Kriminologie

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KAPITEL 2

[75] Kriminalitäts- und Kriminalisierungstheorien

§ 6 Notwendigkeit und Begrenztheit von theoretischen Vorstellungen

1 [76] Theorien sind gedankliche Operationen zur Erfassung der Wirklichkeit über den wahrgenommenen Einzelfall hinaus. Sie machen Aussagen über die Struktur der Welt, in der wir leben. Sie stellen den Versuch dar, unsere Wahrnehmungen zu ordnen, Erwartungssysteme zu stabilisieren und eine Kontrolle über die Umwelt zu erlangen. Theorien vereinfachen die Komplexität der Wirklichkeit so weit, dass ein Verständnis von Wirkungszusammenhängen möglich wird. Eine wissenschaftliche Theorie will eine Optimierung zwischen Abstraktion und Konkretisierung finden: Sie will einerseits durch Reduktion der Komplexität der Wirklichkeit deren Begreifbarkeit, Kommunizierbarkeit und systematische Überprüfbarkeit ermöglichen. Andererseits will sie die Wirklichkeit in ihrer Komplexität so weit erhellen, dass die jeweils interessierende Fragestellung möglichst reich an Eindrücken „wirklichkeitsverankert“ und „wirklichkeitsgesättigt“ beantwortet werden kann. Während Theorien, die sich quantitativer Verfahren bedienen, starkes Gewicht auf die Reduktion der Komplexität von Wirklichkeit legen, sind Theorien, welche qualitative Verfahren benutzen (→ § 2 Rn 11 ff.; § 5 Rn 2 ff.), um eine möglichst gegenstandsadäquate Wahrnehmung der Wirklichkeit bemüht.

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Die Wahl eines bestimmten theoretischen Zugangs zum Thema Kriminalität ist eine unabdingbare Voraussetzung dafür, Kriminalität überhaupt wahrnehmen und sinnvolle Aussagen darüber machen zu können. Dies gilt nicht nur für die systematischen Wahrnehmungen der kriminologischen Wissenschaft, sondern bereits für Alltagswahrnehmungen von Kriminalität. Denn alle sozial Agierenden entwickeln routinemäßig für sich überzeugende schematische Vorstellungen über den Sinn des eigenen Handelns und dasjenige anderer. Jede Wahrnehmung menschlichen Handelns ist deutungsabhängig und damit theoriegeleitet, mag die Anleitung auch unbewusst geschehen und es sich dabei um eine unüberprüfte Alltagstheorie handeln.1 Insofern theoriegeleitete Vorstellungen unabdingbar sind, ist es vorzugswürdig, sich die theoretischen Hintergründe der eigenen Vorstellungen bewusst zu machen und sie kritisch zu prüfen, anstatt diese unreflektiert hinzunehmen.

I. Entwicklung kriminologischer Theorien

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[77] Die Suche nach Verhaltensursachen gleicht einer unendlichen Geschichte. Möglichen Erklärungen ist gemeinsam, dass sie von der Gegebenheit Kriminalität ausgehend nach Gründen ex post suchen und diese in Defiziten vermuten. Die Ursachen für Kriminalität stehen nie fest; stets sind neue Erklärungen möglich, die alte zur Makulatur werden lassen. Während in den anfänglichen Phasen der Kriminologie (→ § 4) eine „Schule“ – oder zumindest die Auseinandersetzung mit ihr – das kriminologische Denken einer Epoche bestimmte, ist im 20. Jahrhundert das Monopol einer epochalen Kriminalitätserklärung gebrochen und hat einem freien Markt vielfältiger Erklärungsangebote Platz gemacht. Im Zuge dessen haben sich unterschiedliche Vorstellungen über kriminelles Verhalten, seine fördernden, es stabilisierende oder unterbrechende Einflüsse und – ganz allgemein – über das Bewirken von Kriminalität durch die biologische Anlage, die Gesellschaft und die Kriminalitätskontrolle entwickelt. Dabei steht seit dem Bedeutungsverlust der klassischen Schule (→ § 4 Rn 4 ff.) die Frage nach den individuellen Ursachen kriminellen Verhaltens im Zentrum.

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Diesen Vorstellungen ist gemeinsam, dass sie kriminelles Verhalten nach Erklärungsmustern bestimmen, welche für menschliches Handeln überhaupt gelten. Kriminelles Verhalten folgt keinen besonderen Gesetzmäßigkeiten, sondern den allgemeinen Regeln menschlichen Handelns. Ob ich danach frage, warum Menschen kriminell werden, zu übermäßigem Alkoholkonsum neigen oder ihre Partner:innen sozial toleriert demütigen: Die Gründe für all das sind nach einheitlichen Vorstellungen über menschliches Handeln zu bestimmen, welche in der menschlichen Natur, den sozialen Abhängigkeiten oder in sonstigen Einflussfaktoren liegen mögen. Aus der Erklärung krimineller Betätigung nach allgemeinen Verhaltenskonzepten folgt, dass eine Klärung der Zusammenhänge kriminellen Handelns pars pro toto zur Klärung der Zusammenhänge menschlichen Handelns überhaupt beiträgt. Ebendies macht die wissenschaftliche Befassung mit dem Verbrechen von Anbeginn zu einer „Schule der Bildung“ und einer „umfassenden Menschheitswissenschaft“.

5 Die Unterschiede zwischen verschiedenen kriminologischen Schulen und Theorieansätzen rühren daher, dass sie unterschiedliche Vorstellungen über das Wesen menschlichen Handelns favorisieren. Die vertretenen Handlungsmodelle lassen sich in einem ersten Schritt grob danach einteilen, ob ihnen ein deterministisches oder ein indeterministisches Menschenbild zugrunde liegt. Die Klassische Schule (→ § 4 Rn 4 ff.) vertrat in der Tradition der Aufklärung eine indeterministische [78] Position, die das Individuum als rational und eigenverantwortlich handelnd versteht. Die biologisch-anthropologische Schule (→ § 4 Rn 19 ff.) und die aufkommenden soziologischen, auf das soziale Milieu bzw. die Anomie der gesellschaftlichen Strukturen bezogenen, Erklärungen (→ § 4 Rn 17; § 9 Rn 3 ff.) beruhen hingegen auf einem deterministischen Menschenbild. Dieses erachtet menschliches Verhalten als durch nicht von Wahlfreiheit getragene, empirisch benennbare Faktoren im Sinne statistischer Wahrscheinlichkeit kausal determiniert. Aus den jeweiligen Verhaltenskonzepten ergeben sich je unterschiedliche praktische Konsequenzen für die Prävention und die strafrechtliche Intervention.

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Schaubild 2.1: Menschenbilder und Verhaltenskonzepte der frühen Kriminologie


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Aus der fortschreitenden Differenzierung jener Verhaltenskonzepte entwickelten sich die heute vertretenen theoretischen Zugangswege zur Kriminalität, die wir Kriminalitätstheorien nennen. Das deterministische Verhaltenskonzept ist die Basis für die Mehrzahl der bis in die 1980er Jahre entwickelten Kriminalitätstheorien. Ihm entspricht erkenntnistheoretisch das Erklärungsmodell und das Selbstverständnis der Kriminologie als einer vorzugsweise quantitativ vorgehenden, die Ursachen kriminellen Verhaltens empirisch erforschenden [79] Erfahrungswissenschaft (→ § 2 Rn 8 f.). Dem indeterministischen Verhaltenskonzept folgen in Reinform die ökonomische Kriminalitätstheorie (→ § 12 Rn 12 ff.), ferner ansatzweise die Kontrolltheorien (→ § 11) und jene theoretischen Zugangswege zur Kriminalität, welche, wie der symbolische Interaktionismus (→ § 13 Rn 1 ff.), am sinnhaften Verstehen des Handelns interessiert sind und qualitative Methoden bevorzugen (→ § 2 Rn 11 ff.).

8 Die Entwicklung im 20. Jahrhundert hat somit zur Ausbildung verschiedener kriminologischer Theorien geführt, die – jede in sich schlüssig – aus einer jeweiligen bezugswissenschaftlichen Perspektive (→ § 1 Rn 4) eine bestimmte Wahrnehmung von Kriminalität vermitteln – und damit jeweils in ihrer Aussagekraft begrenzt bleiben. Der Großteil der auf diese Weise entstandenen Theorien befasst sich mit der Erklärung der Kriminalitätsentstehung und -verbreitung. Diese Theorien werden ätiologische Theorien (Ätiologie = Ursachenforschung) oder auch Kriminalitätstheorien genannt. Die meisten aktuellen Theorien dieser Art studieren Kriminalität als eine besondere Form menschlichen Verhaltens und nehmen an, dieses Verhalten sei mit einer empirisch belegbaren Wahrscheinlichkeit von vorgegebenen Umständen der Biologie oder der Psyche des Individuums oder von dessen sozialer Umgebung abhängig. Die Annahme einer solchen Abhängigkeit im Sinne einer Wahrscheinlichkeitsbeziehung charakterisiert die Theorien als deterministisch (→ § 3 Rn 12; § 4 Rn 13 f.). Durch die Prüfung und Bestätigung dieser Wahrscheinlichkeitsdetermination in Erfahrungstests wird das kriminelle Verhalten aus seiner Abhängigkeit von den es beeinflussenden Faktoren erklärt. Daneben haben sich Kriminalisierungstheorien entwickelt, die den Blick auf die Kriminalitätskontrolle richten, sich also mit den förmlichen Reaktionen auf Kriminalität und den Verläufen der Reaktionsprozesse befassen. Diese Theorien sind zugleich auch Kriminalitätstheorien, sofern sie das Auftreten „sekundärer Devianz“ (→ § 13 Rn 7) aus der Übernahme eines durch Kontrollvorgänge erzeugten kriminellen Selbstbildes bestimmen.

II. Zur Überprüfbarkeit kriminologischer Theorien

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Erklären (→ § 2 Rn 8 f.) meint, beobachtete Regelmäßigkeiten von Ereignissen und die kausalen Beziehungen zwischen ihnen einer Theorie zuzuordnen.2 So könnte die Beobachtung, dass heute in X-land trotz gleicher Bevölkerungsgröße [80] mehr Straftaten registriert werden als vor zehn Jahren, mit der inzwischen gestiegenen Arbeitslosigkeit zusammenhängen. Bei der Erklärung wird zunächst eine Aussage („Registrierte Kriminalität hängt mit gemeldeter Arbeitslosigkeit zusammen“) aufgestellt, die einen solchen Zusammenhang behauptet und empirisch überprüfbar ist (durch Vergleich der Registrierungen von Kriminalität und der Arbeitslosigkeit heute mit den Daten von vor zehn Jahren). Diese Aussage wird als Hypothese bezeichnet. Die Hypothese formuliert eine Beziehung (Grund-Folge-Relation) zwischen dem Effekt Kriminalität und den diesen Effekt mutmaßlich bedingenden davon unabhängig existierenden Faktoren. Die bedingenden Faktoren werden unabhängige Variablen, der dadurch bewirkte Effekt abhängige Variable genannt. Dann wird mit empirischen Forschungsmethoden überprüft, ob die Hypothese mit der sozialen Wirklichkeit übereinstimmt.3

„Warum platzte über Nacht der Kühler meines Autos? Der Tank war bis an den Rand mit Wasser voll; der Deckel war fest verschlossen; es war kein Anti-Frost-Mittel eingefüllt worden; der Wagen stand im Hof; die Temperatur sank während der Nacht wider Erwarten auf einige Grade unter Null. Dies waren die Antecedensdaten. In Verbindung mit den Gesetzen der Physik – insbesondere dem Gesetz, dass sich das Volumen von Wasser ausdehnt, wenn es gefriert – erklären sie, dass der Kühler geplatzt ist. Mit der Kenntnis der Antecedensdaten und der Gesetze hätten wir das Ereignis mit Sicherheit voraussagen können. Dies ist in der Tat ein gutes Beispiel für eine Erklärung.“4

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Die erklärende retrospektive Annahme, das erhöhte Kriminalitätsvorkommen stehe mit der inzwischen gestiegenen Arbeitslosigkeit in Zusammenhang, lässt sich zwanglos in die prospektive prognostische Aussage umkehren, dass bei weiter steigender Arbeitslosigkeit vermutlich auch die Kriminalität weiter zunehmen werde. Daraus wird die praktische Bedeutung kriminalätiologischer Aussagen deutlich: Eine zureichende Ursachenerklärung gibt die Grundlage für eine Kriminalitätsprognose (→ § 10 Rn 26 ff.) und damit für ein Kriminalitätsvorbeugungsprogramm ab.5

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Doch Vorsicht: Wir sollten uns an die vom Kritischen Rationalismus bezeichneten Grenzen erfahrungswissenschaftlicher Realitätserfassung (→ § 3 Rn 6 ff.) und an die insoweit beschränkte Verwertbarkeit von am Erklärungsmodell [81] orientierten empirischen „Sozialdaten“ (→ § 3 Rn 12) für die praktische Kriminalpolitik erinnern, um diesen Gedanken nicht zu überzeichnen. Empirische Belege für theoretische Annahmen über das Zustandekommen, die Entwicklung und die Verbreitung kriminellen Verhaltens können die Kriminalitätsentstehung nicht definitiv „klären“. Empirisch erweisbar ist nur die Widerlegung, nicht die Bestätigung einer Theorieannahme. Die Erfahrungsübereinstimmung einer Hypothese besagt bloß, dass die Vermutung ihrer Wahrheit in den veranstalteten Erfahrungstests nicht entkräftet wurde, die Hypothese also in einem vorläufigen, mit prinzipiellen Irrtumsmöglichkeiten behafteten Sinne als bestätigt anzusehen ist. Kriminalätiologische Aussagen bleiben allemal Wahrscheinlichkeitsannahmen, deren „Wahrheit“ empirisch nicht endgültig beweisbar ist.

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Demgemäß ist es unmöglich, die „letztlichen“ oder „eigentlichen“ Ursachen der Kriminalität erfahrungswissenschaftlich auszumachen.6 Kriminalätiologische Theorien können nur Faktoren benennen, deren kausaler Zusammenhang mit kriminellem Verhalten einstweilen mehr oder weniger gut auf kontrollierte Beobachtung gestützt werden kann. Die Feststellung eines solchen Zusammenhanges lässt lediglich die probabilistische Aussage zu, dass bei bestimmten Ausgangsbedingungen die Wahrscheinlichkeit späteren Auftretens bestimmter Kriminalitätsphänomene größer ist als bei Fehlen dieser Ausgangsbedingungen. Nicht hingegen lässt sich daraus ableiten, die Kriminalitätsphänomene seien durch die Ausgangsbedingungen in einem strengen Sinne verursacht. Eine solche unzulässige Verwechslung von Korrelation mit Kausalität liefe auf den induktiven Fehlschluss post hoc, ergo hoc (weil Ereignis X nach Ereignis Y gehäuft auftritt, wurde Ereignis X durch Ereignis Y bewirkt) hinaus.

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Induktionen – also Schlüsse von erfahrungsgestützten Einzelaussagen auf allgemeine Gesetzmäßigkeiten – sind nicht logisch zwingend. Wenn wir beobachten, dass Schwäne weiß gefiedert sind und Gefangene aus armen und zerrütteten Familien stammen, neigen wir zu generalisierenden Aussagen wie: Alle Schwäne sind weiß, sämtliche Strafgefangene entstammen armen und zerrütteten Familien. Solche Aussagen bezeichnen nicht Gesetzmäßigkeiten, sondern enthalten bloß einstweilen durch Erfahrung gestützte Hypothesen, die an neu zu gewinnender Erfahrung scheitern können. Mit der Beobachtung eines schwarzen Schwans oder der Feststellung, dass es Strafgefangene aus reichen und intakten Familien gibt, werden die vorläufig bestätigten Hypothesen widerlegt.7 Stets ist [82] mit der Widerlegung auf Erfahrung beruhender Annahmen über die Kriminalitätsentstehung zu rechnen. Die Suche nach den „eigentlichen“, „letzten“ Kriminalitätsursachen ist deshalb unnütz. Diese Frage zu stellen, hieße, mit Ursachen zu rechnen, die kriminelles – wie überhaupt menschliches – Handeln in einem zwingenden Sinne, nicht nur im Sinne statistischer Wahrscheinlichkeit, determinierten. Richtig verstanden, behaupten kriminalätiologische Theorien deshalb keine zwingende Determiniertheit kriminellen Verhaltens durch bestimmte Ursachen, sondern nur einen einstweilen unwiderlegten statistisch begründbaren Wahrscheinlichkeitszusammenhang von Kriminalität mit bestimmten Einflussfaktoren.

14 Diese Einsicht relativiert die Erklärungskraft entsprechender vor allem ätiologischer Theorien. Die Feststellung bestimmter Zusammenhänge schließt nämlich prinzipiell nicht aus, dass es andere Zusammenhänge im Sinne intervenierender Variablen8 gibt, die nicht geprüft wurden und die unter Umständen vom gewählten theoretischen Ausgangspunkt her gar nicht überprüfbar sind. Die Beobachtung, dass Kinder und Jugendliche mit großen Füßen statistisch über eine höhere Intelligenz als solche mit kleinen Füßen verfügen, lässt keinen Schluss von der Schuhgröße auf die Intelligenz zu, weil dabei das Alter als intervenierende Variable unberücksichtigt bleibt, das sowohl die Schuhgröße wie die Entwicklung der Intelligenz beeinflusst. Erfahrungsgestützte Theorien sind nichts weiter als Orientierungen des Verstandes, welche die freie Assoziation disziplinieren, indem sie diese in eine bestimmte Richtung lenken – und damit von anderen gleichermaßen konsistent verfolgbaren Denkrichtungen entfernen. Nicht die Theorien, sondern nur die mit Hilfe der Theorien erbrachten Erklärungen können wahr oder falsch sein. Erfahrungsgestützte Theorien erweisen sich bei der Anwendung als mehr oder weniger plausibel und brauchbar, um getätigte Wahrnehmungen zu interpretieren und sinnvolle Zusammenhänge zwischen Einzelbeobachtungen herzustellen.

III. Reichweite und Synthese der Theorien

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Genau genommen suggeriert der Begriff „Kriminalitätstheorie“ eine falsche Vorstellung. Er weckt die uneinlösbare Erwartung, die Kriminalitätsgenese mittels konsistenter empirisch überprüfbarer Theorieannahmen adäquat und umfassend darstellen und erklären zu können. Dies ist jedoch unmöglich, weil [83] die theoretische Wahrnehmung notwendig perspektivgebunden und eine endliche Menge von Wahrnehmungsperspektiven nicht nachweisbar ist. Je nach gewählter theoretischer Prämisse fallen das Abstraktionsniveau und die Reichweite der zu prüfenden Annahmen sowie die empirischen Prüfmöglichkeiten unterschiedlich aus. Die Unsicherheit bei der Beantwortung der eingangs (→ § 1 Rn 1 ff.) gestellten Frage: „Was ist Kriminalität und was ist daran erklärungsbedürftig?“ deutete die Problematik bereits an.

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Wegen der Unterschiede hinsichtlich Fragestellung, Abstraktionsgrad, Erklärungsreichweite und empirischer Prüfmöglichkeit sind die einzelnen Kriminalitätstheorien auch nicht ohne weiteres vergleichbar. Entgegen des begrifflichen Anscheins wollen und können Kriminalitätstheorien nicht die Kriminalität und die damit assoziierbaren Realphänomene in toto erklären, sondern weisen nur einzelne Zugangswege zu jeweils besonderen Aspekten des Kriminalitätsphänomens. Sie sind Anwendungen bezugswissenschaftlicher (→ § 1 Rn 4) Theorien auf das Problemfeld Kriminalität, von dem aus der gewählten bezugswissenschaftlichen Perspektive immer nur die jeweils fachimmanent zugänglichen Aspekte ins Blickfeld gelangen.

17 Für jede bislang vertretene Kriminalitätstheorie ist charakteristisch, dass sie weder notwendige Bedingungen kriminellen Verhaltens angibt, noch die von ihr angegebenen Bedingungen zur Erklärung des Auftretens kriminellen Verhaltens hinreichen. Wieso keineswegs jede Integration in eine deviante Subkultur kriminelles Verhalten auslöst, kriminelle Karrieren trotz gleichbleibend negativer Einflüsse mitunter unvermutet abbrechen, frühkindliche Fehlentwicklungen oder psychopathologische Auffälligkeiten großteils anders als durch Delinquenz kompensiert werden, lässt sich bislang ebenso wenig zulänglich beantworten wie unter welchen Randbedingungen ein Ladendiebstahl anomietheoretisch oder frustrationstheoretisch zu beantworten ist. Die Ableitung prognosetauglicher Aussagen aus kriminalitätstheoretischen Annahmen scheitert an der derzeit unüberwindlichen Schwierigkeit, die Zusatzvoraussetzungen erschöpfend und zugleich hinlänglich präzise zu benennen, welche die behauptete Stringenz der jeweiligen kriminalitätsindizierenden Faktoren erst herstellen.

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Kriminalitätstheorien sind darum bloß Fragmente einer universellen Erklärung der Kriminalitätsgenese, Versatzstücke, die in ihrer Eindimensionalität prinzipiell inadäquat ausfallen. Sie liefern Teilerklärungen bestimmter Phasen der delinquenten Entwicklung, deren Gesamtverlauf einstweilen nicht adäquat darstellbar [84] ist. Deshalb sind sie nicht im (anspruchsvollen) Wortsinne Theorien der Kriminalität, sondern nützliche heuristische Vorstellungshilfen oder modellhafte Ansätze mit je beschränkter Perspektive und Reichweite.

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Diese zurückhaltend-skeptische Einschätzung macht die Beantwortung der kriminalätiologischen Frage nach den Bestimmungsgründen für das Zustandekommen, die Entwicklung und die Verbreitung kriminellen Verhaltens schwieriger denn je. Die meisten von uns werden – mehr oder weniger intuitiv – eine bestimmte Ursachenerklärung anderen vorziehen. Der Glaube an die Abhängigkeit strafbaren Verhaltens von Einflüssen der biologischen Anlage, des sozialen Umfeldes oder der Gesellschaftsstruktur verleitet zur gleichsam statischen Annahme eines strengen Ursache-Wirkungs-Zusammenhanges, die der Komplexität und Dynamik von Kriminalitätsphänomenen nicht gerecht wird. Eine solche statische Annahme ist verlockend, weil sie eine erschöpfende Erklärung von Kriminalitätsphänomenen behauptet. Der Hinweis, dass eine bestimmte Anlage, ein bestimmtes soziales Umfeld oder eine bestimmte Gesellschaftsstruktur keineswegs zwingend zu kriminellem Verhalten führt, irritiert die um eingängige und endgültige Antworten bemühten Gemüter. Machen wir uns frei von solchen allzu simplen Vorstellungen und seien wir bereit, anzuerkennen, dass die Kriminalitätsentstehung komplexer ist, als die um vorschnelle Problemlösungen bemühten eindimensionalen Alltagsvorstellungen.

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Da jede Theorie nur bestimmte, ihrem Wahrnehmungshorizont zugängliche Relevanzstrukturen des Kriminalitätsphänomens berücksichtigt, liegt es nahe, sich um eine Kombination verschiedener Theorien zu bemühen.9 Doch ist die Erwartung, dass die einzelnen Theorien in gegenseitiger fruchtbarer Ergänzung ein aussagekräftiges Gesamtbild der Kriminalität und ihrer Bezüge formen würden, wohl nicht einzulösen. Die Theorien liefern eben nicht Teile eines Puzzles, die einfach zusammengelegt werden könnten, sondern gleichsam Stücke mit runden und eckigen Kanten, die nicht ohne Lücken zusammenpassen, und deren unterschiedliche Höhen sich nicht auf die Zweidimensionalität des Puzzlebildes reduzieren lassen.

 

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Der erste Versuch einer Synthese verschiedener theoretischer Zugangswege zur Kriminalität erfolgte durch den Vereinigungsgedanken von Liszts. Kennzeichnend dafür war das Bemühen, den Anlage-Umwelt-Streit in einem pragmatischen Sowohl-als-auch aufzulösen (→ § 4 Rn 24 f..), das keiner bestimmten [85] theoretischen Vorstellung verpflichtet war, sondern sich allein von dem praktischen Anliegen leiten ließ, aus der Erkenntnis der Ursachen des Verbrechens Ratschläge für seine Verhütung und die Besserung von Kriminellen zu entwickeln.

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Unabhängig von jenem historischen Beispiel sind Zweifel anzumelden, ob es überhaupt möglich ist, verschiedene theoretische Zugangswege zur Kriminalität ohne die Entwicklung eines diese Theorien überspannenden gemeinsamen theoretischen Dachs („Metatheorie“) zu bündeln. Die Annahme, es gebe viele verschiedenartige Kriminalitätsursachen, lässt nämlich offen, worin diese konkret bestehen und in welchem Ausmaß sie jeweils für die Entstehung von Kriminalität verantwortlich sind. Um den Vereinigungsgedanken in einem theoretisch anspruchsvollen Sinne formulieren zu können, müsste man die verschiedenen Einflussfaktoren auf die Entstehung von Kriminalität kennen und wissen, welchen Anteil sie jeweils besitzen. Sogar der als solcher theoretisch anspruchslose Vereinigungsgedanke ist auf theoriegeleitete Annahmen angewiesen, weil eine zureichende Kriminalitätserklärung nicht ohne die zumindest implizite und heuristische Festlegung auf bestimmte theoretische Prämissen auskommt. Auch das induktive Sammeln von vermeintlich mit Kriminalität zusammenhängenden Fakten beruht auf theoretischen Vorentscheidungen, durch welche die Faktenauswahl eingegrenzt und strukturiert wird. Der Verzicht auf eine bewusste theoretische Orientierung bewirkt keine Theorieabstinenz, sondern bloß die ungeprüfte Übernahme spekulativer Alltagstheorien. Diese Probleme werden uns bei der heutigen Version des Vereinigungsgedankens, dem multifaktoriellen Ansatz (→ § 10 Rn 24 ff.), noch beschäftigen.