu überfallen. Ich war ein stolzer Partner der Krone und bekämpfte den spanischen Herrschaftsanspruch auf die Westindischen Inseln. Ich hielt mich an die Regeln und teilte meine Gewinne. Ich war respektabel. Anständig.«

»Wie kam es dann, dass Ihr so tief gefallen und zu dem hier geworden seid?«

Hawks große Hand krampfte sich um Nathaniels Kehle. Seine Ringe gruben sich schmerzhaft in die Haut und schnitten ihm die Luft ab. Er beugte sich wieder zu ihm herab. »Mäßige deine Zunge, Junge, oder ich schneide sie dir ab und füttere dich damit. Verstanden?«

Nathaniel nickte verzweifelt. Entsetzen packte ihn, seine Lungen brannten. Er strampelte mit den Füßen, wollte um sich treten und sich irgendwie befreien. Hawk lockerte seinen Griff, aber er ließ ihn nicht los. Wenigstens reichte es, um wieder atmen zu können. Gerade so.

Mit versteinertem Gesicht neigte Hawk sich noch näher an ihn heran. »An jenem Tag vor sieben Jahren am Admiralitätsgericht, just als ich meine mit Schätzen beladene spanische Galeone vorführte, verkündete dein Vater, dass der spanische Captain von grausamer Behandlung berichtet hätte, die in direktem Widerspruch zu den Regularien stand. Ich wusste, dass dies eine Lüge war, denn der Mann war stets in meiner Kabine geblieben und völlig unverletzt. Ich sorgte dafür, dass kein Gefangener auf meinem Schiff jemals zu Schaden kam.«

»Vielleicht hatte der spanische Captain gelogen«, quetschte Nathaniel hervor. Um ehrlich zu sein, klang die Geschichte genau nach seinem Vater. Alles, um seine selbstsüchtigen Bedürfnisse zu befriedigen.

 

»Natürlich konnte der Captain selbst nichts mehr dazu sagen, da er in der Nacht zuvor in der Obhut des Gerichts plötzlich gestorben war. Aber mein Kaperbrief wurde für ungültig befunden und im Handumdrehen wurde ich zum Piraten erklärt. Mein Schiff und meine Männer wurden ebenfalls beschlagnahmt.« Wieder verstärkte er den Griff seiner Hand an Nathaniels Hals. »Dein Vater und seine Kumpane verurteilten mich und meine Mannschaft zum Tod am Galgen, ohne eine Sekunde zu zögern. Sie behielten die Galeone für sich und gaben nur einen kleinen Anteil des Goldes an Englands Schatzkammer weiter, habe ich später gehört. Dein Vater ist ein gieriger Lügner. Und du bist wahrscheinlich ganz genauso wie er.«

Nathaniel rang nach Luft. Zitternd griff er nach Hawks Handgelenken und versuchte, den krallenartigen Griff zu lösen.

Sicher will er mich jetzt doch noch nicht töten?!

Glücklicherweise löste Hawk seine Finger. Nathaniel spürte wieder die Reling im Rücken und er verfluchte seinen Vater.

Verdammt seien er und seine unersättliche Gier.

Nathaniel hatte schon viele Geschichten über die sich ausbreitende Korruption in der Neuen Welt gehört, und ein spanisches Schiff voller Schätze wäre mit Sicherheit sehr verlockend. Wieder einmal schwebte er wie ein dunkler Schatten über Nathaniels Leben, selbst in seiner Abwesenheit. Nathaniel sah Hawks grimmigen Ausdruck und die Bitterkeit, die sich auf seinen vollen Lippen abzeichnete. Aber Walter musste warten. Er musste sich mit dem Bösewicht auseinandersetzen, der ihn jetzt in seinen Krallen hielt. Der Geruch von Schweiß und Meerwasser drang in Nathaniels Nase.

Hawk fuhr fort. »Dein Vater und seine Mitverschwörer unterschätzten meine Männer, Mr. Snell und viele dieser Mannschaft. Sie überwältigten die Männer, die sie verhaften wollten, und befreiten mich aus meiner Zelle. Wir eroberten die Manta zurück, aber dieser Name passt nur zu einem gesetzestreuen Schiff. Seit wir als Piraten gebrandmarkt wurden, hielt ich eine Änderung für angebracht. Sie heißt jetzt Damned Manta.« Wieder griff er fester zu. »Und ich garantiere nichts mehr in Bezug auf das Wohlergehen der Gefangenen.«

Damit stieß er Nathaniel zurück unter Deck und in Richtung seiner Kabine, vor der ein nervöses Mitglied der Crew mit einem Metallwerkzeug in der Hand stand. »Schloss ist repariert, Captain.« Er übergab den eisernen Schlüssel.

Nathaniel stolperte Hals über Kopf in die Kabine, als Hawk ihm einen kräftigen Stoß gab, und verfehlte nur knapp die Kante des Schreibtisches. Er rappelte sich auf und hasste sich dafür, wie er vor Hawk kauerte und es ihn gleichzeitig danach drängte, sich vor ihm unter dem Schreibtisch zu verkriechen. Die Vorstellung, noch einmal gewürgt zu werden, war jedoch unerträglich.

Der Pirat schnaubte verächtlich, dann drehte er sich um, streifte seinen langen Mantel ab und hängte ihn an einen Haken. Sein dunkles, offenes Hemd bauschte sich leicht an den Ärmeln. Neben seinem Schwert und einer Pistole erhaschte Nathaniel einen Blick auf zwei Dolchgriffe, die er sich in den Gürtel geschoben hatte – einer davon gehörte Nathaniel selbst. Ihm war schwindelig vor Scham. Was für ein Versager er war. Er hatte es nicht mal geschafft, den Feind mit seiner Klinge zu kratzen, bevor sie ihm weggenommen worden war wie einem unartigen Kind. Was würde Mr. Chisholm von ihm denken?

Dass ich in allem ein Versager bin, nicht nur im Studium.

Er blinzelte, als die Tür sich schloss und der Schlüssel umgedreht wurde. Hawk war fort ohne ein weiteres Wort.

Danke, Gott, für die kleinen Gnaden.

Je weniger er unter der Gegenwart des Wüstlings leiden musste, desto besser. Immer noch auf dem Boden liegend, sah er sich in seiner Zelle um. Sonnenlicht fiel durch die quadratischen Fensterscheiben am Heck und erwärmte die Luft. Auf der Backbordseite der Kabine waren Bücherregale in den Rumpf eingebaut, in denen dicke Bücher und gerollte Seekarten ordentlich verstaut lagen. Er machte sich jedoch nicht die Mühe, näher heranzugehen, um einen der Titel zu entziffern. Auf der Steuerbordseite befanden sich eingebaute Fächer. Die große Truhe, aus der Hawk die Decke geholt hatte, stand ebenfalls dort. Nathaniel konnte es kaum ertragen, sie anzufassen, und er trat sie weit von sich fort in die andere Ecke des Raumes.

Er zog die Knie an die Brust. Gedanken wirbelten in seinem Kopf umher. Hätte er mit dem Dolch mehr anrichten können? Er sah Mr. Chisholms Gesicht vor sich, und Sehnsucht durchfuhr ihn. Sein Lehrer war ihm immer so tüchtig erschienen, so stark und intelligent. Nathaniel schloss die Augen und rief sich Mr. Chisholms kräftiges Kinn, seine grünen Augen und sein blondes, zu einem Pferdeschwanz zurückgebundenes Haar in Erinnerung. Die Breite seiner Schultern und die Art, wie sein Mantel sich an die kräftige Brust schmiegte.

Mr. Chisholm zwinkerte. »Die Welt da draußen in den Kolonien ist gefährlich. An Land und auf See.«

Nathaniel untersuchte behutsam das glänzende Metall in seiner Hand und drehte den glatten Holzgriff zwischen seinen Fingern. »Sie schenken mir das?« Sein Herz pochte fast schmerzhaft.

»Ich weiß, dass die meisten Lehrer eher ein Buch oder etwas Ähnliches verschenken würden, aber ich fürchte, das wäre bei Euch eher eine Verschwendung. Meint Ihr nicht auch?«

Das meinte er in der Tat. Nathaniel sehnte sich danach, ihn in seine Arme zu ziehen und seine Lippen auf den Streifen nackter Haut über Mr. Chisholms Halstuch zu drücken. Seit er ein Junge war, hatte er davon geträumt und wusste zugleich, dass sein Tutor ein guter, anständiger Mann war, kein Sünder wie Nathaniel. Er bewunderte ihn dafür, während er gleichzeitig daran verzweifelte.

Nachdem er wie ein Gentleman Mr. Chisholms Hand geschüttelt hatte, sah er mit einem Knoten in der Kehle zu, wie Mr. Chisholm bis zum Ende der Auffahrt ritt, um die Kurve bog und für immer verschwand.

Plötzlich gegen Tränen ankämpfend, riss Nathaniel seine Augen auf. Er saß immer noch auf dem Boden der Kabine des Piratenkönigs. Das hier war die Wirklichkeit. Er war entführt worden. Dies war nicht irgendein Albtraum, aus dem er nassgeschwitzt, aber ansonsten unversehrt wieder aufwachen würden.

Sein Lehrer hatte versucht, ihn so gut er es vermochte, vor der Welt abzuschirmen, aber auf so etwas konnte man sich nicht vorbereiten. Nathaniel vermisste ihn schmerzhaft, er sehnte sich nach seiner beruhigenden Anwesenheit, seinen freundlichen, wohlüberlegten Antworten und Ratschlägen. Sie hatten nicht genug Vermögen besessen, um Nathaniel in Cambridge oder Oxford einzukaufen, und Mr. Chisholm hatte Walter gewarnt, dass er, Nathaniel, einfach nicht die Eignung für einen Akademiker oder Juristen besäße. Das war seine wohlwollende Art gewesen, zu sagen, Nathaniel sei nicht intelligent genug.

Selbst die Kirche kam nicht infrage, denn die Fähigkeit zu lesen war eine grundlegende Voraussetzung. Nicht, dass Nathaniel auch nur den geringsten Wunsch verspürte, Geistlicher zu werden. Er hatte an die Marine gedacht, aber Walter hatte darauf bestanden, dass Nathaniel zuerst Eliza heiratete. Seine Studien waren ein steter Kampf gewesen, so lange er zurückdenken konnte.

Während Susanna gerne Stunde um Stunde mit Lesen verbrachte, hatte sich Nathaniel immer danach gesehnt, draußen zu sein, zu rennen, zu klettern und zu schwimmen, sich zu bewegen. Worte auf Papier schienen sich ihm nicht zu enthüllen und so zu fließen, wie sie es für andere zu tun schienen. Wenn Susanna ihm laut vorlas, schien sie nie zu stolpern oder sich im Dschungel der Buchstaben zu verirren. Die Wörter strömten aus ihr heraus wie Wasser, versehen mit Sinn und Betonung. Nathaniel verstand alles, was er hörte, aber mit Tinte auf Papier geschrieben, verwirrten ihn die Worte.

Als sie noch Kinder gewesen waren, hatte sie ihm geholfen, sich Wörter zu merken, hatte ihm erklärt, was sie bedeuteten, und hatte ihn besser unterrichtet als jeder Lehrer, selbst besser als der liebe Mr. Chisholm. Sie würde eine wunderbare Mutter sein, geduldig und freundlich, mit einem schalkhaften Zug, von dem er hoffte, dass er ihr für den Rest ihres Lebens erhalten bliebe. Einmal, als er noch ein kleiner Junge gewesen war, hatte Nathaniel seinem Tutor gestanden, dass er die Diener um ihre physische Arbeit beneidete. Mr. Chisholm hatte ihm einen ungewöhnlich strengen Blick zugeworfen und gesagt: »Gesprochen wie ein privilegierter Junge, der niemals dienen wird.«

Er hatte recht gehabt und die Scham darüber, dass er so unzufrieden mit seinem Los war, während es vielen anderen noch viel schlechter ging, quälte Nathaniel immer noch. Er wünschte sich einfach, sich nicht so falsch zu fühlen. Falsch auf so viele Arten …

Mr. Chisholm war dann schnell wieder sanfter geworden und hatte reumütig gesagt, dass der Storch ihn wohl im falschen Haus abgegeben haben musste, bevor er ihn wieder mit lateinischen Konjugationen quälte. Wenn es jemals ein nutzloses Unterfangen gegeben hatte, dann war es dieses gewesen. Er lachte trocken auf.

Der Storch.

Als Mr. Chisholm festgestellt hatte, dass Nathaniel alt genug war, um über die wahre Entstehung von Babys und über die Geburt aufgeklärt zu werden, hatte Susanna es ihm längst in allen Einzelheiten geschildert. Er wusste immer noch nicht genau, wie sie es erfahren hatte, denn die prüde Jane war nie eine Tratschtante gewesen.

Susanna.

Ging es ihr gut? Er war nicht imstande, sie zu trösten, und die Verzweiflung kehrte zurück, gemeinsam mit einer Welle der Einsamkeit, die ihn umgeworfen hätte, wenn er nicht schon auf dem Boden gekauert hätte. Wieder schloss er die Augen und Erinnerungen erfüllten seine Gedanken. Als er die Storchen-Theorie infrage gestellt hatte, hatte Susanna ihm zugeflüstert, dass sie zusehen könnten, wenn der Hengst die neue Stute schwängerte, und dass dies alles erklären würde. An diesem regnerischen, grauen Tag hatten sie sich auf dem Dachboden in eine Ecke der Scheune verkrochen, flach auf dem Bauch liegend, die Mäntel durchnässt, und sich mit Vaters aufwendig verziertem und doch völlig funktionalem Fernglas abgewechselt. Auf der Koppel hatte die Stute gewiehert und war hin- und hergerannt, bis sie schließlich in die Ecke getrieben und bestiegen wurde.

»Das hat Vater mit Mutter gemacht?«, hatte Nathaniel voller Grauen geflüstert.

Susanna hatte geschnaubt. »Nein, so machen es nur die Tiere. Frauen liegen auf dem Rücken. Aber sonst ist es das Gleiche.«

Den Hengst zu beobachten, der sich die Stute zu Willen machte, hatte Nathaniels Blut auf eine Weise in Wallung gebracht, die er nicht gekannt und nicht verstanden hatte. Als er dann irgendwann morgens in feuchten Laken aufgewacht war und sein Schwanz scheinbar beschlossen hatte, ein Eigenleben zu führen, hatte er oft Hand angelegt, das Bild des Hengstes wieder und wieder vor Augen. Kohlrabenschwarz, mit kraftvollen Hinterläufen, hatte er die bebende Stute bezwungen. Sein Glied hatte, als er sie in die Enge getrieben hatte, ungeheuer groß und dick ausgesehen, und Nathaniel hatte sich vorgestellt, wie sich dieses heiße, eisenharte Fleisch im Inneren anfühlen musste.

Als er von einem seiner älteren Cousins erfahren hatte, was Sodomie bedeutete, hatte das tief in ihm etwas Beunruhigendes aufgewühlt. Während seine Freunde der benachbarten Anwesen davon geträumt hatten, die Röcke einer Dame zu heben oder ihre sahneweißen, zarten Brüste zu berühren, war Nathaniel von den Reizen der Frauen unberührt geblieben. Nicht nur, dass er schwachsinnig war – er war obendrein ein Perverser. Es verlangte ihn nach einem Schwanz: hart, dick und unerbittlich. Manchmal reichten Regen oder Schlamm oder auch nur ein lebhafter Wind aus, um lebhafte Erinnerungen an diesen Hengst an jenem Frühlingstag wachzurufen. Da er in England lebte, war das ziemlich unberechenbar und oft geschehen.

Ihn schauderte bei dem Gedanken, ein unglückliches Mädchen zu einem Leben mit einem Dummkopf zu verdammen, der kaum zwei Wörter lesen konnte, bevor er stockte, und außerdem ein Sünder mit einem unnatürlichen Makel war. Er wusste, dass er sich bemühen sollte, seine Veranlagung zu überwinden, aber alle Versuche hatten ihn an der Aussichtslosigkeit verzweifeln lassen. Vielleicht wäre es sowohl für die arme Elizabeth Davenport als auch für ihn besser, wenn die skrupellosen Piraten zu seinem Verhängnis würden.

Sein sündhaftes Verlangen danach, sich mit Männern zu vergnügen, ja, von ihnen verzehrt zu werden, war nur umso stärker geworden, je mehr er versuchte hatte, es zu unterdrücken. Es hatte mehrere Male gegeben, als er sich Susanna voller Verzweiflung hatte anvertrauen wollen, aber er hatte ihre Zurückweisung stets zu sehr gefürchtet.

 

Nathaniel blinzelte. Irgendwann hatte er die Augen geöffnet, und er war immer noch in der fremden Kabine. Wenn er doch nur auf der Proud William von Susannas Schnarchen aufwachen könnte. Seine Kehle zog sich schmerzhaft zusammen. Gott, würde er sie jemals wiedersehen? Er konnte nicht einfach nur hier sitzen. Er musste versuchen, etwas zu tun. Irgendetwas! Mit einem Auge in Richtung Tür schlich er auf Zehenspitzen über den quietschenden Boden. Wahrscheinlich würde der Pirat für einige Zeit fortbleiben. Er hielt inne, um seine Schuhe aufzuknöpfen und seine Wollsocken auszuziehen, und warf beides in die Ecke, in der er eigentlich bleiben sollte. Erleichtert spreizte er seine Zehen auf den ausgetretenen Planken.

Als er in den Schubladen stöberte, fand er dunkle Kleidung – Hosen und Hemden. Und ein paar helle Leinenunterhosen. Keine Strümpfe oder Westen, denn was sollte ein Pirat schon damit anfangen? Nathaniel konnte einen kurzen Stich der Eifersucht auf diese Freiheit nicht leugnen. Er knöpfte seine eigene, verhasste Weste auf und warf sie ebenfalls in die Ecke. Ganz sicher war er sich nicht, wonach er suchte. Hatte er geglaubt, er würde über eine Waffe stolpern und dann … was? Am besten nicht nur den Piratenkapitän, sondern gleich die ganze Mannschaft erledigen? Trotzdem suchte er weiter.

In der Truhe befanden sich nur noch mehr Wäsche und Krimskrams. Der dunkle Schreibtisch dominierte den größten Teil der Kabine und war der Tür zugewandt, die seitlich in der Nähe des Backbordrumpfes eingebaut war.

Das Bett wiederum war in die Wand neben der Tür eingelassen. Rote Samtvorhänge waren mit gelben Troddeln auf beiden Seiten des Bettes zurückgebunden. Die einst leuchtenden Farben hatte die Sonne verblassen lassen. Dem Staub nach zu urteilen, der auf dem Samt lag, waren die Vorhänge schon seit einiger Zeit nicht mehr geschlossen oder ausgeschüttelt worden. Die Bettwäsche war zerknittert, wenn auch erstaunlich weiß. Nathaniel warf einen Blick auf seine eigene kratzige, muffige Decke.

Gleichzeitig auf Schritte im Korridor lauschend, untersuchte er den breiten, dunklen Holztisch. Er hatte eine rötliche Maserung und war gut konstruiert worden. Das Holz reichte an der Vorderseite und an den Seiten bis zum Boden, was ihn zu einem einzigartig soliden Möbelstück machte. Der geschnitzte Stuhl dahinter war aus einem fast schwarzen Holz gefertigt. Die hohe Rückenlehne war in Form eines geflügelten Vogels geschnitzt, natürlich ein Adler, der über Schlangen schwebte. Der Hals einer Schlange war im Schnabel des Adlers gefangen, dessen Krallen sich in die Kreatur bohrten. Die Fangzähne der Schlange waren offensichtlich nutzlos, egal, wie sehr sie sich dagegen wehrte. Dieser Stuhl war mehr als ein Möbelstück. Er war eine unmissverständliche Aussage. Das Sitzkissen darauf, wiederum aus rotem Samt, wurde gern genutzt.

Der Schreibtisch selbst war aufgeräumt. Eine Seekarte lag zusammengerollt neben dem dicken, zugeklappten Logbuch des Captains. Tintenfass und Federkiel standen daneben. Ein geschwungener silberner Leuchter mit fast ausgebrannten Kerzen diente als Beleuchtung, Wachstropfen waren auf den Schreibtisch gelaufen und dort getrocknet. Für einen etwaigen Gast gab es an diesem Tisch keinen zweiten Stuhl, vielleicht ein Zeichen dafür, dass der Pirat nicht viel Wert auf Rücksprache mit anderen legte. Der Schreibtisch selbst hatte natürlich noch ein paar Schubladen. In der untersten fand er ein paar Flaschen Rum und Portwein.

Als Nathaniel die oberste Schublade herauszog, hörte er einen dumpfen Schlag und Stimmen vor der Tür. Das Herz schlug ihm bis zum Hals und erneut schoss Panik pochend durch seine Adern. Er flüchtete in seine Ecke und drückte sich auf der furchtbaren Decke an die Wand. Dann wartete er, die Augen auf die Tür gerichtet, darauf, dass der Schlüssel sich im Schloss umdrehte.

Es geschah jedoch nichts. Die Minuten vergingen, ohne dass jemand eintrat. Die Damned Manta segelte weiter, ihr Rumpf knarrte und schaukelte sanft. Würde das Handelsschiff Primrose Isle zu dem Zeitpunkt erreichen, den ihr Captain vorhergesagt hatte? Und würde er seinem Vater wichtig genug sein, sodass er versuchen würde, Nathaniel zu retten? Würde er die letzten Tage seines Lebens eingesperrt in diesem Raum verbringen, entweder allein oder mit einem Monster als Gesellschaft? Er war sich nicht sicher, was schlimmer war, und fuhr mit den Fingern über die zarte Haut an seiner Kehle, die nach Hawks grober Behandlung immer noch schmerzhaft pochte.

Dann stellte er sich vor, wie er mit Susanna nachmittags über das Deck der Proud William geschlendert war, ihre schlanke Hand in seiner Armbeuge. Er konnte den Klang ihrer heiteren Stimme hören, die ihm eine Geschichte nach der anderen vorlas. Sinnlose Tränen brannten in seinen Augen. Er beugte den Kopf und betete dafür, dass sie und ihr Baby ihre Reise nach Primrose Isle unbeschadet überstehen würden. Wenn ihr Vater sie nur nicht auf diese Fahrt in die Neue Welt geschickt hätte. Nathaniel verdrängte seine Angst zugunsten des Unmuts. Vater hatte lächerlich hohe Beträge dafür ausgegeben, Primeln und andere Blumen von England aus auf die Insel zu importieren. Laut Susannas Mann war er wütend geworden, als sie keine Wurzeln entwickelt hatten, weil die tropischen Pflanzen sie mit ihren blühenden Ranken und leuchtenden Blüten erstickt hatten.

Die Insel war zuvor unbewohnt gewesen, und Nathaniel hoffte insgeheim, dass sie für die nächsten Jahre auch wild und ungezähmt bleiben würde. Doch er wusste, egal wie widerstandsfähig die Vegetation war, wenn England dazu entschlossen war, sie zu überrennen, würde es das auch tun, ohne Rücksicht darauf, wie viele dabei leiden und versklavt werden würden.

Vor ein paar Jahren, als Walter bei einem seiner seltenen Besuche zu Hause gewesen war, hatte Nathaniel mit ihm beim Frühstück über die gerechte Entlohnung der Arbeit in den Kolonien gestritten. Wenn das Gesetz besagte, dass ein Mensch in England kein Sklave sein durfte, wie konnte das dann in der Neuen Welt anders und richtig sein? Er sah immer noch die rotgesichtige Wut seines Vaters über diese radikalen Ideen vor sich. Die Spucke war ihm nur so aus dem Mund geflogen, als er hatte wissen wollen, ob Nathaniel diese Einfälle von seinem Hauslehrer hatte. Mr. Chisholm in Schutz nehmend, hatte Nathaniel gesagt, dass er sie aus einer Quäker-Flugschrift hatte, die er bei einem Ausflug nach London gesehen hatte.

»Und wie konntest du das lesen, du Einfaltspinsel?«, hatte sein Vater gefragt.

Nathaniel hatte darauf beharrt, dass ein Junge aus der Nachbarschaft sie ihm weitergereicht hatte. Tatsächlich hatte es diese Flugschrift gegeben, aber Mr. Chisholm hatte sie ihm vorgelesen.

Vielleicht könnte Nathaniel für Fairness auf Primrose Isle kämpfen. Nicht, dass er darin besonders gut sein würde, er mit seinem beschränkten Geist … Trotzdem, er würde es tun. Wenn er überlebte. Er rollte sich in der Ecke seines Gefängnisses zusammen, wo er für die nächsten … wie lange noch? Vier Wochen, hatte der Teufel gesagt, bleiben würde. Und wenn Walter sich weigerte, zu bezahlen … Nein. Nathaniel durfte sich jetzt darüber nicht den Kopf zerbrechen. Ihm blieb nur die Hoffnung, dass dies hier nicht sein blutiges Ende sein würde. Wieder berührte er seinen Hals und spürte den Druck von Hawks mächtiger Hand. Er musste seine Gefangenschaft ertragen, und wenn er seine Angst nicht beiseiteschieben konnte, würde er sich noch selbst in den Wahnsinn treiben. Nathaniel war machtlos allem gegenüber – mit Ausnahme seines Geistes. Und wenn er es schaffte, sich zu beschäftigen, würde er dies überleben. Er sah sich in seinem Gefängnis um und sein Herz sank. Natürlich war das leichter gesagt als getan, denn bewegen konnte er sich hier nicht. Selbst nachdem er von Piraten gekidnappt worden war, würde ruhelose Langeweile scheinbar einmal mehr zu seinem Begleiter werden. Mit Sicherheit war die Kajüte des Captains die größte auf dem Schiff – aber darin gefangen, würde Nathaniel innerhalb weniger Tage verrückt werden.