Kriminologie

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§ 9 Sozialstrukturelle Konzepte

1 Während die bisher erörterten biologischen und psychischen Kriminalitätserklärungen auf das Individuum bezogen sind und davon ausgehen, dass insbesondere gewalttätige Kriminelle Abweichungen von der Durchschnittspopulation der (mehr oder weniger) Rechtstreuen aufweisen, welche durch systematische Beobachtung zu ermitteln sind, thematisieren die nun vorzustellenden Konzepte gleichsam den am weitesten vom Individuum entfernt liegenden Pol möglicher Kriminalitätsursachen. Indem wir individuelle mit sozialstrukturellen Kriminalitätserklärungen konfrontieren, spannen wir einen weiten Bogen, innerhalb dessen anschließend Sozialisationstheorien platziert werden können.

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[117] Unter Sozialstruktur versteht man die charakteristischen Merkmale des sozialen Beziehungsgefüges einer bestimmten Gesellschaft. Untersuchungen der Sozialstruktur befassen sich mit der vergleichenden Betrachtung verschiedener Gesellschaften und der Veränderung einer Gesellschaft im Zeitverlauf. Spezifische Sozialstrukturen führen zur Ausbildung besonderer Netzwerke, innerhalb derer Individuen in unter bestimmten Aspekten gleichförmige Lebensbedingungen eingebunden werden. Von diesen Netzwerken sind jene am stabilsten gewoben, die eine Gesellschaft vertikal in Schichten oder Klassen gliedern und damit soziales Kapital (Bildung, Status, berufliche Stellung, Einkommen) ungleich verteilen. Die Einbindung in solche Netzwerke eröffnet bestimmte Möglichkeiten der Selbstverwirklichung und prägt damit das Selbstverständnis und die Lebenschancen der Individuen. Deren Verhalten ist ein durch die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Netzwerk und letztlich durch die Sozialstruktur geprägtes Sozialverhalten. Daraus folgt demnach, dass auch kriminelles Verhalten sozialstrukturelle Ursachen hat und nicht anders als sozialstrukturell erklärt werden kann.

I. Anomietheorien

3 Eine herausgehobene Stellung innerhalb der sozialstrukturellen Theorien spielen die verschiedenen Formen der Anomietheorie, die schon früh einen solchen Erklärungsansatz vorgelegt und nicht an Aktualität eingebüßt hat.

1. Modernisierung und Anomie (Durkheim)

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Émile Durkheim (1858-1917) begründet Ende des 19. Jahrhunderts das sozialstrukturelle Kriminalitätsverständnis und bezieht dieses auf die Struktur der damaligen modernen europäischen Industriegesellschaft. Diese Gesellschaft ist für Durkheim durch raschen sozialen Wandel, Arbeitsteilung und stabile soziale Schichtung mit ungleichen Lebensverhältnissen gekennzeichnet. Der soziale Wandel lässt die Einheitlichkeit, Allgemeingültigkeit und selbstverständliche Anerkanntheit religiöser und moralischer Vorstellungen schwinden.

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Im Gefolge der bürgerlichen Revolutionen und der Aufstände der arbeitenden Klasse wird das Postulat der Chancengleichheit vermittelt, das sich durch die allgemeine Schulpflicht und die Legalisierung der Gewerkschaften auch bei den unteren sozialen Schichten verbreitet und zunehmend von diesen beansprucht wird. In Wirklichkeit bleibt den Angehörigen dieser Schichten der Zugang zu [118] sozialen Privilegien aber weitgehend verschlossen. Die Arbeitsteilung zementiert die objektive, den subjektiven Erwartungen an Chancengleichheit widersprechende soziale Ungleichheit. Sie schafft kaum überwindliche vertikale Beziehungen (Unternehmer zu Arbeiter, Facharbeiter zu Tagelöhner), Abhängigkeiten der Individuen untereinander (der Schuster kann ohne den Schreiner nicht mehr leben) und bestimmt die Ausgestaltung des sozialen Nahraums (die Großfamilie mutiert zur Kleinfamilie mit räumlicher Anbindung an den Arbeitsplatz des Mannes, häuslicher Arbeit und Kinderbetreuung durch die Frau etc.). Bezugsgruppen wie die Familie sind nur noch als Segmente der sozialen Struktur wahrnehmbar und durch diese geprägt.

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Dabei ist Kriminalität nach Durkheim an sich kein erklärungsbedürftiges Phänomen, sondern normaler Bestandteil einer jeden Gesellschaft, der durch seine Sanktionierung sogar zur Stabilisierung der sozialen Struktur beitragen könne.96 In der modernen Industriegesellschaft erhalte die Kriminalität durch ihre zivil- und strafrechtliche Sanktionierung die bestehenden sozialen Unterschiede aufrecht. Erst wenn die Kriminalität als Massenereignis überdurchschnittliche Ausmaße annehme, sei dieser Anstieg besorgniserregend. Ursache eines solchen Gesamtanstiegs könnten dann weder individuelle Pathogenität noch defizitäre Nahbeziehungen sein, sondern nur Umstände, welche die Sozialstruktur krankhaft gestalten. Durkheim bezeichnet diese soziale Krankheit als Anomie.97

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Der aus dem Griechischen stammende Begriff „Anomie“ meint wörtlich „Gesetzlosigkeit“ und hier einen durch die rasche wirtschaftliche und soziale Entwicklung der modernen arbeitsteiligen Gesellschaft ausgelösten Zustand sozialer Desintegration, in dem die Gesellschaft nicht mehr in der Lage ist, die Mittel individueller Bedürfnisbefriedigung zu kontrollieren. Da die Bedürfnisse eines jeden Menschen, auch der sozial Benachteiligten, zunächst grenzenlos seien, aber nicht jeder Mensch über die gleichen Mittel verfüge, diese Bedürfnisse zu befriedigen, bedürfe es einer durch die Gesellschaft als „moralische Erziehung“ vermittelten Begrenzung. Indem die Menschen ihre Stellung in der gesellschaftlichen Hierarchie akzeptieren, lernen sie demzufolge, ihre Bedürfnisse auf ein für ihre Schicht angemessenes Niveau einzustellen. In einer krisengeschüttelten und sich umwälzenden Gesellschaft gehe dieses Korrektiv verloren, das kollektive Wertebewusstsein vermöge keine moralische Orientierung mehr [119] zu bieten und es häuften sich Abweichungen in Form von Suizid, Alkoholismus und Kriminalität.98

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Durkheim zeichnet die anomische Situation der Moderne in Grundzügen ähnlich wie Karl Marx (1818-1883): Solidarität beschränke sich auf Individuen in demselben sozialen Netzwerk.99 Im Übrigen schüre die Industriegesellschaft eher soziale Konflikte anstatt sie auszugleichen, erzwinge „entfremdete“ Arbeit und passe Menschen ohne Rücksicht auf ihre Bedürfnisse in Produktionsprozesse ein, damit sie wie Zähne in einem Zahnrad funktionieren. Zyklen von Überproduktion und Depression lösten einander ab. Zeiten relativen Wohlstands weckten erst recht für diejenigen, die sich dies nicht leisten können, den Appetit auf mehr. Moralische Skrupel schwänden angesichts aussichtslos erscheinender Erwartungen an Chancengleichheit.

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Durkheims Einfluss auf die Kriminologie und – mehr noch – die Soziologie ist kaum zu überschätzen.100 Seine Anomietheorie bleibt in Grundzügen noch heute aufschlussreich: Kriminalität als Modernisierungsfolge, als Konsequenz des Mangels an einheitlichen moralischen Wertvorstellungen und des ungezügelten Appetits auf Mehr sind aktuell relevante Stichworte. Andererseits ist die Inbezugsetzung von Eigentumskriminalität mit unerfüllten Erwartungen von Mitgliedern der Unterschicht wenig plausibel: Heute dominieren Erklärungen einer verbreiteten Eigentumskriminalität aus entsprechend verbreiteten kriminellen Gelegenheiten (→ § 22 Rn 28).

2. Anomie und der „amerikanische Traum“ (Merton)

Lektüreempfehlung: Merton, Robert K. (1968): Sozialstruktur und Anomie. In: Sack, Fritz; König, René (Hrsg.): Kriminalsoziologie. Frankfurt a. M., 283-313.

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Die Anomietheorie wird Mitte des 20. Jahrhunderts von Robert K. Merton (1910-2003) auf die US-amerikanische Gesellschaft übertragen. Merton bringt Anomie nicht mit Modernisierung und raschem sozialen Wandel, sondern mit den damaligen für ihn charakteristischen Verhältnissen in den USA in Verbindung: Relativ hohe soziale Stabilität, vergleichsweise hohe Raten registrierter Kriminalität und Übervertretung der registrierten Kriminalität in den unteren [120] sozialen Schichten. Dies führt ihn zu einer Erklärung der Eigentumskriminalität von sozial zu kurz Gekommenen aus Benachteiligung und Belastung.

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Danach ist das Auseinanderdriften der kulturellen und der sozialen Struktur der Gesellschaft entscheidend für die Entstehung abweichenden Verhaltens. Die kulturelle Struktur umfasst die von allen Gesellschaftsmitgliedern, ungeachtet ihrer verschiedenen sozialen Platzierung, als legitim anerkannten Ziele und jene Normen, die festlegen, welche Wege zum Erreichen dieser Ziele zulässig sind.101 Die Sozialstruktur hingegen umfasst faktische Beziehungen und Handlungsmöglichkeiten, die schichtspezifisch unterschiedlich verteilt sind.102 Auf diesem Weg nimmt der Ansatz die Ungleichverteilung von Gütern und Ressourcen in der Gesellschaft in den Blick.

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Die US-amerikanische Kultur ist für Merton durch das ungebremste Streben nach möglichst viel persönlichem Wohlstand gekennzeichnet. Angehäufter Reichtum sei gleichbedeutend mit hohem sozialem Prestige. Umgekehrt würden Arme als faul und unehrgeizig missachtet, auch wenn sie über persönliche Eigenschaften verfügen, die in anderen Kulturen hochgeschätzt werden. Die protestantische Arbeitsmoral, nach der man sich nicht einfach am Mitspielen erfreuen, sondern gewinnen solle, bewirke Frustrationserlebnisse bei den Verlierenden. Wer sich an den Werten der Arbeitsmoral orientiere, ehrliche harte Arbeit verrichte, Belohnungen aufschiebe und dennoch wegen seiner sozial benachteiligten Ausgangslage keine Chance habe, nennenswerten materiellen Wohlstand zu erwerben, sehe sich doppelt betrogen. Die Verbindung von Streben nach materiellem Wohlstand als primärem gesellschaftlich anerkannten Ziel mit einer dieses Ziel für viele unerreichbar machenden Sozialstruktur bezeichnet Merton als Anomie.103

 

„Nur wenn das kulturelle Wertsystem bestimmte gemeinsame Erfolgsziele für die ganze Bevölkerung über alle übrigen Ziele setzt, während die Sozialstruktur für einen großen Teil dieser Bevölkerung den Zugang zu den gebilligten Mitteln zum Erreichen dieser Ziele entscheidend einengt oder sogar völlig verwehrt, haben wir abweichendes Verhalten in größerem Umfang zu erwarten.“104

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Infolge einer egalitären Ideologie, welche die Erreichbarkeit kultureller Ziele für jede Person ungeachtet der sozialen Platzierung behaupte („vom Tellerwäscher [121] zum Millionär“), würden vor allem sozial benachteiligte Individuen einem Anomiedruck ausgesetzt. Auch sie strebten nach Wohlstand und Anerkennung. Wo die scheinbar chancenoffene Industriegesellschaft die Zugänge zu sozialen Privilegien für die Mehrheit geschlossen halte, griffen Enttäuschung und Unmut um sich.

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Merton unterscheidet fünf Arten individueller Anpassung an den auf diese Weise entstehenden Anomiedruck, die sich aus den Möglichkeiten der Annahme oder Ablehnung der kulturellen Ziele oder der institutionalisierten, also sozial gebilligten, Mittel zur Zielerreichung ergeben.

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Konformität ist danach durch die Übereinstimmung mit den kulturell anerkannten Zielen und die Beschränkung auf die Verwendung sozial gebilligter Mittel der Zielerreichung gekennzeichnet; sie ist die aus Sicht der Gesellschaft „erfolgreiche“ Anpassung. Innovation stehe hingegen mit den meisten Formen krimineller Abweichung, insbesondere der Kriminalität sozial Benachteiligter, in Zusammenhang. Dabei habe das Individuum die kulturellen gesellschaftlichen Ziele (wie sozialer Aufstieg und wirtschaftlicher Erfolg) internalisiert; es billige und verfolge diese Ziele freilich mit illegitimen, rechtswidrigen Mitteln (wie Diebstahl oder Betrug), weil ihm in der Regel die notwendigen sozial gebilligten Mittel nicht verfügbar seien.

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Schaubild 2.2: Arten der Anpassung


kulturelle Ziele institutionalisierte Mittel
+ + = Konformität
+ - = Innovation
- + = Ritualismus
- - = Rückzug
neu neu = Rebellion

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Der Ritualismus versagt sich demzufolge den Zielen der Leistungsgesellschaft, hält aber zwanghaft am Einsatz institutionalisierter Mittel fest. Die Erreichung der Ziele werde also aufgegeben bei konformem Verhalten. Rückzug ist durch Desinteresse und Apathie gekennzeichnet, wobei sowohl die sozial gebilligten [122] Ziele wie die institutionalisierten Mittel abgelehnt werden; dieser Verhaltenstyp ist nach Merton etwa bei Psychopath:innen, Landstreicher:innen, Alkoholiker:innen und anderen Drogenabhängigen anzutreffen. Die Rebellion fällt gleichsam aus dem Rahmen; sie lehnt sich gegen sozial gebilligte Ziele und Mittel auf und sucht nach grundsätzlichen Alternativen.

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Einwände gegen das Anomiekonzept Mertons sind zahlreich: Der theoretische Erklärungsraum betrifft vor allem die Eigentumskriminalität sozial Unterprivilegierter. Ausgespart bleibt die Kriminalität der Mächtigen. Das Konzept ist auf Gesellschaften zugeschnitten, in denen sozialer Aufstieg und Wohlstand als beherrschende kulturelle Ziele gelten. Für spätmoderne Gesellschaften mit multiplen Lebensformen, die teilweise nicht wohlstands- und konsumorientiert sind, schwindet ihr Erklärungswert.

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Darüber hinaus liefert die Anomietheorie eher Denkanregungen auf hohem Abstraktionsniveau als konsistent nachprüfbare Erklärungen. Sie benennt nicht die Bedingungen, unter denen struktureller Anpassungsdruck zu abweichendem Verhalten führt, und erklärt nicht, warum viele Menschen trotz Anomiedrucks konform handeln. Individuen werden als reine Objekte sozialer Einwirkung verstanden, die unter äußerem Druck agieren. Kriminalität wird nicht im Zusammenhang mit der aktiven Teilnahme an zwischenmenschlichen Interaktionen gesehen, sondern als etwas, das infolge der gesellschaftlichen Anomie „über“ die Täter:innen kommt und dem sie – im Sinne des deterministischen Verhaltenskonzepts (→ § 4 Rn 13 ff.) – gleichsam zwanghaft ausgeliefert sind. Registrierte Kriminalität wird fälschlich (→ § 15 Rn 6; § 16 Rn 11 ff.) mit realem Kriminalitätsvorkommen gleichgesetzt. Konformität und Abweichung werden als dichotomische Gegensätze dargestellt, ohne Raum zu lassen für Übergänge und prozesshafte Entwicklungen von dem einen zum anderen.

3. Institutional Anomie Theory

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Eine Erweiterung und Verfeinerung des Anomiekonzepts und seiner Anwendung auf den „amerikanischen Traum“ liefern Steven F. Messner (* 1951) und Richard Rosenfeld (* 1948) mit ihrer Institutional Anomie Theory (IAT), die der Frage nachgeht, warum die USA im Vergleich zu anderen Industrienationen eine derart hohe Kriminalitätsrate aufweisen. Zur Erklärung dessen konstatieren die Autoren zum einen eine Zuspitzung des kulturellen Ungleichgewichts im Mertonschen Sinne. Danach betont der American Dream sehr stark das Streben nach materiellem Zuwachs, während der Anforderung, zur Zielerreichung [123] lediglich legitime Mittel zu verwenden, keine besondere Bedeutung beigemessen wird. Vielmehr werde verlangt, die eigenen Ziele mit möglichst effizienten Mitteln und um jeden Preis zu erreichen.105 Es herrsche eine „Allesgeht“-Mentalität, die von der Verabsolutierung des Erfolges („the winner takes it all“), Egoismus und einer Fetischisierung materiellen Wohlstands geprägt sei. Angesichts dieser Zuspitzung steigt dem Ansatz zufolge auch der Anomiedruck als zentraler Faktor zur Erklärung der hohen Kriminalitätsraten, u. a. im Bereich der schweren Kriminalität.106

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Zum anderen erweitern Messner und Rosenfeld den Ansatz von Merton auf der Makro-Ebene, indem sie die Sozialstruktur und im Besonderen die Machtbalance zwischen verschiedenen sozialen Institutionen (z. B. Wirtschaft, Gemeinwesen, Familie, Schule) einbeziehen.107 Danach haben die sozialen Institutionen verhaltenssteuernde Wirkung, indem sie stabilisierend auf Wert- und Normvorstellungen einwirken, soziale Kontrolle ausüben, aber auch Unterstützung anbieten und dadurch den individuellen Anomiedruck abmildern.108 Dies soll jedoch nur gelten, wenn sich die Institutionen in einem Zustand der Balance befinden.

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Für die USA beobachten Messner und Rosenfeld eine Dominanz der Wirtschaft im institutionellen Gefüge. Diese Dominanz zeige sich in der Entwertung (devaluation) nichtökonomischer Funktionen und Ziele sowie einer Anpassung (accomodation) an und Durchdringung (penetration) nichtökonomischer Institutionen mit ökonomischen Logiken, z. B. wenn sich das Familienleben nach dem Arbeitsmarkt richte oder die Gestaltung des Gemeinwesens lediglich ökonomischen Prinzipien folge.109 Dieses Ungleichgewicht führt dem Ansatz zufolge dazu, dass die anderen sozialen Institutionen ihre Aufgaben, nichtökonomische Normen und Werte zu vermitteln und soziale Kontrolle auszuüben, nicht mehr erfüllen können.110 Dabei verstärken sich die beiden Effekte gegenseitig, wenn die kulturell bedingte Dominanz der Wirtschaft zu einem Mangel der Regulation durch nichtökonomische Institutionen und dies wiederum zu einer Stärkung der Kultur des American Dream führt.111

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[124] Allerdings ist das Anomiekonzept in dieser Form nicht auf die USA beschränkt, sondern dominiert die Wirtschaft im institutionellen Gefüge praktisch überall – wenn auch in unterschiedlichem Maße, sodass sich Länderunterschiede auf diese Weise erklären ließen.112 So weisen Staaten mit ausgeprägteren sozialen Sicherungssystemen – beispielsweise in Form von Sozialhilfe, Krankenversicherung und vergüteter Elternzeit – eine niedrigere Rate an Tötungsdelikten auf.113 Noch allgemeiner lässt sich ein negativer Zusammenhang zwischen Ausgaben für den Sozialstaat und Kriminalitätsraten konstatieren. Länder, die einen größeren Anteil ihres BIP für soziale Sicherung ausgeben, weisen niedrigere Inhaftierungsraten auf (→ § 24 Rn 37 ff.).114 Der Ansatz kann darüber hinaus auch auf andere Formen institutioneller Anomie übertragen werden. So ist etwa zu überlegen, inwiefern es als Erklärungsansatz für die Situation in ehemals kolonialistisch beherrschten Staaten zutrifft, wenn dort Korruption, Bürgerkriegsund Bandengewalt sowie die enge Verflechtung staatlicher und krimineller Strukturen bestehen.

II. Differentielle Gelegenheiten

Lektüreempfehlung: Cloward, Richard A. (1968): Illegitime Mittel, Anomie und abweichendes Verhalten. In: Sack, Fritz; König, René (Hrsg.): Kriminalsoziologie. Frankfurt a. M., 314-338.

24 Die von Richard A. Cloward (1926-2001) und Lloyd E. Ohlin (1918-2008) entwickelte Theorie differentieller Gelegenheiten115 lässt sich als eine frühe Weiterentwicklung des Anomiekonzepts verstehen. Die Erklärung dafür, dass längst nicht alle mit Anomiedruck belasteten Personen kriminelle Handlungen verüben, findet sich gemäß der Theorie differentieller Gelegenheiten darin, dass eine unter Anomiedruck stehende Person auch Zugang zu illegitimen Mitteln – im weiten Sinne von technischem Knowhow, faktischen Gelegenheiten und Neutralisation psychischer Hemmungen – haben muss, um sich abweichend zu verhalten.116 Jugendliche aus der Unterschicht haben kaum die Möglichkeit, ein lukratives Wirtschaftsdelikt zu verüben; als Hehler:in kann sich nur etablieren, wer über gute Kontakte zu erfolgreichen Dieb:innen verfügt; eine kleinbürgerliche Erziehung, die Schuld- und Angstgefühle schürt, kann bewirken, dass [125] trotz Anomiedrucks an sich vorhandene Fertigkeiten und Gelegenheiten zu kriminellem Verhalten nicht genutzt werden. Migrant:innen, deren Aktionsradius durch bestimmte Traditionen ihres Herkunftslandes in der Öffentlichkeit beschränkt ist, haben kaum die Gelegenheit zu einer von den Behörden wahrnehmbaren Straftat.

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Hingegen eröffnen sich illegale Wege zum Erfolg nicht nur durch Bedarf und dem Vorhandensein von dazu nötigem technischem Knowhow. Eine entsprechende Motivation ist gefordert: Lukrative kriminelle Karrieren üben für manche einen starken Anreiz aus. Wer diese nicht schafft, kann in einer kriminellen Organisation mitlaufen. Wer auch das nicht schafft, gilt als „Doppelversager:in“, dem:der eine erfolgreiche Lebensgestaltung weder im sozial institutionalisierten noch im abweichend kriminellen Bereich gelingt, und der:die in der Fremd- wie in der Eigenbetrachtung als gescheiterte Existenz enden mag.117

 

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Ein angesichts der objektiven Situation überraschendes Auftreten oder Ausbleiben von Kriminalität lässt sich damit erklären, dass Menschen unterschiedliche Anspruchsniveaus haben und daher auch kulturelle Ziele subjektiv unterschiedlich definieren.118 Während der eine seine kulturellen Ziele mit einem Urlaub an der Ostsee oder auf Mallorca erfüllt sieht, empfindet die andere dies nicht als Zielerreichung und strebt nach anderen Zielen, sei es der Strandurlaub auf den Seychellen oder die Safari in Afrika.