Ego-State-Therapie bei Traumafolgestörungen

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Bearbeitung dysfunktionaler Kognitionen, Fehleinstellungen sowie emotionaler Verarbeitungswege

a)Funktionalität dysfunktionaler Kognitionen und Fehleinstellungen Die Herausarbeitung der Funktionalität negativer/dysfunktionaler Gedanken und Gefühle ist eine Voraussetzung für deren Bearbeitung und Modifikation. Sie kann als Würdigung für eine Bewältigungsleistung verstanden werden, die aufgrund von Traumatisierungen erbracht werden musste.

b)Korrektur dysfunktionaler Kognitionen und Fehleinschätzungen Die Korrektur betrifft zum einen die Aufhebung der Generalisierung adäquater Reaktionen auf ein traumatisches Ereignis, wie Ohnmacht, Hilflosigkeit, Ekel, Scham oder Trauer, zum anderen fehlende positive Lernerfahrungen. Ihre Bearbeitung sollte erst nach der Konfrontation mit den traumatischen Erinnerungen erfolgen, da die entsprechenden Reaktionen durch unverarbeitetes Traumamaterial getriggert werden können. Zum Teil ist die Bearbeitung nach der Konfrontation gar nicht mehr notwendig.

c)Korrektur von Wahrnehmungsverzerrungen Der Fokus liegt hier auf der Bearbeitung von Ängsten, dass jederzeit erneut etwas Schlimmes passieren könnte, die mit der Überzeugung verbunden sind, dass es unmöglich ist, sich selbst zu schützen bzw. sich wehren zu können.

Narrativarbeit

a)Erarbeiten eines kohärenten Narrativs Narrative therapeutische Techniken haben einen positiven Effekt in der Behandlung (Kameros u. Sack 2013, S. 231). Das Versprachlichen von traumatischen Erinnerungen spielt eine große Rolle und dient der Verarbeitung und Entlastung. Es erfüllt sinnstiftende und erklärende Funktionen. Narrative stellen weiterhin Zeugnisse dar, die der Dokumentation von Unrecht dienen. Auch für andere Menschen bis hin zur Öffentlichkeit sind Narrative hoch relevant und beispielsweise für eine Bewältigung von Unrecht auf gesellschaftlicher Ebene notwendig.

b)Rekonstruktion traumatischer Erfahrungen Die Wirkung narrativer Therapieansätze wird mittels einer Integration von traumatischen Erinnerungen ins autobiografische Langzeitgedächtnis erreicht und zeigt sich in einer subjektiven Entlastung und Symptomreduktion. Mithilfe des Narrativs wird ebenfalls eine Vervollständigung der traumatischen Erinnerung erreicht, die der Bewertung des Ereignisses und der Korrektur dysfunktionaler Überzeugungen und Gefühle sowie der neuronalen Verarbeitung dient. Entscheidend bei der Rekonstruktion der traumatischen Erfahrung ist weniger der Grad des Wahrheitsgehalts, der letztlich schwer zu objektivieren ist, als vielmehr das Potenzial zur Reduzierung der Traumafolgesymptomatik. Die Betroffenen erhalten die Möglichkeit, von ihrem Trauma und ihrem Leid zu berichten, was allein schon eine symptomreduzierende Wirkung hat. Hinzukommt die Zeugenschaft der Therapeutin. Auch die positive Wirkung der aktiven Veränderung des traumatischen Narrativs konnte in mehreren Studien belegt werden (ebd., S. 232).

2.6.3Konfrontation

Die Konfrontation mit traumatischem Erinnerungsmaterial sowie assoziierten Reizen wie Triggern in sensu und in vivo kann als der empirisch am besten belegte Wirkfaktor in der Behandlung von Traumafolgestörungen angesehen werden. Das gemeinsame Ziel besteht aus folgenden Aspekten:

a)Abbau von Vermeidungsverhalten

b)Bewältigung von Ängsten und Belastungsreaktionen

c)leichtere Bearbeitung von Wahrnehmungsverzerrungen

d)leichtere Bearbeitung dysfunktionaler Kognitionen (Bewertungen, Überzeugungen und Einstellungen)

e)Auflösung von Chronifizierungsprozessen

f)Ermöglichung von Selbstwirksamkeitserfahrungen.

Die Konfrontation kann sich mehr auf die Habituation oder mehr auf kognitive Neubewertungen konzentrieren.

Die Stärke der Fokussierung auf die fünf in Abschnitt 2.6.2 genannten Behandlungsstrategien liegt darin, der Komplexität von Traumafolgestörungen gerecht zu werden, der mithilfe einer Vielfalt von Behandlungsansätzen sowie der Nutzung verschiedener Behandlungswege begegnet wird. Die Vielfalt an Strategien ließe sich auch in anderer Form systematisieren und filtern. Die hohe therapiepraktische Relevanz liegt in der Integration verschiedener Strategien. Beispielsweise besteht eine traumatherapeutische Behandlung nicht nur aus Expositionen. Die bescheinigte hohe Wirksamkeit der Exposition, die derzeit unanfechtbar scheint, bedeutet nicht, dass Traumatherapie gleich Exposition ist bzw. eine Traumatherapie auf Exposition reduziert wird. Der Gegenwartsbezug stellt eine Voraussetzung für das Gelingen einer Exposition dar. Ist dieser nicht gegeben oder fraglich, dann stellt die therapeutische Arbeit zur Erhöhung des Gegenwartsbezuges einen wichtigen Teil der Behandlung dar. In diesem Sinne ließen sich nun die unterschiedlichen Strategien innerhalb einer Behandlung gewichten. Fasst man die derzeitigen Erkenntnisse zusammen, scheint eine fundierte und wirksame Traumabehandlung nicht ohne eine Konfrontation mit dem traumatischen Material auszukommen. Dieser Punkt erinnert wiederum an ein weiteres, von Grawe formuliertes allgemeines Wirkprinzip von Psychotherapie: die Problemaktualisierung.

Offensichtlich ist es mit Rücksicht auf den heutigen Stand der Behandlungsforschung nicht empfehlenswert, die Symptomatik einer Traumafolgestörung in Abwesenheit des traumatischen Materials realisieren zu wollen. Über die Schulen und Konzepte hinweg ließe sich in diesem Punkt fast von einem Konsens sprechen: Wir kommen um das traumatische Material in der Behandlung nicht herum.

Alles Weitere wird nun unterschiedlich angesehen, diskutiert und empfohlen, sei es die Rolle des Körpers und der traumaphysiologischen Prozesse, die in den fünf genannten Behandlungsstrategien unbedingt ergänzt werden müssten, sei es die Rolle des Narrativs und der Umgang mit der aktiven Umgestaltung von Traumanarrativen oder sei es der jeweilige Stellenwert von Stabilisierung und Konfrontation. Empfehlenswert wäre eine Offenheit gegenüber diesen verschiedenen Strategien und die Kompetenz der flexiblen Einbeziehung unterschiedlicher Interventionen in einen individuellen traumafokussierten Gesamtbehandlungsplan.

2.6.4Erlebensebenen

Die verschiedenen Erlebensebenen bieten sich ebenfalls zur Orientierung innerhalb von Behandlungen von Traumafolgestörungen an. Manche Verfahren zielen explizit auf eine spezifische Ebene menschlichen Erlebens und fokussieren zunächst ausschließlich darauf, wie beispielsweise die Interventionen der kognitiven Verhaltenstherapie (Fokussierung auf Kognitionen) oder das Somatic Experiencing® (Fokussierung auf körperliche Prozesse). Viele Verfahren weisen eine integrative Prägung auf und beziehen weitere Erlebensebenen mit ein. Je nach Arbeitsfokus wird in der Praxis beispielsweise erforscht, wie sich die neu entwickelten Kognitionen auf die Gefühle oder den Körper auswirken bzw. welchen Einfluss die körperlichen Behandlungsprozesse auf das Verhalten oder das Denken haben. Traumatherapeutinnen und Traumatherapeuten sind entsprechend dem von ihnen bevorzugten Verfahren häufig auf eine Erlebensebene fokussiert, der in der Behandlung eine besondere Rolle zugeteilt wird. Wir könnten uns an dieser Stelle gegenseitig fragen, mit welcher Erlebensebene wir in die Behandlung starten und auf welche wir am meisten achten. Es erscheint mir wichtig hervorzuheben, dass es keine Rangliste von Erlebensebenen gibt. Über den Weg der Bevorzugung verschiedener Erlebensebenen wären wir sehr schnell wieder mitten im Schulenstreit und würden darüber diskutieren, ob nun die körperorientierten oder die kognitiven Interventionen wirksamer sind. Höchstwahrscheinlich macht es die Mixtur aus Interventionen mit unterschiedlichem Fokus. Dies würde eine integrative Behandlung auszeichnen.

Braun (1988, S. 4 ff.) hat das BASK-Modell der Dissoziation vorgelegt, um beschreiben zu können, wie dissoziative Zustände die Erfahrung beeinträchtigen können (Phillips u. Frederick 2003, S. 200). Er geht davon aus, dass Menschen in nicht dissoziativem Zustand Ereignisse fast gleichzeitig in vier Dimensionen wahrnehmen: Verhalten (Behaviors), Affekte (Affects), Empfindungen (Sensations) und Wissen (Knowledge). In dissoziativen Zuständen können diese Elemente einzeln oder gesamt von der Patientin abgetrennt sein. Die Nützlichkeit des Modells liegt in der Möglichkeit, einen Plan für die Wiederherstellung der Kontinuität der Erfahrung abzuleiten.

Levine (2011, S. 179) entwickelte dazu das SIBAM-Modell mit den Elementen: Empfindung (Sensation), Bild/Eindruck (Image/Impression), Verhalten (Behavior), Gefühl (Affect) und Bedeutung (Meaning), um die sensomotorische Bottom-up-Verarbeitung zu unterstreichen. Patienten werden nach seinem Modell durch verschiedene »Sprach-« und Gehirnsysteme geleitet, von den primitivsten bis zu den komplexesten. Patienten folgen demnach der Spur von Empfindung, (inneren) Bildern, Gefühlen und Bedeutungen.

In der Verhaltenstherapie wird die Verhaltens- und Problemanalyse als wichtigstes diagnostisches Verfahren definiert (Hautzinger 2000, S. 40). Ziel der Verhaltensanalyse ist die funktionale und strukturell-topografische Beschreibung von Verhalten. Die Erlebensebenen sind darin enthalten. Die ausgewählten Informationen sind:

 

•konkrete Merkmale der Situation

•Erwartungen, Einstellungen und Regeln, somatische biologische und physiologische Variablen

•Verhaltensausprägungen (Motorik, Emotionen, Kognitionen, physiologische Variablen, Häufigkeiten, Defizite, Exzesse, Kontrolle)

•Konsequenzen zu unterschiedlichen Zeitpunkten (kurz- und langfristig) mit unterschiedlicher Qualität (positiv, negativ) und mit unterschiedlichen Loci (intern, extern).

Alle drei Modelle wurden hinsichtlich spezifischer Fragestellungen und Ziele entwickelt. Das BASK-Modell dient der Behandlung dissoziativer Störungen, das SIBAM-Modell unterstreicht die Bottom-up-Verarbeitung und mithilfe der Verhaltensanalyse wird die Topografie von Verhalten realisiert. Alle drei Modelle lassen sich in ihrer spezifischen Funktion und Zielsetzung in die Behandlung von Traumafolgestörungen integrieren. Sie lassen sich zusätzlich unspezifisch einbinden, das heißt als Erinnerung an die Bedeutung sowie an die Nutzung der verschiedenen Erlebensebenen. In der Begegnung mit traumatisierten Menschen bietet die Unterscheidung der Erlebensebenen ein hohes Potenzial für das Verständnis der individuellen Störung sowie für die Entwicklung eines individuellen Behandlungsplanes. Die Symptome unserer Patientinnen und Patienten sind nicht einheitlich über die Erlebensebenen verteilt und nicht in gleichem Maße zugänglich oder bewusst. Manche stechen hervor, sind deutlicher ausgeprägt als andere. Die Behandlungsplanung ließe sich nun beispielsweise aufgrund der für einen Patienten »prominentesten« Erlebensebene gestalten. In diesem Fall würde sie auf der Ebene starten, die am deutlichsten repräsentiert ist. Sie könnte jedoch genauso auf die nicht gut repräsentierten Ebenen fokussieren, nach dem Motto: Welche Ebenen sind »unterbelichtet«? Insgesamt erscheint es wichtig, den Patientinnen einen Zugang zu im besten Fall allen Erlebensebenen zu ermöglichen. Dies bedeutet, dass wir alle Ebenen in die Behandlung einbeziehen sollten.

2.6.5Verarbeitungswege

In der Betrachtung der verschiedenen Erlebensebenen deutete sich bereits die Rolle der Verarbeitungswege an. Es werden die Top-down-Verarbeitung und die Bottom-up-Verarbeitung unterschieden. Vereinfacht ausgedrückt ließe sich einerseits von einer Verarbeitung »von oben nach unten« und andererseits von der »von unten nach oben« sprechen. Folgt man dieser Unterscheidung, ließen sich die verschiedenen Verfahren jeweils diesen beiden Verarbeitungswegen zuordnen. Die kognitiven, psychodynamischen und systemischen Verfahren gehen den Weg »von oben nach unten«, sie setzen auf das Bewusstsein, das Denken, die Einsicht, das Erkennen sowie die Modifikation von Überzeugungen und Beziehungen. Die körperorientierten Verfahren gehen den Weg »von unten nach oben« und setzen auf die Wirkung veränderter physiologischer Prozesse, welche in Zusammenhang mit Traumatisierungen maßgeblich sind. Viele Verfahren und Interventionen ließen sich nun auf diese Art zuordnen. Bei manchen Verfahren wird es jedoch etwas schwieriger. Die Hypnotherapie nach Milton Erickson, deren zentrales Element die Nutzung des Unbewussten als unbegrenzt ressourcenreiche Instanz ist, könnte sich je nach der vorliegenden Konzeption des Unbewussten beiden Wegen anschließen. Das Unbewusste wird meist mit tief oder unten assoziiert (»tiefer im Körper«). Dies spräche für die Einordnung als Bottom-up-Verfahren. Die inneren Bilder, inneren Dialoge und Überzeugungen, mit denen in der Hypnotherapie unter anderem gearbeitet wird, ließen sich später und höher entwickelten Gehirnstrukturen zuordnen, was für ein Top-down-Verfahren spräche. Die Hypnotherapie stellt insofern als Konzept ein Bindeglied zwischen den eher auf den Körper und den eher auf den Geist zielenden Verfahren dar.

Ähnlich verhält es sich bei der personzentrierten Psychotherapie, in der das Erleben von Empathie, Wertschätzung und Kongruenz für beide Wege postuliert werden könnte. Sich möglichst vollkommen akzeptiert zu fühlen und sich selbst vollkommen akzeptieren zu können, stellt in jedem Falle nicht nur ein kognitives, sondern vor allem ein ganzheitliches und eher körperliches Erleben dar. Das Psychodrama könnte ebenfalls beide Wege gehen, je nach Gewichtung der Erlebensebenen.

Viele Verfahren haben sich mittlerweile für den jeweils anderen Verarbeitungsweg geöffnet, wie zum Beispiel die Verhaltenstherapie, die Interventionen aus achtsamkeitsbasierten Verfahren integriert hat. Mir geht es jedoch nicht um die Entwicklung von Zuordnungskriterien. Mir geht es darum, sich auf verschiedenen Verarbeitungswegen zurechtfinden und für diese Wege geeignete Interventionen in die Behandlung integrieren zu können. Ich plädiere für Vielseitigkeit. Ich bin überzeugt, dass eine Behandlung, die der Komplexität von Traumafolgestörungen gerecht werden will, Elemente beider Verarbeitungswege aufweisen muss.

2Als Taille-Hüft-Verhältnis (THV) oder Taille-Hüft-Quotient (THQ) (engl. Waist-hip ratio oder Waist-to-hip ratio, WHR) wird das Verhältnis zwischen Taillen- und Hüftumfang angegeben. Der Taille-Hüft-Quotient liefert die Antwort auf die Frage, wo die Fettgewebsdepots sitzen. Bauchbetontes Übergewicht (erkennbar an der Silhouette, auch als Apfeltyp charakterisiert) bedeutet ein viel höheres Risiko, an Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu erkranken. Für das kardiovaskuläre Risiko ist weniger das Übergewicht als vielmehr das Fettverteilungsmuster entscheidend.

3Topografie der Ego-State-Therapie

Nachdem das Kapitel 2 dazu diente, sich in der unübersichtlichen Landschaft der Traumafolgestörungen einschließlich der traumatischen Ereignisse, deren Folgen und Behandlungsmöglichkeiten besser zurechtzufinden, stellt das Kapitel 3 nun eine Einladung dar, die Behandlung von Traumafolgestörungen mittels eines Teile-Modells zu betrachten. Die Ego-State-Therapie eignet sich außerordentlich gut dazu, auf das Erleben der komplexen Symptomatik von Patientinnen und Patienten mit Traumafolgestörungen angemessen einzugehen, maßgeschneiderte Behandlungspläne zu entwickeln und komplexe Behandlungsstrategien zu integrieren. In diesem Kapitel wird der Blick auf das Ego-State-Konzept gerichtet, bevor in Teil 2 des Buches die verschiedenen Behandlungsschritte konkret vorgestellt werden.

Die Ego-State-Therapie stellt eines von mehreren Teile-Modellen dar, die sich als spezifische Methoden zur Traumabehandlung ausweisen oder in denen traumafokussierte Ansätze explizit enthalten sind. Sie befindet sich sozusagen in guter Nachbarschaft beispielsweise der Schematherapie (Young, Klosko u. Weishaar 2005), des Behandlungsansatzes der Theorie der strukturellen Dissoziation (van der Hart, Nijenhuis u. Steele 2008) oder der psychodynamisch-imaginativen Traumatherapie (Reddemann 2011). Daneben lassen sich weitere Verfahren anführen, die Teile-Ansätze in Form spezifischer Interventionen integriert haben, wie beispielsweise die Aufstellungsarbeit aus dem Bereich der Systemischen Therapien (Krumbier 2016), das Monodrama aus dem Psychodrama (Kunz Mehlstaub u. Stadler 2018, S. 158; Krüger 2015, S. 180) sowie die hypnotherapeutische Teile-Arbeit (Peter 2009b, S. 287 ff.; Perren-Klingler 2009, S. 474 ff.; Wilhelm-Gößling 2018, S. 8 ff.), um nur einige zu nennen. Das Modell der Ego-State-Therapie sowie seine Anwendung in der Praxis wurden im Buch Praxis der Ego-State-Therapie ausführlich erläutert (Fritzsche 2018a). Die Grundkonzeption zur Behandlung von Traumafolgestörungen (siehe Kapitel 4) ist in dieses Modell eingebettet. An dieser Stelle werden in Vorbereitung des zweiten Teils des Buches die wichtigsten konzeptuellen Aspekte zusammengefasst. Dabei wird auf aktuelle Konzeptentwicklungen eingegangen.

Das Ziel der Ego-State-Therapie ist die Befähigung von Menschen, mithilfe ihrer Ego-States eine höhere innere Konsistenz und Kohärenz im Austausch mit der Umwelt herzustellen und damit Wachstumsprozesse, Entwicklungspotenziale, Beziehungsfähigkeit und Selbstbestimmtheit zu fördern (ebd., S. 131).

Die Leser können sich sozusagen einer Expedition anschließen, in der alle Aspekte von Traumatisierungen, Traumafolgestörungen und der Behandlung von Traumafolgestörungen durch die Brille der Ego-State-Therapie betrachtet werden. Wir begegnen dieser spezifischen Landschaft oder Region als Teile-Therapeutinnen oder Teile-Therapeuten bzw. als solche, die es werden wollen oder die sich für diese Perspektive interessieren. Im Folgenden werden vor Behandlungsbeginn, also vor dem zweiten Teil des Buches, die grundlegenden Orientierungspunkte des Ego-State-Konzeptes erläutert und auf den aktuellen Stand gebracht, die meine Arbeit mit diesem Modell charakterisieren. Dazu gehören:

•die Definition sowie die Merkmale von Ego-States

•die Typologie von Ego-States

•die Entstehungsmechanismen von Ego-States

•die Beziehungsebenen der Ego-State-Therapie

•die prozessorientierten Ziele der Ego-State-Therapie

•das Behandlungsmodell der Ego-State-Therapie

3.1Definition und Merkmale von Ego-States

Ich stelle ein Fallbeispiel an den Anfang:

Fallbeispiel 7

Es handelt sich um eine Patientin, die aufgrund einer Traumatisierung in ihrem Erwachsenenleben (Mordanschlag) zusätzlich Zugang zu bisher nicht bewussten traumatisierten Ego-States erhielt, die mit Kindheitstraumatisierungen verbunden waren. Durch die aktuelle Traumatisierung brachen unkontrolliert traumatische Erinnerungen hervor und tauchten traumatisierte Ego-States auf. Sie erlebte plötzlich unkontrollierte Wechsel in einen extrem beängstigenden und anscheinend weit in ihrem Leben zurückliegenden Zustand. Sie war plötzlich nicht nur mit dem Trauma des Mordanschlags, sondern ebenso mit weiteren Traumatisierungen aus ihrer Kindheit konfrontiert, die ihr bis dahin nicht zugänglich waren. Sie konnte den schrecklichen Zustand gut beschreiben, einen Zustand, in dem sie sich nicht mehr so fühlte und die Welt nicht mehr so wahrnahm wie in ihrem üblichen erwachsenen Alltag, nicht mehr wie in ihrem heutigen Lebensalter, nicht mehr wie mit ihrer gewohnten Kompetenz, sondern deutlich jünger. Es sei mehr als ein Zustand. Es habe eine Art Eigenleben, ein angstüberflutetes Eigenleben, das auch mit einer Art Losgelöstsein verbunden sei. Das Losgelöstsein erscheine der Patientin als Steigerungsform der Angst. Sie sei dann derart unverbunden, als würde sie allein im finstersten Universum herumfliegen und die Welt nur aus deutlicher Distanz beobachten.

Sich jünger zu fühlen habe einen unaufhaltbaren Sog, der sie zurück in ihre vergessene Biografie zöge, zurück nach damals, weit weg von hier in ein anderes Land mit einer anderen Kultur, einer anderen Sprache und einem völlig anderen Leben, dem sie entkommen zu sein glaubte. (Die Patientin wurde nicht in Deutschland geboren.) Es sei wie ein Rollentausch. Sie fühle sich dann wie dieses Kind, das sie all die Jahre so gut hatte von sich fernhalten können. Sie hatte den Zustand und den Kontakt zu diesem Kind lange Zeit nicht mehr gespürt. Beides wurde in ein fernes Gebiet ihres Inneren verbannt, sodass es nicht mehr da zu sein schien. Dann erlebte sie vor einiger Zeit diesen Mordanschlag. Es war Eifersucht, Rache. Über dreißig Messerstiche. Ein Schock. Schwerstverletzungen. Nur wie durch ein Wunder hatte sie überlebt.

Und plötzlich, mitten in dem Versuch, diesen Wahnsinn zu begreifen und zu bewältigen, ging innen eine Tür auf und das kleine Mädchen zeigte sich. Es war nicht laut, es drängelte nicht. Es war nur da und plötzlich mit ihm auch die Erinnerungen, die nicht mehr zu stoppen waren. Die Mutter, der Vater, dann der Stiefvater und das Unaussprechliche. Das Kind habe die Patientin angesehen. Es musste nichts tun. Alles andere war bereits auf dem Weg, bis sich die Patientin selbst wie dieses Kind fühlte und zwischen unermesslicher, lähmender, pochender Angst vor dem nächsten sexuellen Missbrauch und dem Losgelöstsein, das sich wie ein Abschied vom Leben anfühlte, hin- und herpendelte. Nicht, dass das Kind diese Zustände hätte beschreiben können. Es fühlte sie. Es wusste, dass er wiederkommen würde, dass es nichts dagegen tun könne, dass es ausgeliefert sei und es immer so weiter gehen werde, dass die Mutter nicht zu Hilfe komme, obwohl sie es wisse und bemerkte, und dass es wohl einfach so sein müsse und sicher einen triftigen Grund dafür gebe.

 

Die Nacht ist männliche Gewalt. Der Tag ist weibliche Gewalt. Tags lässt sich einiges versuchen, um der Gewalt zu entkommen. Perfekt sein zum Beispiel. Schneller als die Ausbrüche der Mutter sein, kurz vorher abtauchen zum Beispiel. Geholfen habe alles nicht. Für die Nächte gab es keine Lösung. Selbst der Versuch, wach zu bleiben, helfe nicht.

Nach den nur kurz zurückliegenden Messerstichen, den Schreien, dem vielen Blut und dem Genesungsversuch hatte dies alles die Patientin wieder eingeholt, dieser riesige bodenlose Abgrund. Es war ein zweiter Schock. Es genügten kleine Auslöser, wie ein strenger Blick, ein lautes Wort oder das Näherkommen einer anderen Person, und sofort war es da. Das heißt, sofort schien die Patientin wieder das Kind zu sein und spürte die Angst, das Herzrasen, ging innerlich alle möglichen Strategien durch, Fluchtwege, Hilferufe, Verstecke, Perfektionismus. Nur weit entfernt befand sich eine schwache Ahnung von ihrem tatsächlichen Lebensalter, ihrer erwachsenen Möglichkeiten und Kompetenzen sowie ihrer Fähigkeit, sich der Auslösesituation bewusst zu werden. Sie war das Kind und nicht die Erwachsene und hoffte einfach nur, dass es schnell vorbeigehe. Langsam wurde ihr klar, welche Rolle einerseits die Ängste und das Bedrohungserleben spielten, das Erleben, sich permanent auf der Flucht zu fühlen, solange sie denken könne, und wie sie andererseits seit ihrer Kindheit gelernt hatte, die anhaltend gefühlte diffuse Bedrohung abzuwenden, sich vor ihr zu schützen, vorzubauen, eben perfekt zu sein, auf der Hut zu sein. Sie konnte sie förmlich riechen, hatte einen siebten Sinn dafür, der sie trotzdem nicht zu dem erhofften Gefühl von Sicherheit brachte, bis heute nicht.

Die Persönlichkeit der Patientin weist mehrere Ego-States auf, die für die Behandlung von großer Bedeutung sind und einbezogen werden müssen. Das traumatisierte Kind ist einer der traumatisierten Ego-States. Es ist ein Ego-State, zu dem aufgrund von Dissoziation lange Zeit kein bewusster innerer Kontakt bestand. Durch eine erneute Traumatisierung wurde die dissoziative Trennung aufgehoben. Die Patientin erhielt unfreiwillig und nicht kontrollierbar Zugang zu dem traumatisierten Ego-State und dem mit ihm assoziierten traumatischen Erinnerungsmaterial. Aus diagnostischer Sicht handelt es sich um eine komplexe Traumafolgestörung sowie eine komplexe dissoziative Störung mit teilabgespaltenen Persönlichkeitsanteilen. Neben dem kindlichen traumatisierten Ego-State existierte ein erwachsener traumatisierter Ego-State, der die traumatische Erfahrung des Mordanschlags verkörperte. Daneben spielte ein sehr ressourcenreicher Ego-State eine wichtige Rolle hinsichtlich der Alltagsstabilisierung. In die Behandlung wurden weitere Ego-States eingebunden, beispielsweise täternahe Ego-States.

Ein Ego-State kann in Ergänzung zu Watkins und Watkins (2003, S. 45) und entsprechend der Deutschen Arbeitsgemeinschaft für Ego-State-Therapie (EST-DE) als ein organisiertes Verhaltens-, Erfahrungs- und Wahrnehmungssystem angesehen werden, dessen Elemente durch ein gemeinsames Prinzip zusammengehalten werden und das von anderen Ich-Zuständen durch eine mehr oder weniger durchlässige Grenze getrennt ist. Jeder dieser Ich-Zustände hat eine ihm eigene Selbst- und Weltsicht und ist Ausdruck einer Beziehungs- und Entwicklungserfahrung. Damit zeigt ein Ich-Zustand auch charakteristische Muster in der Wahrnehmung, im körperlichen Ausdruck und im Beziehungsverhalten (Fritzsche 2017, S. 79).

Um die Definition ist in der Fachwelt eine Diskussion entfacht. Dabei lassen sich verschiedene Aspekte unterscheiden:

a)die grundsätzliche Negation von Ego-States (Persönlichkeitsanteilen)

b)der Vorwurf, mit dem Modell Artefakte zu generieren

c)die Skepsis gegenüber dem Versuch, psychische Prozesse in eine vermeintlich feste Form zu pressen

d)der Vorbehalt einer unvollständigen Konzeptualisierung durch Watkins und Watkins und

e)der Vorwurf einer Idealisierung und Generalisierung/Inflationierung.

Die Diskussion hat mit unterschiedlichen Modellen zu tun, psychisches (und somatisches) Geschehen zu begreifen und zu erklären sowie in schlüssigen und nachweisbaren Konzepten auszudrücken. Je nach Auffassung ist folglich die Annahme der Existenz von Ego-States ein dankbares Konzept oder eher eine abwegige Idee, im Sinne von: »Also, die gibt es doch nicht wirklich.« Sagen die einen. »Welcher Anteil von Ihnen sagt das?«, würden vielleicht die anderen erwidern. »Wenn schon Ego-States, dann aber bitte nur als Metapher für kurzzeitiges neurobiologisches Geschehen«, beschwichtigen die Dritten.

Ich schlage die Konzeption von Ego-States vor, die der oben beschriebenen Definition der EST-DE folgt. Trotzdem handelt es sich hier nicht um eine Ideologie oder ein Dogma. Es geht im Folgenden um eine Konzeption, die ich im Laufe meiner beruflichen Tätigkeit aufbauend auf dem Konzept von Watkins und Watkins (2003) entwickelt habe, deren empirische Bestätigung noch aussteht und über die Sie sich am besten selbst ein Urteil bilden. Dabei werden uns vor allem spezifische Themen beschäftigen wie:

•die Existenz und Repräsentation von Ego-States

•die Komplexität von Ego-States

•die zeitliche Ausbreitung ihres Auftretens

•die Gründe, die zu ihrer Entstehung führten

•die Position, die sie in Zukunft innerhalb der Persönlichkeit einnehmen (sollten)

•die Position, die sie in einer Struktur der Persönlichkeit einnehmen (könnten)

•die Art der Beziehung, die die Patientinnen mit ihnen bzw. die die Ego-States mit anderen Ego-States eingehen könnten und sollten

•das Veränderungs- und Entwicklungspotenzial von Ego-States

Ego-States sind Ausgestaltungen und Konzeptualisierungen von psychischem und physischem Geschehen. Sie stellen metaphorische Verkörperungen (Gestaltbildungen) dar, die bewusst wahrgenommen werden können, für die Patientinnen und Patienten eine hohe Plausibilität besitzen und die sich anhand von psychologischen sowie physiologischen (somatischen/neuronalen) Zuständen und Prozessen identifizieren und differenzieren lassen.

Ego-States bieten die Möglichkeit, psychisches und physisches Geschehen zu begreifen, ihm zu begegnen und es zu beeinflussen. Ego-States können sich der bewussten Wahrnehmung entziehen, sie können abgetrennt oder »verdrängt« werden. Ego-States sind nicht zufällig da. Sie sind keine beliebige oder spontane Reaktion auf Umweltreize oder innere Reize. Sie haben konkrete und beschreibbare Entstehungsbedingungen sowie klare Funktionen. Ego-States dienen der Befriedigung und dem Schutz psychischer und physischer Grundbedürfnisse (Fritzsche 2018a, S. 38 ff.). Sie sind relativ überdauernd, ohne dass sie sich permanent zeigen. Ihre Bedeutung für eine Person kann sich im Laufe des Lebens verändern. Ego-States weisen ein breites phänomenologisches Spektrum auf. Sie können sehr eingeschränkt wahrnehmen und handeln. Sie erscheinen dann zum Teil sogar reflexhaft oder automatisiert. Sie können jedoch auch sehr komplex sein und ihrerseits verschiedene Aspekte der Wahrnehmung, des Handelns, der Erfahrung und des Erlebens aufweisen. Ego-States unterscheiden sich in ihrem Entwicklungsniveau, sie lassen sich in der Biografie verorten. Die Konzeption von Ego-States stellt nicht die Generierung von Artefakten dar, sondern ermöglicht eine Begegnung mit innerem Geschehen und dadurch eine Begegnung mit dem eigenen Selbst. Ego-States haben menschliche Eigenschaften. Sie sind keine Menschen, sondern Persönlichkeitsanteile von Menschen. Ego-States lassen sich in der Persönlichkeit von jedem Menschen finden, auch im Bereich, der als nicht pathologisch, also als normal oder gesund beschrieben wird.

Demnach haben Ego-States eine eigene Geschichte, die sich häufig von der »offiziellen« Geschichte der Patientin oder des Patienten unterscheidet. Sie haben ein spezifisches Alter, einen eigenen Charakter einschließlich eigener Gefühle, eines eigenen somatischen Zustands, eigener Überzeugungen, Bedürfnisse, Ziele und Werte – je nach Entwicklungsstand. Sie zeichnen sich durch eine eigene Wahrnehmung aus, nehmen die Welt selektiv wahr. Ego-States verfügen über eigene Fertigkeiten und Strategien, die sie im Auftrag der Bedürfnisbefriedigung und des Bedürfnisschutzes entwickeln und einsetzen. Sie haben eigene Schwierigkeiten und Symptome.