Saris, Götter, Sandokan - Ein Reisetagebuch

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Saris, Götter, Sandokan - Ein Reisetagebuch
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Saris, Götter, Sandokan

Karin Itzigehl, Jahrgang 1960, ist Diplom-Handelslehrerin, Redakteurin und staatl. gepr. Sekretärin. Sie arbeitet seit 20 Jahren als Journalistin in Halberstadt (Sachsen-Anhalt). Im Oktober und November 2011 reiste sie 31 Tage durch Indien. Das vorliegende Buch ist ihr aufgearbeitetes Reisetagebuch.

Saris, Götter, Sandokan

Impressum

Saris, Götter, Sandokan

Karin Itzigehl

Published by: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

Copyright © 2013 Karin Itzigehl

Bildnachweis:

Nr. 115, 123, 127, 145, 151, 152, 153, 155, 158, 159, 160 bis 164 von Husni Suwandhi, alle anderen Fotos von Karin Itzigehl

Indien-Karte mit Genehmigung von Daniel Dalet, d-maps.com

ISBN 978-3-8442-4826-5

Vorwort

Ich war da – in meinem Traumland Indien. Bis vor zwei Jahren hätte ich das nicht für möglich gehalten. In der DDR aufgewachsen, verhinderte eine Mauer, dass ich dieses Land sehe. Später war es mein Einkommen, das immer von anderen Notwendigkeiten aufgefressen wurde. Im Herbst 2009 starb mein Vater. Er war kein reicher Mann, aber er hinterließ mir und meiner Schwester ein Sümmchen, von dem ich mir eine Indien-Rundreise erlauben konnte. Als Freie Journalistin mit einem nicht kalkulierbaren und manchmal auch nicht ausreichenden Einkommen hätte ich, wenn ich vernünftig gehandelt hätte, meinen Teil eigentlich auf die hohe Kante packen müssen, wie man so schön sagt. Aber ich hatte neun Jahre lang keine Urlaubsreise mehr gemacht, und ich fühlte mich schon lange ausgebrannt und immer mehr auch gesundheitlich angeschlagen. Ich musste nicht zum Arzt gehen, um mir sagen zu lassen, was das ist. Statt einer Kur therapierte ich mich selbst, indem ich mir meinen Lebenstraum erfüllte – eine lange Reise durch Indien. Wer weiß, was morgen ist?

Mein Indien-Traum begann, als mein Vater einmal einen Bildband über dieses Land mit nach Hause brachte. Ich war zwar noch Kind, aber verständig genug zu erkennen, dass neben den bunten Saris und den traumhaften Palästen auch eine große Armut herrschte. Das alles hautnah und selbst zu sehen, auch diese völlig andere Welt, in der Kühe heilig sind und Kinder zu Bettlern erzogen werden, das war immer ein Reiz für mich. Dann lief 1979 im DDR-Fernsehen die Serie „Sandokan, der Tiger von Malaysia“. Sie handelte von einem Piraten und Freiheitskämpfer gegen die englische Kolonialherrschaft, gespielt von Kabir Bedi aus Indien. Wie gebannt saß ich damals vor der Flimmerkiste und schaute in die ausdrucksvollen, hellbraunen Augen. … Sandokan einmal in meine Arme schließen … wenn ich das könnte …

Dieses Buch schreibe ich, weil Freunde und Bekannte nach meinen Indien-Vorträgen mich dazu immer wieder ermuntert haben. Ich hatte vielen auch von meiner vierwöchigen Reise alle paar Tage einen kleinen Bericht mit Fotos per Mail geschickt. Diese Berichte und mein Reisetagebuch sind der Grundstock für dieses Buch, das keinesfalls den Anspruch eines Reiseführers erfüllen soll. Hier werden nicht Tempel, Moscheen und historische Persönlichkeiten eingehend beschrieben, und schon erst recht nicht kann Anspruch auf Vollständigkeit bezüglich der vielfältigen Kultur Indiens erhoben werden. Es waren nur 31 Tage, aber genügend für einen Erlebnisbericht, aus dem jeder, der auch nach Indien reisen will, Tipps mitnehmen und etwas lernen kann. Und wer nicht nach Indien fahren kann, mag über dieses Buch einfach eintauchen in diese einzigartige Welt mit traumhaften Palästen und Bettlern, aufdringlichen Händlern und heiligen Kühen, vielen Erfahrungen und Begegnungen und auch, wie ich zu meinem indonesischen Reisepartner gekommen bin und wie sich die Begegnung mit dem weltberühmten Schauspieler Kabir Bedi – „Sandokan, der Tiger von Malaysia“ – dann doch tatsächlich klappte und er mich in seiner Wohnung empfing.


Die Reiseroute beginnt in Delhi und führt durch Rajasthan, Uttar Pradesh und Madhya Pradesh in den Süden und zum Schluss nach Mumbai und von dort aus über Delhi zurück.

1. Tag – 16. Oktober 2010 - Delhi

Wir rollen unsere großen Koffer über die gemusterte, braune Auslegware in den riesigen Hallen des Internationalen Indira Gandhi Flughafens in Delhi. Alles ist sehr weitläufig, modern und angenehm. Palmen in großen Kübeln sorgen für südliches Flair, und an gewellten Bronzewänden zeigen überdimensionierte Hände die Zeichen des klassischen dramatischen Kathakali-Tanzes. Wir sind angekommen in einer anderen Welt und streben – gleich nach dem ersten Geldtausch 1: 63 - zum Ausgang des Gebäudes. Dort stehen viele Menschen Spalier, in ihren Händen Pappschilder mit den Namen derer, die sie erwarten. Uns scheint keiner zu erwarten. Immer wieder gehen Husni und ich mit unserem Gepäckkarren an ihnen vorbei. Große braune Augen starren uns fragend an, Taxifahrer versuchen uns lautstark herumzukriegen, in ihre Dienste zu treten. Keine Chance, wir werden abgeholt. Einer hat nur einen Schnellhefter in der Hand. Vielleicht erwartet er uns ja. Ich gehe ganz nah heran, um die kleine Schrift zu entziffern. Da steht tatsächlich mein Name! „Das bin ich“, sage ich und schaue in zwei blaue (!) Augen. Das sollte für lange Zeit mein letzter deutscher Satz sein. Am fragenden Gesichtsausdruck des Mannes erkenne ich, dass ich ab jetzt mein aufgefrischtes Englisch benutzen muss. Ich hatte mindestens 20 Jahre lang keine zwei zusammen hängenden englischen Sätze mehr sprechen müssen. Bei der Arbeit brauche ich es nicht, und Lust darauf, es nur so für mich zu lernen, hatte ich eigentlich auch nicht. Aber jetzt vor der Indien-Reise war natürlich ein Anlass vorhanden. Der Mann mit den blauen Augen entpuppt sich als unser Fahrer. Unser Gepäck wird in einen weißen Tata verstaut, und der Mitarbeiter unseres indischen Reisebüros hängt uns zur Begrüßung Kränze aus gelben Studentenblumen um den Hals. Noch auf der Fahrt ins Hotel erhalte ich meine bereits zu Hause bestellte Airtel Prepaid Karte für mein Netbook. In gemeinschaftlicher Anstrengung installieren wir sie, und ich setze die erste Mail „Gut angekommen“ noch im Auto an meine Schwester ab. Ich bin erleichtert, dass es funktioniert. Ich wollte auf dieser Reise nicht auf Internetcafés angewiesen sein, um meine Berichte und Fotos von unterwegs nach Hause zu schicken. 32 Neugierige hatte ich in meinen Verteiler aufgenommen. Aber mindestens genauso wichtig wie die Berichte nach Hause war für mich, dass ich gegen Ende der Reise mit Kabir Bedi noch einmal über Twitter Kontakt aufnehmen kann, ohne dauernd Internet-Cafés suchen zu müssen.

Kabir Bedi war nicht nur Hauptdarsteller in den beiden Sandokan-Serien „Sandokan, der Tiger von Malaysia“ 1979 und „Die Rückkehr des Sandokan“ 1999. Er spielte und spielt auch heute noch in ca. 100 weiteren Filmen mit, zum Beispiel in „James Bond – Octopussi“, in „Palast der 1000 Träume“, „Das Geheimnis des schwarzen Dschungels“, „Der schwarze Korsar“ oder „Das Gesetz der Wüste“. Das sind meine Lieblingsfilme. Wie schafft man es, seinen Lieblingsschauspieler in Mumbai zu treffen? Als Mitglied seines deutschen Fanclubs bat ich die Vorsitzende schon lange vor meiner Reise, bei ihm anzufragen, ob er mich empfangen würde. Aber er antwortete nicht. Zu dem Zeitpunkt war er in Italien und in Kanada, vielleicht wusste er auch noch nicht, was er antworten sollte. Zwei Wochen vor dem Start wollte ich es aber dann doch nicht dem Zufall überlassen, ob ich ihn sehe oder nicht. Bei ihm klingeln wäre ein Überfall gewesen, den ich selber auch nicht gut gefunden hätte. Aber ich hätte es mir später nie verziehen, wenn ich nicht alles versucht hätte. Denn ich wusste, ich würde nur dieses eine Mal in meinem Leben in Indien weilen. Ein zweites Mal würde ich mir eine Indienreise nicht leisten können. Ich fand heraus, dass Kabir Bedi viel twittert. Diese Möglichkeit im Internet nutzte ich dann auch. Mit 140 Zeichen musste ich erklären, dass ich von seinem deutschen Fanclub bin, vom 13. bis 15. November in Mumbai weile und gern ihn und seine Lebensgefährtin Parveen zum Dinner einladen würde. Ich dachte, dass so eine Einladung auf jeden Fall mehr zu einem Ja animiert als einfach nur der Wunsch nach einem Treffen. Dann musste ich warten. Kabir Bedi schrieb an dem Tag noch vier Nachrichten ins Twitter-Universum und schien meine Frage zu ignorieren. Ich dachte: Na ja, hätte ich vielleicht auch gemacht an seiner Stelle, könnte ja jeder Fan kommen, aber ein bisschen geknickt war ich schon. Am nächsten Morgen schaute ich wie jeden Morgen in meine E-Mails und da stand: „Kabir Bedi hat dir geantwortet“. Mir ist fast das Herz in die Hose gerutscht. Der berühmte Kabir Bedi hat mir geantwortet! Ich soll ihn kurz vorher noch einmal daran erinnern, stand da. Das war kein Nein. Ich konnte es noch gar nicht glauben. Selbst wenn er dann später Nein gesagt hätte, wäre das für mich kein herber Schlag gewesen, denn er hat es dann zumindest in Betracht gezogen.

Es sind etwa 30 Grad Wärme in Delhi. Die Stützstrumpfhose gegen Thrombose fühlt sich extrem ungemütlich an. Ich hatte Zwiebellook angezogen. In Deutschland waren es 15 Grad, jetzt kann ich die zwei Pullover, die ich über dem T-Shirt hatte, ins Handgepäck stopfen. Wir halten vor einem unauffälligen kleinen Hotel namens „Residence“. Wie lange wir zum Einchecken und Frischmachen brauchen, werden wir gefragt. Nach einer halben Stunde sind wir wieder im Auto, das sich im Schritt-Tempo durch eine vierspurige Altstadtstraße quält. Dazwischen in der Mitte ist ein Zaun, der ab und zu unterbrochen ist für die Fußgänger, die auf die andere Seite wollen. Sie schlängeln sich zwischen den Autos und Rikschas, Motorrädern, Fahrrädern und Tuktuks hindurch. Letztere Gefährte haben einen Fahrersitz und zwei Sitze hinten und erhielten ihren Namen nach dem Geräusch, das sie machen. Zweizylinder. Es ist Sonntag und der Verkehr ist nicht so schlimm, erklärt unser Stadtführer Harshwardhan, den wir nur kurz Harsh nennen sollen. Ein schöner junger Inder ist er mit einem entwaffnenden Lächeln und einem sehr guten Deutsch. Wir fragen uns, wie dann wohl dichter Verkehr sein muss und ahnen so halbwegs, dass wir das bestimmt noch herausfinden werden. Weil heute Sonntag ist, ist unsere Altstadtstraße ein scheinbar endloses Buch-Antiquariat. Die Bücher liegen einfach so auf dem Gehweg in mehreren Reihen aufgestapelt. Dazwischen suchen braungebrannte Männer und Frauen nach Schnäppchen, andere eilen geschäftig an den Buchstapeln vorbei. Die meisten Frauen kleiden sich traditionell. Sie hüllen sich in Saris, sechs Meter lange Stoffbahnen mit Stickereien, Pailletten oder kunstvollen Drucken, die in verschiedenen Wickeltechniken um den Körper geschlungen werden, wobei das prächtige Ende über die Schulter geworfen oder über den Kopf drapiert wird. Die andere klassische Kleidervariante für Frauen ist der Salwar Kameez, eine Hose, dazu ein meist knielanges, kostbar besticktes Oberteil und ein Schal, dessen Enden bei den meisten über die Schultern den Rücken lang herunter hängen. Ich hatte mir zu Hause schon einen im Internet gekauft und gleich hier angezogen. Dafür habe ich wohlwollende Blicke bei Harsh und Fahrer Suresh registriert. Auch meine paar eingeübten Hindi-Worte Danyawad für Danke und Namasté, „Ich verneige mich vor Dir“, der Gruß für alle Tageszeiten, kamen gleich gut an. Die meisten Männer kleiden sich europäisch mit Hose und Hemd, nur wenige tragen die Kurta, ein langes Obergewand, zur Hose. Das sind meist die älteren Männer, die das Traditionsbewusstsein haben. Harsh führt uns in die Jami Masjid Moschee aus rotem Sandstein. Davor müssen wir unsere Schuhe ausziehen. Ein Aufpasser sitzt daneben, am Ende erwartet er 20 Rupees Trinkgeld. Freitags beten auf dem riesigen Innenhof der Moschee bis zu 20.000 Gläubige, erzählt Harsh. Ich fotografiere auch die Menschen, Frauen und Kinder. Sie sitzen unter Arkaden im Schatten. Harsh erklärt, dass sie aus anderen indischen Bundesländern kommen und dort übernachten. Ein kleines Mädchen schleppt ein Baby mit sich herum, das nicht gesund aussieht. Es ist von ihrem Bruder, erklärt die achtjährige Salman auf die Frage von Harsh. Der 27-jährige studiert Tourismuswirt und verdient sich als Stadtführer das nötige Geld für sein Studium. Ohne es zu wissen, erfüllt er mir mit dem nächsten Programmpunkt einen Riesenwunsch: Mit einer Rikscha durch die engen Gassen von Alt-Delhi zu fahren. Man hat das ja alles irgendwie schon im Fernsehen gesehen, so dass man nicht mehr so wirklich überrascht ist. Aber mittendrin zu sein in dem Gewimmel von Autos, Mopeds, Rikschas, Fahrrädern, Menschen und Kühen, das ist dann doch noch einmal etwas ganz anderes als mit dem sterilen Abstand, den eine Flimmerkiste schafft. Rechts und links Geschäfte, die Händler rufen durcheinander, die Fahrzeuge hupen unentwegt, drängen sich aneinander vorbei. Radfahrer transportieren Berge von Matratzen, zusammen geknotete Töpfe oder andere Waren auf ihrem Rücken. Was soll man machen, wenn man sich kein Auto leisten kann? Wir amüsieren uns über diesen Einfallsreichtum, aber auch über die abenteuerliche Stromversorgung: frei hängende, irgendwie verknotete und irgendwo aufgehängte Kabel, die sich über die Straßen und dann an den Hauswänden herunter hangeln. Es ist laut, anstrengend und trotzdem wirken alle gelassen und rücksichtsvoll. Ich sauge diese Fülle, dieses außergewöhnliche Lebensgefühl ein und drehe meinen Kopf nach rechts, damit Husni meine Träne nicht sieht. Ich bin wirklich da. Nie hätte ich gedacht, dass ich das erleben darf.

 

Ich merke, meine Fotos können das nicht wirklich wiedergeben, und ich nehme ein kleines Video auf. Reichlich SD-Karten habe ich ja mit, und am Abend werde ich ja alle Fotos und Video-Clips auf mein Netbook laden. Sicher ist sicher. Auch am Rajghat, dem Grabmahl von Mahatma Gandhi, lässt sich eine Träne nicht vermeiden. Ich hatte einst den Film gesehen mit Ben Kingsley in der Hauptrolle. Durch ihn bekam ich überhaupt erst einen Eindruck von diesem engagierten, gewaltlosen Kämpfer für die Freiheit und Gerechtigkeit des indischen Volkes. Er durfte die Unabhängigkeit, für die er so viel getan hatte, noch miterleben, musste aber wegen noch nicht bewältigter religiöser Konflikte 1948 durch einen Mann aus den eigenen Reihen sterben, weil er selbst kompromissbereit gewesen ist in den Verhandlungen. Das alles geht mir durch den Kopf, als ich an der schwarzen Marmorplatte stehe, auf der viele Kränze aus Studentenblumen und Lichterschalen liegen. Hier wurde er verbrannt und seine Asche dann in den nahen Yamuna-Fluss geschüttet.

Wir besuchen auch das Grabmahl von Humayun, das war der zweite Mogulherrscher, ein Gebäude aus rotem Sandstein, das später Vorbild war für die umgebenden Gebäude des Taj Mahal in Agra, erklärt Harsh. Und wir besuchen noch den Sikh-Tempel. Hier müssen wir natürlich die Schuhe, aber auch die Strümpfe ausziehen, und alle – auch die Männer – müssen ihr Haupt irgendwie bedecken. Dafür kann man sich ein kleines Kopf-Tuch ausborgen, mit dem man irgendwie blöd aussieht. Harsh gibt mir ein orangefarbenes, dann fällt mir aber ein, dass ich ja meinen Salwar Kameez an habe und meinen dazugehörigen Schal dafür nutzen kann. Aus wunderschön weißem Marmor sind die Gebäude rund um ein großes Wasserbecken, so groß wie eine Badeanstalt, hier allerdings nur für die Gläubigen zur rituellen Reinigung. Sikhs in weißen Gewändern mit dem traditionellen Dolch an der Seite gehen über den Platz. Schöne Männer. Ich sage zu Harsh, dass es schade ist, dass sie für die Frauenwelt verloren sind. „Nein“, meint er, „Sie können heiraten.“ Er ruft welche und bittet sie, sich von mir fotografieren zu lassen. Einer von Dreien entfernt sich, will das nicht, die anderen beiden lächeln mir in die Linse. Zu der Anlage gehören auch eine Großküche und ein Speisesaal, in dem Jung und Alt, Arm und Reich miteinander essen. Die Sikhs sind Anhänger einer Religionsgemeinschaft, die vor 500 Jahren im Punjab von Guru Nanak gegründet wurden. Die Religion ist ein Mix aus hinduistischen und islamischen Vorstellungen, monotheistisch und bildlos. Der Weg zur Erlösung führt über Meditation und Gotteshingabe und steht allen - unabhängig von Kaste (Gesellschaftsschicht), Rasse und Geschlecht - offen. Während der Mogulherrschaft waren die Sikhs blutigen Verfolgungen ausgesetzt. Mehr und mehr forderten sie einen eigenen Bundesstaat, fanatische Terroristen aus ihren Reihen gaben ihren Forderungen durch Gewalt Nachdruck. Als gemeinsames Zeichen der Wehrhaftigkeit führte der letzte Guru Gobind Singh die fünf K’s ein: ungeschnittenes Bart- und Haupthaar, Kamm, stählernes Armband, Kniehosen und Dolch. Als zwei Sikhs die damalige Ministerpräsidentin Indira Gandhi ermordeten, war es gänzlich vorbei mit dem angesehenen Bild der Sikhs, obwohl es Extremisten waren.

Da wir morgen schon wieder weiter fahren, laden Husni und ich unseren Reiseführer wenigstens noch zum Abendessen ein, denn er hat seine Sache gut gemacht und ich möchte so viel wie möglich erfahren über Indien und seine Menschen. Im Hotel kann man das eher selten. Es wird spät, als wir in unserem Hotelzimmer ankommen. Schnell noch Husnis und meine Fotos ins Netbook überspielen und von dort dann für Husni auch noch auf einen Stick, so sind unsere Schätze doppelt gesichert. Ich werde am letzten Tag noch zu spüren bekommen, wie sinnvoll es war, das Netbook mitzunehmen und konsequent jeden Abend die Fotos darauf zu beamen.


01 - Schuhe-Ausziehen vor jedem Tempel, ein Bewacher passt auf für 20 Rupees.


02 - Die Jami Masjid Moschee der Moguldynastie aus dem 17. Jahrhundert


03 - Salman passt auf den Sohn ihres Bruders auf.


04 - Das Grabmahl des Humayun, des zweiten Herrschers der Moguldynastie.


05 - Der Sikh-Tempel in Delhi mit einem Wasserbassin zur rituellen Reinigung.


06 - Zwei Sikhs posieren im Sikh-Tempel für ein Foto.


07 - Raj Ghat, die Gedenkstätte der Verbrennung von Mahatma Gandhi, ermordet 1948.


08 - Straßenszene in Alt Delhi

2. Tag – 17. Oktober 2011 - Mandawa

Um halb sieben macht der Wecker Krach. Ich hatte kaum geschlafen, mein Reisebegleiter hatte geschnarcht, und zusammen mit der lauten Klimaanlage war das nicht zum Aushalten. Deshalb schlief ich sofort wieder ein, und als wir beide merkten, dass wir verschlafen haben, war dann aber Tempo angesagt. Um 8 Uhr Frühstück – ich esse hier und fortan immer Toast mit Marmelade, Husni Rührei mit Kräutern und Gewürzen und Fladenbrot - und los geht es nach Mandawa. Aber nicht so schnell, noch lange fahren wir durch Delhi und begreifen die riesige Metropole, die 16,3 Millionen Menschen hat. Wir kommen zu einer Mautstelle. Sie sind wie bei uns, aber dahinter gibt es keine Fahrbahnmarkierungen. Auf der riesigen Fläche fahren alle schnell wie die Irren und kreuz und quer, und beinah hätte uns ein Militärfahrzeug gestreift, aber unser Fahrer Suresh ist ein wahres Genie. Er hat es kommen sehen und wich rechtzeitig aus. Das heißt nicht, dass Fahrbahnmarkierungen in Indien irgendjemanden dazu veranlassen, brav in der Spur zu fahren. Suresh bemerkt lächelnd, sie seien nur Dekoration. Der 38-Jährige fährt seit 20 Jahren Touristen durch Nordindien, vor allem durch Rajasthan, das größte Bundesland. Seine Familie – Frau, Sohn und drei Töchter - wohnt in Jaipur, der Hauptstadt Rajasthans. Er verrät uns, dass er umgerechnet 50 Euro pro Monat verdient, allerdings nur in den Saisonmonaten. Während des Monsuns – Juni bis September – kommt kaum ein Tourist. Dann ist er arbeitslos, und seine Familie lebt von den Trinkgeldern, die er von den Touristen während der Touren bekommt. Es kommen jetzt auch noch kleine Mautstellen, die uns ein bisschen mafiös erscheinen, Preise sind per Hand an die Butze geschrieben, und nachdem wir bezahlt haben, lässt ein gelangweilt wirkender Mann eine Strippe locker, und der Schlagbaum hebt sich. Wir amüsieren uns. Suresh erklärt, dass das kommunale Mautstellen sind. Wenn die Regierung kein Geld gibt oder sich damit Zeit lässt, bezahlen die beiden Dörfer die Straße in ihrer Mitte selbst und holen sich so das Geld wieder rein. Ein paar Dörfer weiter wird die Straße wieder schlechter. Suresh manövriert uns geschickt um Schlaglöcher herum. Manchmal müssen die Fahrzeuge auf die Ränder ausweichen, wenn sie sich begegnen. Wir fahren durch Dörfer. Am Straßenrand sind Geschäfte für Elektronik, Stände für Gemüse oder für die hier so heiß geliebten Chips in allen Varianten, dann wieder Reparaturwerkstätten für Motorräder, von denen viele in Indien fahren. Manche Geschäfte sind massiv aus Stein, andere sind Container. Neben offenen Garküchen, die einen Duft von herzhaften, mit Kräutern und Gewürzen versehenen Speisen verströmen, lungern heilige Kühe oder Ziegen. Sie wühlen im herumliegenden, manchmal muffig stinkenden Müll an den Straßenseiten und vor den Geschäften und finden immer etwas. Schöne Häuser und Tempel stehen zwischen Ruinen. Frauen mit Saris sitzen seitlich auf den Rücksitzen der Motorräder, der Stoff hängt sonst wo, ganz schön gefährlich. Wir mittendrin, fotografieren aus dem langsam fahrenden Auto, steigen auch mal aus, tauchen ein in diese völlig andere Welt und lassen uns viel Zeit, dem Treiben zuzuschauen. Indien ist kein Land, das ist ein Lebensgefühl. Entweder man ist bereit, sich darauf einzulassen oder nicht. Wir sind es beide. All den Müll und Dreck, die Armut und Unzulänglichkeiten kann ich mir natürlich auch nicht schön gucken. Aber ich wusste das vorher und wollte es ja auch mit eigenen Augen sehen, spüren, riechen. Aus dem Blickwinkel von Europäern sieht das arm aus, aber würde man einen Inder fragen, der würde das differenzieren und die Menschen einteilen in ein breites Spektrum von arm über mehr oder weniger vernünftig verdienend bis reich. Die so genannte zivilisierte Welt muss immer alles nach ihren Maßstäben bewerten und beurteilen. Aber in anderen Ländern lebt man eben anders. Während ich das Treiben auf der Straße beobachte und mir dies alles durch den Sinn geht, fällt mir ein Disput aus meiner Lieblingsserie „Sandokan, der Tiger von Malaysia“ ein. Sie spielt während der englischen Kolonialherrschaft, und Marianna streitet mit ihrem Onkel, einem hohen Repräsentanten der Ostindien-Company, die die Menschen dort wirtschaftlich ausbeutet. Der Onkel prahlt mit stolz geschwellter Brust, dass die Engländer den Malayen ihre Zivilisation und Kultur gebracht haben. Marianna entgegnet: „Aber sie wollen sie gar nicht. Sie haben ihre eigene.“ Genauso ist es hier. Ich denke, wir müssen keiner Nation sagen, wie sie leben soll. Sie kann sich von uns etwas abgucken, wenn sie will, aber für manche Verhaltensweisen haben die Inder auch ihre Gründe, die manchmal religiöser oder traditioneller Art sind, zum Beispiel hat die linke Hand nichts auf dem Ess-Tisch zu suchen, weil sie unrein ist. Die Inder schütteln die Köpfe über uns, weil wir uns mit Papier den Po abwischen. Danach kann der Po unmöglich sauber sein, sagen sie. Sie waschen sich nach dem Geschäft mit Wasser und der linken Hand ab und nur das akzeptieren sie als sauber. Eine andere Welt eben. Nach sechs Stunden Autofahrt, in der ich mein Netbook auf dem Schoß habe und Tagebuch führe, kommen wir am Nachmittag in Mandawa an. Dieser Ort ist nur klein, hat 21.000 Einwohner, aber er ist etwas Besonderes. Hier gibt es 92 Havelis. Das sind Kaufmannshäuser, die kunstvoll mit Naturfarben bemalt sind, mit floralen Ornamenten, in den Innenhöfen auch immer wieder mit Göttern oder Elefanten, die in Indien Glückssymbole sind. Für manche Häuser wurden auch Materialien importiert, zum Beispiel Glas aus Belgien. Türen sind aus kostbarem Teakholz geschnitzt. Ein Besitzer hat angefangen, mit Zitronensaft das Holz wieder hell zu kriegen, erzählt unser Stadtführer Hanif. Wir wohnen auch in so einem restaurierten Haveli, aus dem ein Hotel gemacht wurde wie in vielen anderen Städten in Rajasthan auch, wie wir später erleben. Mandawa liegt an der Seidenstraße. Jahrhunderte lang lebte diese Stadt vom Handel – bis zur Unabhängigkeit 1947. Dann zogen die Händler fort, die Havelis verfielen. Erst jetzt findet eines nach dem anderen einen Käufer. Einige sind schon fertig, andere werden gerade restauriert, und viele warten noch auf Käufer. Auf dem Rundgang durch Mandawa verfolgt uns eine Frau mit Kind und bettelt uns unablässig und laut an. In größerem Abstand stehen zwei andere Frauen, Kinder wuseln immer wieder um uns herum und wünschen sich Süßigkeiten oder Kosmetik. Ich habe einen ganzen Beutel Kleinkram mit, aber leider im Hotel. Kindern Geld zu geben wäre der größte Fehler, den man machen kann, sagt Hanif, und das hatte ich auch schon gelesen und im Fernsehen gesehen. Wenn andere sehen, dass man einem etwas gibt, dann hat man plötzlich eine ganze Schar um sich. Für die Frau habe ich leider nichts, den einzigen kleinen Schein, den ich hatte, habe ich im Hotel den Kofferträgern gegeben. Wir müssen uns angewöhnen, immer Kleingeld zu haben, nehme ich mir vor. Husni gibt ihr Geld in einem Augenblick, wo es niemand sieht. Frauen im Sari führen ihre Kühe nach Hause. Wir lernen, dass das alles Ochsen sind, die frei herumlaufen. Die Kühe sind zu Hause und sind für die Milchproduktion zuständig. Deswegen bleiben sie trotzdem heilig. Hanif nimmt uns am Ende seiner Führung mit ins Geschäft seines Onkels, der eine Produktvorführung vom Feinsten zelebriert. Aber wir bleiben standhaft, brauchen seine Patchwork-Decken nicht. Sie sind teuer, und ich wüsste nicht, wem ich das schenken könnte. Ich brauche keine. Aber in der Unterhaltung erfährt er, dass ich gern Kabir Bedi treffen würde, und er kennt und schätzt ihn. Dann eilen wir ins Hotelzimmer, machen uns kurz frisch und gehen essen. Das üppige Büfett bietet allerlei wirklich Leckeres: gebratene Nudeln, Tomatenreis, Hühnchen in toller, scharf-würziger Soße, Pastete aus Gemüse und Reis mit allerlei Gewürzen, dazu trinke ich zwei verschiedene Säfte, einmal Mangosaft pur, einmal ein Mix aus Mango und Ananas. Die versprochene Musikveranstaltung zum Dinner entpuppt sich als ein altes Paar in traditioneller Kleidung, das zwei Lieder darbietet. Der Mann spielt ein Instrument, die Frau kassiert an den Tischen. Als Husni bezahlt, werden aus den versprochenen 700 Rupees für jeden 1000 Rupees. Das ist teuer, fast 16 Euro. Dass das Abzocke ist, ahnen wir, aber wir wissen noch nicht, dass normale Restaurantpreise nur halb so hoch sind. In der Zwischenzeit sind Handy und Netbook aufgeladen, ich lasse alle Fotos ins Netbook laufen, dann bade ich genüsslich. Im Bad funktioniert mein Stecker vom Fön auch ohne Adapter. Darauf kann man sich aber nicht verlassen. Meistens brauchen wir unseren Weltstecker. Ich staune, wie gut ich das Klima vertrage: kein Schwitzen, keine Kopfschmerzen. Wir gewöhnen uns an, jeden Abend Kasse zu machen. Mal hat der eine die Kofferträger mit Trinkgeld beglückt, mal der andere, das Abendessen, Tuktuk-Fahrer, Schuh-Aufpasser bezahlt, und vieles mehr fällt über den Tag verteilt an. Das wird dann abends auseinander klamüsert, und danach sehen wir, wie viel Geld wir noch in bar haben und wann das nächste Geldabholen fällig ist. Wir machen die Klimaanlage aus und schalten den Ventilator an in der Hoffnung, dass wir besser schlafen können.

 

09 - Straßenszene in Mandawa mit Friseur


10 - Ein Haveli während der Restaurierung, Elefanten als Glückssymbole


11 - Ein restauriertes Haveli (Kaufmannshaus)


12 - Ein kunstvoll bemaltes Haveli von Innen