Thomas More und seine Utopie

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Thomas More und seine Utopie
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Karl Kautsky

Thomas More und seine Utopie

Mit einem Nachwort versehen

Thomas More und seine Utopie

Karl Kautsky

Mit einem Nachwort versehen

Impressum

Texte: © Copyright by Karl Kautsky

Umschlag: © Copyright by Walter Brendel

Verlag: Das historische Buch, 2022

Mail: walterbrendel@mail.de

Druck: epubli - ein Service der neopubli GmbH,

Berlin

Inhalt

Vorworte.

Erster Abschnitt. Das Zeitalter des Humanismus und der Reformation.

Zweiter Abschnitt. Thomas More.

Dritter Abschnitt: »Die Utopia«.

Nachwort.

Vorworte.
Zur ersten Auflage.

Als ich den Plan faßte, die Anfänge des Sozialismus für die »Internationale Bibliothek« darzustellen, glaubte ich, More und Münzer zusammen in einem Bündchen behandeln zu können. Je mehr ich mich jedoch in das Studium über den Erstgenannten vertiefte, destomehr fesselte es mich, desto bedeutender und anziehender erschien mir der Verfasser der »Utopia«. Ich war ohne jede Voreingenommenheit an die Arbeit gegangen. Die heutige sozialistische Bewegung gewinnt weder durch ein günstiges Urteil über More, noch verliert sie durch ein ungünstiges über ihn. Wenn sich also schließlich ein wahrer Enthusiasmus für den Mann in mir herausgebildet hat, so ist das seiner ganzen Persönlichkeit, nicht seiner theoretischen Stellung als Sozialist zuzuschreiben. Ich habe ihm gegenüber nie die Aufgabe des Kritikers vergessen; wenn trotzdem manchem der Leser meine Darstellung Mores zu einseitig günstig erscheinen sollte, dann verweise ich ihn darauf, daß diese immer noch kühl ist im Vergleich zu fast allen anderen Biographien Mores, die keineswegs immer von Parteifreunden herrühren. Man kann sich nicht mit More beschäftigen, ohne ihn lieben zu lernen.

In England existiert eine große Literatur über Thomas More; ist er doch eine Art Nationalheld geworden. In Deutschland ist er, außer in den Kreisen der Fachgelehrten, in seinem Wesen nur wenig bekannt. Aber auch die Engländer sahen in ihm bisher bloß den praktischen Politiker und humanistischen Gelehrten; mit seinem Sozialismus haben sie nichts anzufangen gewußt.

Alles das bewog mich, More eingehender zu behandeln und dem historischen und biographischen Moment mehr Spielraum zu lassen, als ich anfangs beabsichtigt hatte. Bestärkt wurde ich darin durch den Umstand, daß mir im britischen Museum die ganze More betreffende Literatur zu Gebote stand, soweit sie von einiger Bedeutung ist. Ich hoffe, durch die Erweiterung meiner Arbeit zur Ausfüllung einer Lücke beigetragen zu haben, die in der deutschen, nicht bloß sozialistischen, sondern auch historischen Literatur besteht.

Vorliegende Schrift ist indes nicht ausschließlich für Fachgelehrte, sondern für ein größeres Publikum bestimmt. Bei diesem konnte ich nicht die Kenntnis der historischen Situation voraussetzen, deren Kind Thomas More war und ohne deren Erkenntnis er nicht verstanden werden kann. Diese Situation war aber eine so eigenartige, daß sie nicht mit wenigen Worten auseinandergesetzt werden konnte, daß zu ihrer Darlegung oft weit in die Geschichte des Mittelalters zurückgegriffen werden mußte. So ist die Einleitung entstanden, die den ersten der drei Abschnitte umfaßt, aus denen vorliegende Arbeit besteht.

Diese Einleitung erschien mir um so notwendiger, da mein historischer Standpunkt nicht der herkömmliche ideologische ist, sondern der materialistische der Marxschen Geschichtsauffassung.

Ich habe nur selten in dieser Arbeit Gelegenheit gehabt, Schriften von Marx oder Engels zu zitieren. Einzelne Zitate würden auch nur ungenügend andeuten, was ich in theoretischer Beziehung diesen beiden Männern verdanke. Man kann es durch Zitate belegen, wenn man gewisse Tatsachen und Gesichtspunkte einem Autor entnommen hat, nicht aber, wenn man dessen ganze Forschungsmethode sich anzueignen versucht. Es sei daher an dieser Stelle daran erinnert, daß, wenn es mir gelungen sein sollte, neue, beachtenswerte Gesichtspunkte aufzustellen, sie der Marxschen historischen Auffassung und Methode zu danken sind.

Diese so fruchtbare Methode, die dem Forschenden auf jedem Schritt neue und überraschende Einblicke öffnet, sowie ihre Anwendung bei der Behandlung eines Mannes und einer Zeit, wie sie interessanter kaum gedacht werden können, haben mir die zur Abfassung vorliegender Schrift aufgewendete Arbeit zu einer überaus genußreichen gemacht. Ich wünsche nur, daß deren Gegenstand auf den Leser ebenso anziehend wirken möge, wie auf den Autor. London, August 1887.

Karl Kautsky.

Zur zweiten Auflage.

Schon seit Jahren war die erste Auflage des vorliegenden Buchs vergriffen, aber meine Arbeiten entfernten mich so sehr von der Reformationszeit, daß ich nicht dazu kam, die neuere Literatur über Thomas More vorzunehmen. Erst im letzten Sommer ergab sich mir eine Gelegenheit dazu, und da fand ich zu meiner Überraschung, daß diese Literatur ungemein geringfügig ist und zu keiner einzigen Änderung von irgend welchem Belang Veranlassung gibt. Abgesehen von der Einfügung einiger unwesentlichen Details und einer erneuten Redigierung nach der formellen Seite hin ist in der Arbeit nichts geändert worden. Ich kann sie dem Leser mit dem angenehmen Bewußtsein vorsetzen, daß die zwei Jahrzehnte, die seit der Abfassung meines »More« verstrichen, weder an den Ergebnissen noch auch an der Methode, durch welche diese gewonnen wurden, das geringste erschüttert haben.

Mein »Thomas More« war die erste größere historische Arbeit, die einer der deutschen Schüler von Marx und Engels auf Grund der von unseren Meistern entwickelten materialistischen Geschichtsauffassung veröffentlichte. Diese damals noch wenig beachtete Auffassung ist seitdem in der Sozialdemokratie und mit ihr zu einer das ganze proletarische Denken beherrschenden Methode geworden; in demselben Maße sind freilich auch die kritischen Angriffe gewachsen, die gegen sie geschleudert wurden, und nicht bloß aus den Reihen unserer Gegner. Aber alle diese Kritiken und Krisen haben Gedeihen und Wachstum der materialistischen Geschichtsauffassung nicht im geringsten beeinträchtigt, und sie zeigt ihre befruchtende Wirkung ebenso in einer von Jahr zu Jahr sich mehrenden wissenschaftlichen Literatur der verschiedensten Sprachen, die uns immer tiefere Einblicke in Vergangenheit und Gegenwart erschließt, wie in der Sicherheit und Konsequenz, die sie der Praxis des proletarischen Klassenkampfes in allen Kulturländern verleiht. Derartige Wirkungen sind aber der Prüfstein, an dem eine Methode des Forschens und Denkens am sichersten erprobt wird: An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen.

Berlin, im März 1907.

Karl Kautsky.

Erster Abschnitt. Das Zeitalter des Humanismus und der Reformation.

Einleitung.

Zwei gewaltige Gestalten stehen an der Schwelle des Sozialismus: Thomas More und Thomas Münzer, zwei Männer, deren Ruf zu ihrer Zeit ganz Europa erfüllte: der eine ein Staatsmann und Gelehrter, der die höchste politische Stellung in seinem Vaterland erstieg, dessen Werke die Bewunderung seiner Zeitgenossen erregten; der andere ein Agitator und Organisator, vor dessen rasch zusammengerafften Proletarier- und Bauernhaufen die deutschen Fürsten erzitterten. Beide voneinander grundverschieden im Standpunkt, der Methode, dem Temperament, beide gleich in ihrem Endziel, dem Kommunismus, gleich an Kühnheit und Überzeugungstreue, gleich in ihrem Ende: beide starben auf dem Schafott.

Mitunter sucht man More und Münzer den Ruhm streitig zu machen, die Geschichte des Sozialismus zu eröffnen. Entsprechend der beliebten Phrase: es hat immer Arme gegeben und wird immer Arme geben, erklärt man auch, es habe immer Sozialisten gegeben und werde immer welche geben, natürlich, ohne daß sie je ihrem Ziele näher kämen, und sucht uns zum Beweis aus dem Altertum eine Reihe von Sozialisten vorzuführen, von Lykurg und Pythagoras bis zu Plato, den Gracchen, Catilina, Christus, seinen Aposteln und Jüngern.

Es fällt uns nicht ein, leugnen zu wollen, daß mit der Entwicklung der Warenproduktion sich bereits im Altertum eine Klasse besitzloser Freier entwickelte, die von den Römern Proletarier genannt wurden. Auch zeigten sich bereits im Zusammenhang damit Bestrebungen nach Aufhebung oder Milderung mancher sozialen Ungleichheiten. Aber das antike Proletariat war ein ganz anderes als das moderne. Es ist dies schon so oft dargetan worden, daß wir es nicht nötig haben, hier näher darauf einzugehen. Genug, der Unterschied zwischen dem modernen und dem antiken Proletarier ist der zwischen dem unentbehrlichen Arbeiter, auf dem die ganze Kultur beruht, und dem lästigen schmarotzenden Bummler.

Ebenso verschieden wie das antike Proletariat vom modernen, ist der antike sogenannte »Sozialismus« vom modernen. Die Verschiedenheit der beiden nachzuweisen, würde eine eigene Abhandlung erfordern, welche die ganze antike Geschichte umfassen müßte, da die verschiedenen antiken »sozialistischen« Bestrebungen, die, oberflächlich betrachtet, als Äußerungsformen desselben Prinzips erscheinen, in Wirklichkeit durch die verschiedensten Ursachen veranlaßt worden sind und den verschiedensten Tendenzen dienten.

Die herkömmliche Geschichtsschreibung glaubt im Rom des Julius Cäsar und im Athen des Demosthenes dasselbe Proletariat zu finden, wie im Paris Napoleon III. und im Berlin des kleinen Belagerungszustandes. In Wirklichkeit ist aber nicht einmal das moderne Proletariat in der kurzen Spanne von kaum 400 Jahren, in der es besteht, stets dasselbe gewesen, sondern hat in dieser Zeit gewaltige Veränderungen durchgemacht, entsprechend der gleichzeitigen ökonomischen Entwicklung. Das Proletariat von heute zeigt sich bereits in wesentlichen Punkten verschieden von dem von 1848, wie viel mehr denn von dem der Zeit der »Utopia«! Das Kapital stand damals erst am Anfang seiner ökonomischen Revolution; der Feudalismus übte noch eine ausgedehnte Macht auf das wirtschaftliche Leben der Masse des Volkes. Noch nahmen die von den neuen Interessen bedingten neuen Ideen das Gewand der dem Feudalismus entsprossenen Gedankenwelt an, und diese wirkte in traditionellen Illusionen fort, nachdem die ihr entsprechende materielle Unterlage schon in ihren Grundfesten erschüttert war.

 

Dem eigentümlichen Charakter dieser Zeit mußte auch der damalige Sozialismus entsprechen. More war ein Kind seiner Zeit; er konnte über deren Schranken nicht hinaus; aber es zeugt von der Genialität seines Scharfsinns, vielleicht zum Teil auch seines Instinktes, daß er in der Gesellschaft seiner Zeit bereits die Probleme sah, welche sie in ihrem Schoße trug.

Die Grundlagen seines Sozialismus sind moderne, jedoch von so viel Unmodernem überwuchert, daß es oft ungemein schwer ist, sie bloßzulegen. Reaktionär wird der Sozialismus Mores freilich nirgends in seiner Tendenz; dieser war weit davon entfernt, gleich manchen »Sozialreformern« des neunzehnten Jahrhunderts, in der Rückkehr zu feudalen Zuständen das Heil der Welt zu erblicken. Aber vielfach standen ihm zur Lösung der Probleme, die er vorfand, nur die Mittel der Feudalzeit zu Gebote. Da mußte er sich denn oft gar sonderbar drehen und wenden, um sie seinen modernen Zwecken anzupassen.

Wer daher ohne weiteres an den Moreschen Kommunismus herantritt, dem werden manche seiner Ausführungen verschroben, bizarr, launenhaft erscheinen, die in Wirklichkeit auf einer gründlichen und wohldurchdachten Erkenntnis der Bedürfnisse und Mittel seiner Zeit beruhen.

Wie jeder Sozialist, kann auch More nur aus seiner Zeit verstanden werden. Diese ist aber schwieriger zu verstehen, als die irgend eines späteren Sozialisten, da sie von der unseren verschiedener ist. Ihr Verständnis setzt die Bekanntschaft voraus nicht nur mit den Anfängen des Kapitalismus, sondern auch mit den Ausgängen des Feudalismus, vor allem ein Verständnis der gewaltigen Rolle, welche die Kirche auf der einen Seite, der Welthandel auf der anderen Seite damals spielten. Auch More ist durch beide auf das tiefste beeinflußt worden, und es hieße leeres Stroh dreschen oder sich mit allgemeinen Phrasen an der Oberfläche der Dinge bewegen, wenn wir versuchen wollten, ein Bild der Persönlichkeit und der Schriften des ersten Sozialisten zu entwerfen, ohne die historische Situation, deren Produkt er war, wenigstens in einigen großen Zügen gezeichnet zu haben. Dies ist die Aufgabe des ersten Abschnitts unserer Schrift.

Erstes Kapitel. Die Anfänge des Kapitalismus und des modernen Staates.

1. Der Feudalismus.

»Die Wissenschaften blühn, die Geister regen sich, es ist eine Lust, zu leben«, rief Hutten von seiner Zeit. Und er hatte recht. Für einen kampffrohen Geist, wie den seinen, war es eine Lust zu leben in einem Jahrhundert, das die überkommenen Verhältnisse, die ererbten Vorurteile kühn umstieß, die träge gesellschaftliche Entwicklung in Fluß brachte und den Horizont der europäischen Gesellschaft mit einem Male unendlich erweiterte, das neue Klassen schuf, neue Ideen, neue Kämpfe entfesselte.

Als »Ritter vom Geist« hatte Hutten alle Ursache, sich seiner Zeit zu freuen. Als Mitglied der Ritterschaft durfte er sie mit weniger günstigen Augen betrachten. Seine Klasse war damals auf der Seite der Unterliegenden: sein Schicksal war das ihre. Sie hatte nur die Wahl, zu verkommen oder sich zu verkaufen, im Dienste eines Fürsten die Existenz zu finden, die der Grund und Boden versagte.

Die Signatur des sechzehnten Jahrhunderts ist der Todeskampf des Feudalismus gegen den aufkommenden Kapitalismus. Es trägt das Gepräge beider Produktionsweisen, bietet ein wunderliches Gemisch beider dar.

Die Grundlage des Feudalismus war die bäuerliche und handwerksmäßige Produktion im Rahmen der Markgenossenschaft.

Ein oder mehrere Dörfer bildeten in der Regel eine Markgenossenschaft mit gemeinsamem Eigentum von Wald, Weide und Wasser, ursprünglich auch von Ackerland. Innerhalb dieser Genossenschaften ging der ganze mittelalterliche Produktionsprozeß vor sich. Der gemeinsame Grundbesitz sowie die in Privatbesitz übergegangenen Äcker und Gärten lieferten die Lebensmittel, derer man bedurfte, Produkte des Feldbaus, der Viehzucht, der Jagd und Fischerei, und die Rohprodukte, die innerhalb der patriarchalischen Bauernfamilie oder von den Handwerkern des Dorfes verarbeitet wurden, Holz, Wolle usw. Die private wie die öffentliche Tätigkeit innerhalb dieser Gemeinwesen ging auf Lieferung von Gebrauchsgegenständen für den Selbstgebrauch, entweder des Produzenten oder seiner Familie, oder seiner Genossenschaft, oder endlich, unter Umständen, des Feudalherrn.

Eine Markgenossenschaft war ein wirtschaftlicher Organismus, der sich in der Regel völlig selbst genügte und fast gar keinen wirtschaftlichen Zusammenhang mit der Außenwelt hatte.

Die Folge davon war eine merkwürdige Exklusivität. Wer nicht Markgenosse war, galt als Fremder, als rechtlos oder minderberechtigt, selbst wenn er sich in der Gemeinde niederließ, solange er nicht ein markberechtigtes Grundeigentum erwarb. Und die gesamte Außenwelt außerhalb der Mark war Ausland. Es bildete sich in den Köpfen der Markgenossen einerseits aristokratischer Dünkel gegen die Zuzügler von außen, die kein Grundeigentum zu erwerben imstande waren, andererseits aber jene lokale Beschränktheit, jene Kirchturms- und Kantönlipolitik, die in abgelegenen und ökonomisch zurückgebliebenen Gegenden heute noch zu finden ist. Auf diesen Grundlagen beruhten der Partikularismus und die ständische Absonderung, die dem feudalen Mittelalter eigentümlich waren.

Der wirtschaftliche Zusammenhang des feudalen Staates war unter diesen Umständen ein äußerst loser. Rasch, wie sich die Reiche bildeten, zerfielen sie wieder. Nicht einmal die nationale Sprache war ein erhebliches Bindemittel, da die wirtschaftliche Abgeschlossenheit der Markgenossenschaften die Erhaltung und Bildung von Dialekten begünstigte.

Die einzige starke Organisation, die über den Markgenossenschaften stand, war die universale, katholische Kirche mit ihrer universalen Sprache, der lateinischen, und ihrem universalen Grundbesitz. Sie war es, die die ganze Masse der kleinen, selbstgenügsamen Produktionsorganismen des Abendlandes zusammenhielt.

Die Macht des Staatsoberhauptes, des Königs, war ebenso gering, als der Zusammenhang des Staates locker war. Aus dem Staate selbst konnte das Königtum nur geringe Kraft schöpfen, es zog sie, wie damals jede andere gesellschaftliche Macht, aus seinem Grundbesitz. Je größer der Grundbesitz eines Feudalherrn, je mehr Bauern in einer Mark, je mehr Marken im Lande ihm zinspflichtig waren, desto mehr Lebensmittel, desto mehr persönliche Dienste aller Art standen ihm zu Gebote; desto größer und prächtiger konnte er seine Burg bauen, desto zahlreichere Handwerker und Künstler konnte er an seinem Hofe halten, die ihm Kleidung, Geräte, Schmuck und Waffen erzeugten; desto größer sein reisiges Gefolge, desto ausgedehnter seine Gastfreundschaft, desto mehr Vasallen konnte er durch Verleihung von Land und Leuten an sich fesseln.

Der König war meist der größte Grundbesitzer im Lande und damit der mächtigste. Aber seine Gewalt war nicht eine so übermäßige, daß sie die anderen großen Grundbesitzer ihm unterjocht hätte. Vereinigt waren sie ihm fast stets überlegen, die größten unter ihnen auch einzeln nicht zu verachtende Gegner. Der König mußte zufrieden sein, als der Erste unter gleichen anerkannt zu werden. Seine Stellung wurde eine immer kläglichere, je mehr die Feudalität sich entwickelte, je mehr die Feudalherren durch Unterjochung der freien Bauern an Macht zunahmen, je mehr infolgedessen der Heerbann zusammenschrumpfte und der König vom Ritterheer abhängig wurde. Erst dann begann die königliche und überhaupt die landesfürstliche Gewalt aus ihrer Erniedrigung sich wieder zu erheben, als die Städte genügend erstarkt waren, ihr einen festen Rückhalt zu bieten.

2. Die Städte.

Die Grundlage der mittelalterlichen Stadtgemeinde wie der Dorfgemeinde war die Markgenossenschaft. (Vergleiche darüber vornehmlich G.L. v. Maurer, Geschichte der Städteverfassung in Deutschland. 4 Bände. Erlangen 1869 bis 1871.) Den Anstoß zu ihrer Bildung gab der Handel, namentlich mit Italien. Derselbe hatte auch in der Zeit der größten Zerrüttung nach dem Untergang des Römerreichs nie ganz aufgehört. Allerdings, die Bauern bedurften seiner kaum. Sie erzeugten selbst, was sie brauchten. Aber die Landesherren, der hohe Adel, die hohe Geistlichkeit verlangten nach Gegenständen einer höheren Industrie. Ihre hofhörigen Handwerker konnten dies Bedürfnis nur teilweise befriedigen. Sie waren der Aufgabe nicht gewachsen, feine Gewebe, Schmucksachen und dergleichen zu erzeugen, wie sie Italien sandte. Die deutschen Herren holten sich diese Schätze mitunter bei den Römerzügen; aber daneben entwickelte sich doch ein regelmäßiger Handel, in Deutschland besonders genährt seit dem zehnten Jahrhundert durch die Silbergewinnung im Harz. Die Silberminen von Goslar fing man 950 zu bearbeiten an. Über den Einfluß der Harzbergwerke auf den Handel des Mittelalters vergleiche Anderson, An historical and chronological deduction of the origine of commerce. 1. Band, S.93. London 1787.

An den Höfen der weltlichen Großen und an den Bischofsitzen, sowie an gewissen Knotenpunkten, zum Beispiel dort, wo die Straßen aus den Alpenpässen den Rhein oder die Donau erreichten, an geschützten Häfen im Innern des Landes, die den wenig tiefgehenden Seeschiffen doch noch erreichbar waren, wie Paris und London, bildeten sich bald Stapelplätze von Waren, die, so unbedeutend sie uns auch heute erscheinen mögen, doch die Gier der Umwohner und auswärtiger Räuber, Normannen, Ungarn usw. erregten. Es wurde notwendig, sie zu befestigen. Damit war der Anfang zur Entwicklung der Stadt aus einem Dorfe gegeben.

Aber auch nach der Ummauerung blieb die Landwirtschaft und die Produktion für den Selbstgebrauch überhaupt im Rahmen der Markgenossenschaft die vorwiegende Beschäftigung der Bewohner des befestigten Ortes. Der Handel war zu geringfügig, dessen Charakter zu beeinflussen. Die Stadtbürger blieben ebenso lokal borniert und exklusiv wie die Dorfbauern.

Neben den alten vollberechtigten Geschlechtern der Markgenossen erstand indes bald eine neue Macht, die der Handwerker, die sich in Genossenschaften nach dem Muster der Markgenossenschaft, in Zünften, organisierten.

Das Handwerk war ursprünglich nicht Warenproduktion. Der Handwerker stand entweder zur Markgenossenschaft oder als Höriger zu einem Feudalherrn in einem gewissen Dienstverhältnis. Er produzierte für die Bedürfnisse der Markgenossenschaft oder des Hofes, wozu er gehörte, nicht zum Verkauf. Solche Handwerker, namentlich hörige, fanden sich in den Städten, besonders wenn sie Sitze von Bischöfen oder Landesherren waren, natürlich sehr zahlreich. Andere Handwerker wurden angezogen, als der Handel sich entwickelte und einen Markt für Produkte der Industrie eröffnete. Der Handwerker war jetzt nicht mehr darauf angewiesen, in einem Dienstverhältnis zu arbeiten, er konnte ein freier Warenproduzent werden. Die hörigen Handwerker in der Stadt versuchten, ihre Verpflichtungen abzuschütteln; die hörigen Handwerker der Umgebung flüchteten sich in die Stadt, wenn sie konnten und Aussicht hatten, von ihr geschützt zu werden. Das Handwerkertum nahm an Zahl und Macht zu; aber es blieb zum großen Teile ausgeschlossen von der Markgenossenschaft und damit vom Stadtregiment; dieses blieb den Nachkommen der ursprünglichen Markgenossen vorbehalten, die aus bäuerlichen Kommunisten zu hochfahrenden Patriziern wurden. Ein Klassenkampf zwischen den Zünften und Geschlechtern entspann sich, der in der Regel mit dem völligen Siege der ersteren endete. Gleichzeitig damit ging ein Kampf um die Selbständigkeit der Stadt von grund- oder landesherrlicher Oberhoheit vor sich, der auch oft zu ihrer Unabhängigkeit führte.

In diesen Kämpfen gegen die grundbesitzende Aristokratie empfand das Handwerkertum eine gewisse Sympathie mit den Bauern, die nach einer Milderung ihrer feudalen Lasten strebten. Nicht selten gingen beide Klassen Hand in Hand. Ein demokratischer, republikanischer Zug entwickelte sich durch diese Kämpfe im Kleinbürgertum, aber die frühere Exklusivität der Markgenossenschaft wurde dadurch nicht völlig überwunden, sie wurde nur auf einem etwas erweiterten Terrain zur Geltung gebracht, dem der Zunft und der Gemeinde.

 

Allerdings sprengte die handwerksmäßige Warenproduktion die Abgeschlossenheit der städtischen Markgenossenschaft; die Handwerker arbeiteten nicht bloß für die Stadt, sondern auch für das umliegende Gebiet, oft in weitem Umfang; nicht so sehr für die Bauern, die fortfuhren, fast alles, was sie brauchten, selbst zu fabrizieren, als für deren Aussauger, die Feudalherren, die ihre hörigen Handwerker verloren hatten. Andererseits bezogen die Handwerker ihre Lebensmittel und Rohstoffe vom Lande. Die wirtschaftliche Wechselwirkung, aber auch der Gegensatz zwischen Stadt und Land begann. Neben die Markgenossenschaft trat als zweite wirtschaftliche Einheit immer mehr die Stadt mit einem größeren oder kleineren Landgebiet. Die Abschließung der einzelnen Städte voneinander blieb aber bestehen trotz ihrer dauernden oder zeitweisen Verbindung zu gemeinsamen Zwecken. Der staatliche Zusammenhang wurde dadurch nicht gefördert, er wurde eher zerrissen, da die reichen und trotzigen Städterepubliken eine Unabhängigkeit erlangten, wie sie den Markgenossenschaften ganz unmöglich gewesen war. Sie bildeten neben den großen Feudalherren einen neuen Grund der staatlichen Zerrissenheit.

Die Macht der Landesherren war durch die Hilfe der Städte gegen den Adel gehoben worden. Schließlich aber drohte ihr das Schicksal, gerade von ihren bisherigen Bundesgenossen völlig vernichtet zu werden. Diese Tendenz ist jedoch nur in geringem Maße zum wirklichen Ausdruck gekommen; denn innerhalb einzelner Städte entwickelte sich eine neue Macht, die dieselben zu Bollwerken eines strammen staatlichen Absolutismus machen sollte, die revolutionäre Macht des Kaufmannskapitals, die der Welthandel erstehen ließ.

3. Der Welthandel und der Absolutismus.

Wie wir bereits wissen, hatte der Handel zwischen Italien und dem germanischen Norden auch nach dem Sturze der Römerherrschaft nie ganz aufgehört. Er hatte die Städte begründet. Aber er war zu schwach, solange er vorwiegend Kleinhandel war, ihnen einen eigentümlichen Charakter zu verleihen. Anfangs war es immer noch die Landwirtschaft im Rahmen der Markgenossenschaft, später das zünftige Handwerk, das in ihnen überwog und ihren Charakter bestimmte.

In vielen Städten war letzteres noch bis in unser Jahrhundert der Fall, bei einigen ist es noch heute. Aber eine Reihe von Städten haben sich zu Großstädten entwickelt und sind damit die Bahnbrecher einer neuen sozialen Ordnung geworden. Es sind das Städte, die durch eine besondere Gunst historischer und geographischer Umstände zu Zentralpunkten des überseeischen Handels, des Welthandels wurden.

Der überseeische Handel mit dem Orient, besonders mit Konstantinopel und Ägypten, entwickelte sich im mittelalterlichen Europa zuerst in Unteritalien, in Amalfi, wo Griechen und Sarazenen mit den Eingeborenen in anfänglich feindliche, dann interessierte Berührung gerieten. Wie tief auch der Orient gesunken war, an Kunstfertigkeit, an technischem Wissen war er dem Abendland doch unendlich überlegen. Nicht nur die uralten Produktionszweige hatten sich dort erhalten, neue waren neben ihnen aufgekommen, so die Produktion und Verarbeitung der Seide im griechischen Reiche, überdies hatte die Völkerwanderung des Islam die hochstehenden Kulturländer des fernsten Ostens, Indien und China, in viel engere Verbindung mit Ägypten und den Küstenländern des Mittelmeers überhaupt gebracht, als zur Zeit der Römerherrschaft der Fall gewesen war.

Es waren demnach große, ja in den Augen der Barbaren Europas feenhafte, unermeßliche Schätze, welche die Kaufleute von Amalfi ihnen brachten. Die Gier, solche zu besitzen, zu erwerben, erfaßte bald alle herrschenden Klassen in Europa. Sie hat mächtig beigetragen zu jenen Plünderungs- und Eroberungszügen nach dem Morgenland, die unter dem Namen der Kreuzzüge bekannt sind; sie hat aber auch in allen geographisch günstig gelegenen Städten das Streben erweckt, teilzunehmen an dem so gewinnreichen Handel. Zunächst in Norditalien.

Mit der Zeit entstand das Bestreben, die Industrieprodukte, die man einführte, nachzuahmen, namentlich die Gewebe. Schon im zwölften Jahrhundert finden wir Seidenwebereien in Palermo, betrieben von griechischen Kriegsgefangenen. Im vierzehnten Jahrhundert wurden solche Webereien in den norditalienischen Städten errichtet.

Wo die Nachahmung des Produktes gelang, fanden es die Kaufleute bald profitabler, den Rohstoff einzuführen und daheim von gemieteten Arbeitern verarbeiten zu lassen – vorausgesetzt, daß sie freie Arbeiter fanden, Arbeiter, die weder Zunftzwang noch Frondienste an der Arbeit für sie hinderten und die keine Produktionsmittel besaßen, um ihre Freiheit für sich selbst auszunützen und für sich selbst zu arbeiten, sondern die gezwungen waren, ihre Arbeitskraft zu verkaufen.

So entstanden mehrfach die Anfänge von Manufakturen und damit die Grundlagen der kapitalistischen Produktionsweise.

Zur Zeit Mores, im Beginn des sechzehnten Jahrhunderts, sind diese Anfänge jedoch nur geringfügig. Die Industrie liegt noch vornehmlich in den Händen des zünftigen Handwerks. Das Kapital erscheint noch wesentlich in der Form des Kaufmannskapitals. Aber auch in dieser Form übte es bereits eine zersetzende Wirkung auf die feudale Produktionsweise aus. Je mehr der Warenaustausch sich entwickelte, eine desto größere Macht wurde das Geld. Geld war die Ware, die jeder nahm und jeder brauchte, für die man alles erhalten konnte: alles, was die feudale Produktionsweise bot, persönliche Dienste, Haus und Hof, Speise und Trank, aber auch eine Unzahl von Gegenständen, die daheim in der Familie nicht produziert werden konnten, Gegenstände, deren Besitz immer mehr zu einem Bedürfnis wurde und die nicht anders zu erlangen waren, als um Geld. Die Geld erwerbenden, Waren produzierenden oder mit Waren handelnden Klassen gelangten immer mehr zu Bedeutung. Und der Zunftmeister, der durch die gesetzlich beschränkte Anzahl seiner Gesellen nur zu mäßigem Wohlstand gelangen konnte, wurde bald überholt durch den Kaufmann, dessen Profitwut maßlos, dessen Kapital unbegrenzter Ausdehnung fähig und, was für ihn nicht das unangenehmste, dessen Handelsgewinne enorm waren.

Das Kaufmannskapital ist die revolutionäre ökonomische Macht des vierzehnten, fünfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts. Mit ihm gelangt neues Leben in die Gesellschaft und neue Anschauungsweisen erwachen.

Im Mittelalter finden wir bornierten Partikularismus, Kleinstädterei einerseits und andererseits einen Kosmopolitismus, der den Bereich der ganzen abendländischen Christenheit umfaßte. Das Gefühl der Nationalität war dagegen sehr schwach.

Der Kaufmann kann sich nicht auf einen kleinen Bezirk beschränken, wie der Bauer oder der Handwerker, die ganze Welt muß ihm womöglich offen stehen; immer weiter strebt er, immer weitere Märkte sucht er zu erschließen. Im Gegensatz zum Zunftbürger, der oft sein ganzes Leben lang nicht das Weichbild seiner Stadt überschritt, sehen wir den Kaufmann rastlos nach unbekannten Gegenden drängen. Er überschreitet die Grenzen Europas und inauguriert ein Zeitalter der Entdeckungen, das in der Auffindung des Seewegs nach Indien und der Entdeckung Amerikas gipfelt, das aber, strenge genommen, heute noch fortdauert. Auch heute noch ist der Kaufmann und nicht der wissenschaftliche Forscher die Triebkraft der meisten Entdeckungsreisen. Der Venetianer Marco Polo gelangte schon im dreizehnten Jahrhundert nach China. Zehn Jahre nach Marco Polo wurde bereits von kühnen Genuesen ein Versuch gemacht, den Seeweg nach Indien um Afrika herum zu machen, ein Unternehmen, das erst zwei Jahrhunderte später gelingen sollte. (Vergleiche Sophus Ruge, Geschichte des Zeitalters der Entdeckungen. Berlin 1881. S. 23.) Von größerer Bedeutung für die ökonomische Entwicklung war die Anbahnung des direkten Seeverkehrs von Italien nach England und Holland, die gegen Ende des dreizehnten Jahrhunderts den Genuesen und Venetianern gelang. Dadurch wurde der Kapitalismus in diesen Ländern des Nordwestens ungemein gefördert.