Introvertiertheit

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Kapitel 2

Biologische Grundlagen der introvertierten Persönlichkeit: Serotonin vs. Dopamin

Psychologen sind in den vergangenen Jahrzehnten übereingekommen, die Persönlichkeit anhand fünf übergeordneter Eigenschaftsskalen zu beschreiben: den „Big Five“. Auf diesen beruhen die meisten anerkannten Persönlichkeitstests. Demnach unterscheiden sich Menschen vor allem darin, wie extrovertiert oder introvertiert (nach außen oder innen gerichtet), wie neurotisch oder emotional ausgeglichen (unausgeglichen oder ausgeglichen), wie verträglich, wie gewissenhaft und wie offen für Neues sie sind.

In letzter Zeit hat man angefangen, noch zwei wichtige Züge hinzuzufügen: Stabilität und Plastizität. Was ist damit gemeint?

Bei „Stabilität“ geht es um das Ausmaß, in dem wir dazu neigen, uns im Vertrauten zu arrangieren und potenziellen Gefahren aus dem Weg zu gehen. Stabilität vereint die Big-Five-Züge emotionale Ausgeglichenheit, Verträglichkeit, Introversion und Gewissenhaftigkeit in sich. „Plastizität“ betrifft den Grad der Bereitschaft eines Menschen, ungewohnte Wege zu beschreiten und dabei auch Risiken einzugehen. Sie vereint die Big-Five-Züge Extraversion und Offenheit für Neues miteinander.

Man kann sagen: Introvertierte Menschen sind stärker dem Bereich Stabilität zuzuordnen, Extrovertierte dagegen dem der Plastizität.

Diese beiden Grunddimensionen unserer Persönlichkeit werden von Hirnforschern mit zwei grundlegenden „Schaltkreisen des Gehirns“ in Verbindung gebracht. Unser Gehirn arbeitet mit chemischer Hilfe: Informationen werden durch sogenannte Botenstoffe weitergegeben. Jeder Botenstoff ist dabei für bestimmte Funktionen zuständig und steuert unser Gefühl, unser Erleben, unser Denken und unser Verhalten.

Das Merkmal „Stabilität“ ist dabei Ausdruck einer hohen Betriebsamkeit des „Serotoninsystems“ unseres Gehirns. Der Botenstoff Serotonin hebt die Stimmung, wirkt aber auch allgemein im Stoffwechsel, steuert die Darmtätigkeit mit – er ist also ein vielbeschäftigter Botenstoff und wirkt „systemisch“. Dieses System zielt darauf, unser Innenleben stabil zu erhalten. Es erzeugt eine ausgeglichene, entspannte Stimmung, indem es Wut und andere negative Emotionen eindämmt und gleichzeitig dafür sorgt, dass wir nicht zu spontan handeln. Man spricht hier von einer Hemmung des „Reiz-Reaktionssystems“: Ein Reiz trifft mein Gehirn (z. B. mein Gegenüber beleidigt mich) und setzt Ärger in Bewegung. Reagiert mein „Reiz-Reaktionssystem“ ungehemmt, gebe ich dem Impuls nach, den dieses Empfinden auslöst: Ich schreie zurück. Das Serotoninsystem nun steht für Selbst- und Impulskontrolle. Es hilft mir, kurz innezuhalten und eine Entscheidung zu treffen. Es steht auch für Freundlichkeit und Kompromissbereitschaft, für Ordnung und die Sicherheit des Vertrauten.

Das Merkmal „Plastizität“ steht für die Aktivität des „Dopaminsystems“. Man nennt es auch „Belohnungssystem“, und es belohnt alles Neue. Es sorgt dafür, dass der Mensch in seiner Umgebung nach Anregungen Ausschau hält, nach Musik und Kunst, interessanten Gesprächen und Vorträgen, aber auch nach Aufregung, feiern, Sex – dem nächsten „Kick“. Das Belohnungssystem motiviert den Bungeejumper und belohnt ihn mit einem „High“ bis hin zur Euphorie. Das alte Raumschiff-Enterprise-Motto, „dorthin zu gehen, wo noch nie ein Mensch zuvor war“, passt ebenfalls gut dazu. Es geht um das Bedürfnis, die bisherigen Erfahrungen durch neue Erkenntnisse und Anstöße von außen zu erweitern. Es macht das Denken breiter und kreativer – aber nicht unbedingt sorgfältiger. Untersuchungen (zum Beispiel der Universität Liverpool im Jahr 2004) behaupten, bei eher Introvertierten sei dieses Belohnungssystem nicht so aktiv wie bei Extrovertierten, sodass sie auch seltener euphorisch reagierten.

„Keine Aufregung, keine Auswüchse, keine Experimente!“

Konrad Adenauer

Bis vor kurzem war die Theorie, dass zwei grundlegende Motivationssysteme des Gehirns sich auf diese Weise in der Persönlichkeit spiegeln, noch relativ spekulativ. Erhärtet wird sie nun aber von einer Studie eines Teams von Persönlichkeitsforschern der Universitäten von Toronto und Minnesota. Ihnen gelang es zu beweisen, dass sich „Plastizität“ und „Stabilität“ tatsächlich im Verhalten niederschlagen.

Die Forscher Jacob Hirsch, Colin De Young und Jordan Peterson befragten 186 Frauen und 121 Männer aller Alters- und Bildungsschichten. Zunächst machte jede/​r einen Persönlichkeitstest, in dem auch die Eigenschaften Plastizität und Stabilität festgestellt wurden. Dazu wurde den Teilnehmern eine lange Liste mit 400 Verhaltensweisen vorgelegt, zum Beispiel „Fütterte einen streunenden Hund“ oder „Stellte bei einem Vortrag Fragen“. Die Versuchspersonen mussten jeweils angeben, wie häufig oder selten sie sich im letzten Jahr so verhalten hatten. Um auch die Außenwahrnehmung miteinzubeziehen, wurden zusätzlich jeweils drei den Teilnehmern nahestehende Personen befragt.

Wie sich herausstellte, hing das Merkmal Plastizität erkennbar mit dem Ausführen und das Merkmal Stabilität mit dem Vermeiden bestimmter Verhaltensweisen zusammen.

Menschen mit hohen Werten auf der Grundachse „Plastizität“ zeigten sich als Menschen voller Tatendrang, Begeisterungsfähigkeit und mit einem hohen Kommunikationsbedürfnis. Sie liebten es, eine Party vorzubereiten, erzählten gerne Witze und Geschichten, hatten eine große Anzahl von Freunden und Bekannten, schrieben gerne Liebesbriefe, besuchten oft Veranstaltungen, gingen gerne aus, fühlten sich häufig positiv gestimmt und zeigten das auch – konnten aber genauso Stunden mit Tagträumereien verbringen. Ein großer Teil von ihnen zeigte Wärme und Humor, sie blickten auf viele Dates, Reisen und Vergnügungen zurück. Die Anzahl der Sexualpartner war deutlich höher als bei ihren „Stabilitätskollegen“. Sie hatten aber auch mehr Alkoholsorgen und machten häufiger Diäten.

Menschen mit einer hohen Ausprägung des Persönlichkeitsmerkmals „Stabilität“ fielen weniger durch ein bestimmtes Verhalten als durch Vermeidung auf. Ganz oben auf der Vermeidungsliste standen Kontrollverlust und ganz allgemein Risiken. Sie verloren selten die Fassung, machten keine Schulden, waren vorsichtig im Umgang mit Suchtmitteln wie z. B. Alkohol, schafften sich kein Motorrad oder andere potenziell gefährliche Geräte an, bei einem Streit flippten sie nicht aus und knallten nicht vor Wut mit Türen. Sie vermieden aber auch angenehme Überschwänglichkeit wie eine Partynacht, eine ausgedehnte Shoppingtour oder auch nur ein Frühstück im Bett. Für ihre Abgeklärtheit wurden sie mit einem ruhigeren Schlaf und seltenen Albträumen belohnt. Menschen von hoher Stabilität erleben weniger Ärger, weniger Nervosität und Gereiztheit, weniger Übergewicht, aber auch: weniger Sex, weniger Heiterkeit und weniger angenehmen Überschwang.

Übrigens sind Stabilität und Plastizität keine Gegensätze, sondern voneinander unabhängige Systeme. Es ist also nicht ungewöhnlich, dass eine lebhafte Person, die ihre Zeit gerne mit anderen verbringt und Anregungen sucht, gleichzeitig ein hohes Bedürfnis nach Sicherheit und Behaglichkeit hat. Das kann sich hervorragend ergänzen (dann spricht man von „Stimmigkeit“ – beides passt zu der Person und widerspricht sich nicht). Es kann aber auch zu einem Widerstreit der Bedürfnisse kommen, der dann Stress und innere Konflikte heraufbeschwört.

Dass Stabilität und Plastizität wichtige Teile der Persönlichkeit sind, ist unter Persönlichkeitsforschern inzwischen eine anerkannte Tatsache. Allerdings erklärt jedes Modell nur einen Bruchteil der bunten Vielfalt der Persönlichkeiten. Denn: Jeder Mensch ist einzigartig. Kein Raster wird all den vielen Facetten und Widersprüchen seines Wesens gerecht.7

Introvertiertheit: Angeboren, anerzogen oder selbstgemacht?

Unsere Persönlichkeit wird durch drei Bereiche geformt und beeinflusst:


„Introvertiert: Ruhe ausstrahlen – Zeit für mich und andere nehmen – sich auf das Wesentliche fokussieren – achtsamer mit sich sein – einfach über den Dingen stehen.“

Helga Rohra, Demenzaktivistin

Biologie, Prägung und Selbststeuerung formen meine Persönlichkeit. In der Grafik oben sind alle Bereiche gleich aufgeteilt – das ist in der Realität nicht so. In Wirklichkeit ist der Einfluss der drei Kräfte von Mensch zu Mensch unterschiedlich und verschiebt sich im Laufe des Lebens immer wieder. Der Anteil Schöpfung allerdings ist nachgewiesen stark und bleibt im Laufe unseres Lebens eine stabile Größe: Was mir in die Wiege gelegt wurde, das ist eben da. Ich kann lernen, damit umzugehen, es zu nutzen und zu akzeptieren, aber ich kann in diesem Bereich kein anderer Mensch werden. Ein introvertierter Mensch zu sein ist also weniger eine Sache der Lebensgeschichte, sondern vor allem eine Sache der Biologie (des Geschaffenseins) und, im Laufe unseres Lebens, unserer eigenen Entscheidungen.

Introversion prägt uns also, aber sie legt uns nicht fest.

Ein in seiner Veranlagung eher extrovertierter Mensch kann trotzdem durch Erfahrungen, Prägungen und Entscheidungen dahin kommen, sich introvertiert zu verhalten – und umgekehrt. Dazu ist zum Beispiel die Kultur, in der ich aufwachse, mitentscheidend. Ein in China aufwachsender „Extro“ wird sich wahrscheinlich anders entwickeln als einer in den USA. „Da sich unser Gehirn nach der Geburt noch stark weiterentwickelt, haben auch die Umgebung und die Kultur einen großen Einfluss auf die Ausprägung der Introvertiertheit“, sagt Dr. Sylvia Löhken, die eins der ersten deutschen Bücher zum Thema geschrieben hat.8

 

Im Laufe eines Lebens gibt es aber nicht nur Prägungseinflüsse und Genetik, auf die ich ja eigentlich nur reagieren kann. Ich selbst nehme ebenfalls Einfluss auf mich: durch meine Entscheidungen und Nicht-Entscheidungen, durch die Sicht auf mich selbst, durch die Wünsche und Ziele, die ich anstrebe. Ich präge mich selbst.

„Der freie Wille gibt uns den Spielraum, die genetisch geprägte und kulturell gefärbte Persönlichkeit zu variieren, wenn ein Thema uns besonders am Herzen liegt“, schreibt Dr. Sylvia Löhken. Das bedeutet: Es ist möglich, als eher extrovertiert geschaffener Mensch durch die Reaktion auf die eigene Geschichte (das wäre dann Prägung), aber auch durch Entscheidungen und Training die introvertierten Anteile der Persönlichkeit zu stärken (das wäre Selbststeuerung). Genauso kann ein Introvertierter lernen, sich wie ein Extrovertierter zu verhalten. Trotzdem bleibt in beiden Fällen mein „Geschaffensein“ stabil. Und in der Regel werde ich für diese erlernten Verhaltensweisen mehr Energie aufwenden müssen als sonst.

Heute ist sehr gut nachgewiesen, dass Intro- bzw. Extrovertiertheit als Charakterzug einen sehr hohen biologischen Anteil hat. Man könnte sogar sagen: Introvertiertheit ist eine uns angeborene und über die Lebensspanne recht stabile Eigenschaft, die nicht nur mit Charakter, sondern unter anderem mit einer typischen Reizverarbeitung im Gehirn einhergeht.

„Das Maß an Stimulation, das Extrovertierte als anregend empfinden, kann für Introvertierte überwältigend oder störend sein.“

Colin De Young, Psychologin

In verschiedenen Studien wurde bei introvertierten Personen eine höhere Hirnaktivität festgestellt – unabhängig davon, ob sie arbeiteten oder sich ausruhten. Möglicherweise dient diesen Menschen die Wendung nach innen als eine Art Schutzwall gegen zu viele Reize.

Ich erinnere mich nicht mehr ganz genau, aber meine ehemalige Jungscharleiterin erzählt folgende Geschichte:


Da wurde ein junges Mädchen mit in die Gruppe gebracht. Eine andere Gruppenteilnehmerin hatte sie eingeladen, und so saß die etwas übergewichtige, dunkelhaarige Teilnehmerin jetzt in der Gruppe und tat keinen Mucks. Bei der Begrüßung sah sie nicht auf und nuschelte nur sehr leise ihren Namen (Monika?) in Richtung des Fußbodens. Sie sang nicht mit, aber die Andacht schien sie aufmerksam zu verfolgen, ihr Blick hing regelrecht am Mund der Jungscharleiterin. Ansonsten schien sie gut darin, sich fast unsichtbar zu machen. Selbst ihre Bewegungen wirkten zurückgenommen. Sie zog die Schultern hoch, als erwarte sie einen Schlag. Aber das störte keinen, und im Schlepptau ihrer energischen Freundin kam sie ab da regelmäßig zur Gruppe.

In der 5. Stunde wirkte sie schon etwas lockerer, sang leise mit, und man konnte erahnen, dass sie eine schöne Stimme hatte. Sie lächelte sogar zurück, als die Jungscharleiterin sie anlächelte, und nickte, als sie gefragt wurde, ob sie sich wohlfühle.

Aber vielleicht hätte man sie in dieser Gruppe trotzdem noch jahrelang Monika genannt, wenn ihre Freundin sie nicht in der 5. oder 6. Stunde energisch in die Seite geknufft und gesagt hätte: „Verflixt, Karin, nun sag endlich, dass du gar nicht Monika heißt! Wenn du auch immer so flüsterst, da versteht dich ja kein Mensch. Jetzt bist du hier doch schon zu Hause!“ Und ich, denn ich war dieses Kind, soll (wieder mal sehr leise) geantwortet haben: „Ist doch egal, wie man mich nennt. Ich weiß ja, dass ich gemeint bin“.

Das war vor 40 Jahren. Inzwischen sehe ich die Menschen an, wenn ich mit ihnen spreche. Ich rede zwar immer noch relativ leise, aber meine Sprache ist lebendig und farbig. Ich rede im Gegensatz zu früher bewegt und manchmal sogar zu schnell. Das habe ich beim Erzählen unzähliger Geschichten in Kinderstunden und Jungscharen gelernt, in denen ich irgendwann mitzuarbeiten begann. Dabei kam mir meine Liebe zu Büchern sehr zugute, und die Bestätigung durch meine ZuhörerInnen ermutigte mich, dass ich es wert bin, gehört zu werden.

Ich habe Kommunikation später sogar zu meinem Beruf gemacht. Aber in mir gibt es auch immer noch das Mädchen von damals, das kommt mit in jede neue Situation. Heute wird es von einer Erwachsenen begleitet, die es liebevoll und mit Verständnis an die Hand nimmt (und das bin auch wieder ich selbst). Schizophren? Nein, normal.

Karin Ackermann-Stoletzky

Das introvertierte Gehirn

Wir alle haben viele unterschiedliche Stimmen in uns, Gefühle, Erfahrungen, Charakterzüge. Ist das nun Produkt unserer Erziehung, oder ist uns unsere Art in die Wiege gelegt? Die Antwortet lautet: Ja, beides.

Unterschiede zwischen introvertierten und extrovertierten Menschen zeigen sich nicht nur in unterschiedlichen Verhaltensweisen und Vorlieben, sie sind bis in Hirnfunktionen hinein nachweisbar, wie ich schon im vorhergehenden Kapitel beschrieben habe.

In einer Testreihe wurden Menschen zuerst einem Persönlichkeitstest unterzogen, danach wurden ihre Hirnströme untersucht. Im Gehirn vieler im Test als introvertiert eingestufter Teilnehmer wurde dabei entdeckt, dass ihre Gehirne, egal, ob sie arbeiteten oder ruhten, eine höhere elektrische Aktivität aufwiesen als die der anderen Probanden.

Das Gehirn eines introvertierten Menschen ist also anscheinend auch dann stärker stimuliert, wenn es keine Reize von außen bekommt. Wegen dieser von Natur aus höheren Gehirnaktivität haben die Stillen offenbar ein stärkeres Bedürfnis, sich gegen Reizüberflutung abzuschirmen. Deshalb gelten introvertierte Menschen auch als besonders sensibel. Zu viele Reize sind für Introvertierte also schlechter zu verkraften als für Extrovertierte, und das gilt nicht nur psychisch, sondern auch physisch. Tatsächlich lässt sich belegen, dass auch das Immunsystem von Introvertierten sensibler auf Stressbelastung und Reizüberflutung reagiert als das von Extrovertierten. Das macht sie, wie AIDS-Forscher 2003 herausfanden, anfälliger für Infektionskrankheiten aller Art und lässt chronische Erkrankungen bei ihnen heftiger verlaufen.

Die Erforschung dieser Zusammenhänge der Reizverarbeitung im Gehirn geht vor allem auf Erkenntnisse des Psychologen Jerome Kagan zurück, der an der Harvard-Universität Experimente zu diesem Thema an rund 500 Säuglingen im Alter von vier Monaten durchführte. Er konfrontierte die Babys mit ganz unterschiedlichen Reizen: mit sich schwingenden, bunten Mobiles (Bewegungsreiz), zerplatzenden Luftballons (Geräuschereiz) oder mit starken Geruchseindrücken, zum Beispiel mit Alkohol betupften Wattestäbchen.

20 Prozent der Säuglinge reagierten besonders stark auf die für sie neuen, ungewohnten Situationen. Sie bewegten sich und strampelten stark, weinten, drückten angespannt den Rücken durch, ballten die Händchen zu Fäusten. 40 Prozent reagierten gelassen, der Rest der Babys bewegte sich zwischen diesen beiden Extremen.

Nach vielen Jahren wurden alle inzwischen herangewachsenen Kinder wieder ins Labor gebeten. Bei den durchgeführten Tests machte Kagan eine auffällige Entdeckung: Wer als Kind heftig auf Reize reagiert hatte, war als Erwachsener ein eher introvertierter Charakter (diese Langzeitstudie wird übrigens bis heute fortgesetzt, um zu erforschen, wie sich Reizverarbeitung und Charakterbildung im Laufe eines Lebens entwickeln und verändern). Es ist also gerade nicht so, dass ein introvertierter Mensch phlegmatisch und stoisch in sich ruht, im Gegenteil: Er zieht sich zurück, um sich nicht zu sehr mit Außenreizen zu überfordern.

Um sich wohlzufühlen, um optimal zu funktionieren, braucht das introvertierte Gehirn Ruhe.

Bei Extrovertierten ist es genau umgekehrt: Damit das Gehirn in seinen „Wohlfühlzustand“ kommt und optimal funktioniert, braucht es Anregungen von außen: Musik, Gespräche, Bewegung.

Der Psychologieprofessor Colin De Young von der Universität von Minnesota führte ausführliche Experimente an Studenten durch. Sein Ergebnis: „Das Ausmaß an Reizen, die Extrovertierte als angenehm empfinden, kann Introvertierte überwältigen.“ Seinen Forschungen zufolge lernen Introvertierte deshalb am besten in ruhiger Umgebung (maximal 65 Dezibel); Extrovertierte konnten sich besser konzentrieren, wenn es lauter war (um die 85 Dezibel).

Eine Studie der Universität North Carolina belegt, dass Introvertierte im Vergleich zu Extrovertierten ein deutlich erhöhtes Depressionsrisiko aufweisen. Ganz vorne auf der Skala fanden sich dabei übrigens die „männlichen sensiblen Macher“. Eine andere Studie derselben Universität stellte fest, dass im Falle einer Depression bei Introvertierten auch ein höheres Suizidrisiko besteht als bei Extrovertierten, wahrscheinlich, weil sie sich in schwierigen Situationen eher zurückziehen. Wenn man bedenkt, dass sie ihre Batterien im Alleinsein aufladen, ist das ganz nachvollziehbar. Wenn es aber nicht gelingt, eine Lösung zu finden, und durch den Rückzug Hilfe von außen verhindert wird, ergibt sich eine Abwärtsspirale, die irgendwann kaum noch aufzuhalten ist. Unter Umständen kann sich daraus eine – gefühlte oder tatsächliche – totale Isolation ergeben, in der Gefühle von Niedergeschlagenheit und Ausweglosigkeit ins Unendliche wachsen. Das Suizidrisiko betrifft anscheinend besonders introvertiert-spontane Persönlichkeitstypen, die ihre inneren Blockaden manchmal durch plötzliche Handlungen durchbrechen.

Dass introvertierte Menschen ein höheres Depressionsrisiko haben, scheint nachvollziehbar: Wer eher nach innen als nach außen gerichtet ist, wer Dingen auf den Grund zu gehen versucht und immer bereit ist, alles in seinem Leben zu hinterfragen, der ruft eben nicht nur Endorphine (die Glücksbotenstoffe des Körpers) auf. Etwas plakativ ausgedrückt: Eine Depression entwickelt man vermutlich eher, wenn man allein über den Sinn des Lebens nachgrübelt, als wenn man mit anderen unterwegs ist. Letzteres lenkt einen von den großen Fragen des Lebens (und den häufig darauf fehlenden Antworten) sowie den negativen Seiten der Welt eher ab, während Ersteres die Gedanken auf all das richtet, was das Leben schwierig und unwägbar macht.

Sind Introvertierte schüchtern?

Nein. Schüchternheit hat mit Angst zu tun: Angst vor der Beurteilung anderer, Angst aufgrund negativer Erfahrungen, Angst durch fehlende Erfahrungen im Umgang mit anderen Menschen. Solche Ängste kann jeder Mensch entwickeln, egal, ob er eher ex- oder eher introvertiert ist. Es gibt also sehr viele, auch in Sozialkontakten selbstbewusste Introvertierte, die einfach nur gern für sich sind, sich anderen zuwenden und allein sein können, für die Reden kein Selbstzweck und „etwas erleben“ genauso gut ein schöner Nachmittag mit einem Buch sein kann wie für andere Menschen ein Ausflug mit Freunden.

Sind Introvertierte hypersensibel?

Wie schon beschrieben wurde, haben introvertierte Menschen ein Gehirn, das sensibel auf Reize reagiert, weil es auch im Ruhezustand schon aktiv ist und deshalb von zu vielen zusätzlichen Außenreizen überflutet wird. Das ist auch bei hypersensiblen Menschen so. Laut der Psychologin Elaine Aron sind ca. 70 % hochsensible Persönlichkeiten auch introvertiert und 30 % eher extrovertiert.9