Ego-State-Therapie bei Traumafolgestörungen

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2Topografie der Traumafolgestörungen

Wie ließe sich eine Topografie der Traumafolgestörungen erstellen, die traumatische Ereignisse, deren Folgen sowie deren Behandlungsmöglichkeiten einschließt und die zusätzlich die individuelle Persönlichkeit der Patientinnen und Patienten sowie deren gegenwärtiges Funktionsniveau berücksichtigt? Im Klettersport werden sogenannte Topo-Führer genutzt, die in Buch- oder digitaler Form vorliegen und das Zurechtfinden am Berg deutlich erleichtern, zum Teil überhaupt erst ermöglichen. Ein solches Topo ist eine detaillierte Beschreibung einer Kletterroute mit bestenfalls allen wichtigen Informationen für die Kletterer. Folglich lassen sich Topo-Führer hinsichtlich ihrer Qualität und Praktikabilität voneinander unterscheiden. Gerne gesehen sind beispielsweise gestochen scharfe Fotos der angezielten Kletterwand, in die die Route deutlich eingezeichnet und mit sämtlichen relevanten Informationen ergänzt wurde. Da freut sich das Kletterherz.

In welcher Form gelingt nun eine solche Topografie der Traumafolgestörungen? Sicher nicht mit hochaufgelösten Farbfotos von traumatischen Ereignissen, wie sie in manchen Medien beliebt sind. Und welche relevanten Informationen bräuchten wir zusätzlich, damit wir uns sicher fühlen auf unserem Weg in diese Landschaft? Ganz ohne Vorbereitung sollten wir das nicht tun. Wir brauchen also eine Art Orientierung, einen Überblick und eine erste Begegnung mit dem Thema. Dazu dient dieses Kapitel.

Traumatisierungen gehören offensichtlich zum menschlichen Dasein. Gerne würde ich diesen Satz anders formulieren, abmildern, vielleicht so wie die 12. Fee bei Dornröschen, die in letzter Sekunde den Todesfluch der 13. Fee noch in einen hundertjährigen Schlaf umwandeln konnte. Gerne würde ich ihn eingrenzen, nach dem Motto: Das Leben ist nun aber auch nicht nur Trauma! Und überhaupt: Der Traumabegriff wird ohnehin inflationär verwendet! Oder: Traumatisierungen finden nur woanders statt, nicht bei uns! Gerne würde ich ihn schönreden, vermeiden, verdrängen, dissoziieren oder bagatellisieren. Natürlich gibt es auch die andere Seite des Lebens, die nicht traumatische Seite. Es gibt eine in ihrer Vielfalt unüberschaubare Ressourcenseite, es gibt Resilienz und es gibt posttraumatisches Wachstum. Es gibt die Menschen, die traumatische Ereignisse bewältigen, ohne eine Traumafolgestörung zu entwickeln. Diese Aspekte sind wichtig und unerlässlich für die Behandlung von Traumafolgestörungen. Wir werden sie einbeziehen, wir brauchen sie, wir lernen von ihnen.

Es gibt jedoch auch die Seite des Schreckens. Sie lässt sich nicht wegwischen, sie lässt sich nicht kleinreden, sie lässt sich nicht verdünnen. Jede und jeder von uns kennt traumatische Ereignisse, entweder selbst erlebt oder im nahen Umfeld erfahren. Bewegen wir uns in diesen Bereich, wie in ein Land oder in eine Kultur, obwohl dieser Begriff hier fehl am Platz scheint, haben wir es genau damit zu tun, unabhängig davon, wie weit weg es sich anfühlt, zum Beispiel bei Kriegsflüchtlingen, oder wie nahe bei traumatischen Ereignissen in der eigenen Familie oder der Nachbarschaft. Wir haben es teilweise mit unbeschreiblicher Gewalt zu tun, mit überwältigenden Ohnmachts-, Schmerz- und Auslöschungserfahrungen, mit bodenloser Vernachlässigung und weiteren traumatischen Erfahrungen, die das gesamte Selbst- und Weltverständnis erschüttern können. Diese Erfahrungen können durch Menschen verursacht sein (»Man-made disasters« oder interpersonelle Traumata), sie können auch durch andere Faktoren, wie Naturgewalten oder Großschadensereignisse, ausgelöst werden (akzidentelle Traumata). Wie gerne würde ich sie isolieren, einsperren oder verbannen. Tatsächlich tue ich das ab und an. Doch geht es hier um ein Realisieren, darum, etwas wahr sein zu lassen, was nicht wahr sein darf, nicht wahr sein soll. Manchmal scheint sich in mir alles vor diesem Wahrseinlassen zu sträuben. Wegschauen wäre eine Lösung. Wegschauen zu können wird zu unserem Thema gehören und ist notwendig. Doch wegschauen ist auch ein schmales Brett, unter dem das Gebiet des Abwehrens, Nichtglaubens, Stigmatisierens, Abwertens und der Schuldzuweisung wie ein Abgrund droht. Es geht vielmehr darum, das Hinschauen zu gestalten.

Die Untersuchungen hinsichtlich der Häufigkeit einer Traumafolgestörung, die sich vor allem auf die Entwicklung einer PTBS beziehen, zeigen, dass ein großer Teil der Menschheit mindestens einmal im Leben mit einem traumatischen Ereignis konfrontiert wird. Die Lebenszeitprävalenz für die Konfrontation mit einem traumatischen Ereignis, die ursprünglich basierend auf den früheren Fassungen des DSM mit 40–60 % angegeben wurde, wird entsprechend der Stressdefinition des DSM-IV weitaus höher eingeschätzt (Wagner 2011, S. 166 ff.). Etwa 25–30 % der betroffenen Menschen bilden eine PTBS aus. Die Lebenszeitprävalenz für Männer beträgt 5 %, die für Frauen ist mit 10,4 % doppelt so hoch (Senger 2019, S. 13). Das vorliegende Buch handelt von diesen Menschen und den traumatherapeutischen Möglichkeiten der Bewältigung von Traumafolgestörungen.

In der Auseinandersetzung mit Fragen zu Traumafolgestörungen und ihren Behandlungen treffen wir häufig auf die Metapher der Traumalandschaft (Fritzsche 2018b, S. 119; Peichl 2008, S. 1). Landschaften lassen sich betreten, wieder verlassen und umgehen, also meiden. Einerseits beschreibt die Metapher die Fokussierung auf einen spezifischen Bereich, eben den der Traumafolgestörungen. Diesem Bereich werden wir uns zuwenden. Wir werden Traumalandschaften betreten, sie besuchen. Andererseits verweist sie auf den Umstand der Abgrenzbarkeit. Es geht um eine ganz bestimmte Landschaft, ein definiertes Gebiet. Traumatisierungen und Traumafolgestörungen können in gewisser Weise in ein Land, Gebiet oder Territorium wie in eine Schublade verbannt werden. Aus der Perspektive der Dissoziation würden wir sagen: vom Bewusstsein abgetrennt werden. Wenn sie dort untergebracht und sicher verwahrt sind, können wir einfach einen großen Bogen darum machen und hätten folglich nichts mehr damit zu tun. Wir würden die Traumalandschaft einfach nicht mehr betreten. Jochen Peichl spricht konkret von inneren Traumalandschaften, was diesem Umstand Rechnung trägt (Peichl 2008). Die Formulierung: innere Traumalandschaften weist darauf hin, dass sich traumatisches Geschehen und traumaassoziierte Prozesse nicht einfach outsourcen lassen. Sie existieren im Inneren weiter. Sie melden sich sozusagen aus der Verbannung. Trotzdem werden häufig auch innere Traumalandschaften ignoriert, vermieden oder dissoziiert, um traumatischem Geschehen nicht begegnen zu müssen. Dies entspricht dem psychischen Grundbedürfnis nach Kontrolle und Orientierung. Es ist als Bewältigungsversuch anzusehen und geschieht teils bewusst, denkt man beispielsweise an das selbst verordnete Schweigen der kriegsteilnehmenden Generation des Zweiten Weltkrieges. Es geschieht auch unbewusst. Der Gewinn besteht darin, nicht mit traumatischem Geschehen konfrontiert zu werden und einen großen Bogen um dieses Gebiet zu machen. Die innere Traumalandschaft ist tabu. Priebe, Stiglmayr u. Schmahl (2018, S. 487) verweisen auf Pierre Janet, der

»… postulierte, dass traumatische Lebenssituationen in Abhängigkeit von einer individuellen Disposition eine autoregulative Abspaltung dieser Erlebnisanteile aus dem Bewusstsein auslösen. Diese desintegrierten Inhalte würden sich willentlicher Kontrolle entziehen, jedoch aktiv bleiben und das Denken, Handeln und Fühlen beeinflussen und seien somit für die dissoziativen Phänomene verantwortlich.«

Die Idee mit dem großen Bogen kann sich auch in psychotherapeutischen Praxen abspielen. Viele Therapeutinnen und Therapeuten hatten nicht vor, traumazentrierte Psychotherapie anzubieten. Doch dann tauchen bei ihren bis dahin nicht als traumatisiert betrachteten Patientinnen die entsprechenden Symptome auf. Von den Symptomen spannt sich nach und nach eine Brücke zu den Erinnerungen an die traumatischen Ereignisse und plötzlich füllen ausgewachsene Traumafolgestörungen den Praxisraum aus, ohne dass dies verabredet war. Nicht alle Patienten, die unter Traumafolgestörungen leiden, kommen konkret mit diesem Anliegen in die Praxis. Vielen Hilfesuchenden ist ihre Störung gar nicht als Traumafolgestörung bewusst (Dammann u. Overkamp 2004, S. 6). Wir können demnach Traumafolgestörungen und deren Behandlung letztlich fast nicht aus dem Praxisalltag heraushalten. Sie finden auch dann zu uns, wenn wir nicht vorhatten, zu ihnen zu reisen. Selbst wenn Patientinnen und Patienten ein traumatischer Hintergrund ihrer Beschwerden bewusst ist, kann die Angst davor, sich ihm zuzuwenden, derart groß sein, dass die Traumalandschaft unberührt bleibt. Ebenso bahnen sich unsere eigenen Erlebnisse in Zusammenhang mit kritischen Lebensereignissen und traumatischen Erfahrungen einen Weg zu uns, auch dann, wenn wir sie nicht dazu eingeladen haben. Wir begegnen in unserer Arbeit Traumalandschaften und werden immer wieder mit der Frage konfrontiert, wie wir sie sicher betreten können, wie wir einen Weg durch sie hindurch finden und wie wir lernen, sie umzugestalten. Wir sollten nicht überlegen, wie wir daran vorbeikommen, sondern wie wir uns mit ihnen konstruktiv und heilsam auseinandersetzen können.

Klingt das düster? Die Tatsache, dass Traumatisierungen zum menschlichen Dasein gehören, bedeutet für mich, nicht zu verzweifeln, mir eine zynische Haltung zuzulegen, jegliche Bemühungen um die Verbesserung der Behandlungsmöglichkeiten und einen Umgang mit ihnen einzustellen. Sie bedeutet für mich eher, mich ihnen zu stellen, mit ihnen leben zu lernen, an ihnen zu wachsen, kreativ zu sein und nach neuen Wegen zu suchen, betroffene Menschen unterstützen zu können. Sie spornen mich an. Das Realisieren der Allgegenwärtigkeit von Traumatisierungen bildet für mich keinen Widerspruch zu Hoffnung und Engagement.

 

Das vorliegende Buch soll Ihnen in Ihrer Arbeit mit traumatisierten Menschen helfen, es soll Ihnen Orientierung in einem Land oder einer Landschaft bieten, in denen viele von Ihnen nicht leben, die viele von Ihnen jedoch kennen, die manche schon häufig bereisten, andere versuchten, einen Bogen darum zu machen. Die Reise in dieses Land schließt drei Perspektiven ein:

a)die Perspektive der Menschen, die unter Traumafolgestörungen leiden, die sich aus diesem Grund um psychotherapeutische Hilfe bemühen und die sich meistens nicht verstanden fühlen

b)die Perspektive der Menschen, die diese Hilfe in Form von traumaspezifischer Behandlung anbieten und versuchen, zu verstehen und mitzufühlen

c)die Perspektive der Selbsterfahrung der Therapeutinnen und Therapeuten von kritischen bzw. traumatischen Lebensereignissen, die die Behandlung beeinflussen kann.

Entsprechend viele Eindrücke, Erfahrungen und Gefühle werden sich im Verlauf der Reise bemerkbar machen. Die Metapher der Reise kann mit dem Begriff der Begegnung verknüpft werden. Wir begegnen traumatherapeutischen Themen, Prozessen, Störungen, Interventionen und vielem mehr. Doch vor allem begegnen wir Menschen.

Obwohl die Zahl der traumafokussierten Publikationen und Ansätze in den letzten Jahren rasant angestiegen ist und weiter ansteigt, scheinen sich unter Therapeuten verschiedene Besonderheiten der Begegnung mit betroffenen Menschen widerstandsfähig zu halten. Dazu gehören Ängste, Überforderungs- und Hilflosigkeitsgefühle, Unsicherheiten in der Bewertung von Traumafolgestörungen, Unsicherheiten in der Indikationsstellung spezifischer Interventionen, Stress durch widersprüchliche Expertenempfehlungen, die Diskrepanz zwischen Forschung und Praxis, um nur einige zu nennen.

Das Land der Traumafolgestörungen erscheint komplex und vielschichtig. Wie können wir dieses Land überblicken, wie uns angemessen vorbereiten, wie uns annähern, wie uns zurechtfinden, wie Kontakt aufnehmen, wie uns einfühlen? Welche Landkarte sollen wir wählen, welche Navigation nutzen? Gibt es eine exakte Vermessung dieses Landes, verlässliche und gültige Informationen? Wo bekommen wir den besten Topo-Führer her? Einerseits scheinen potenziell traumatisierende Ereignisse mindestens als Nachrichten aus sämtlichen Medien zum festen und alltäglichen Bestandteil unseres Lebens zu gehören, andererseits findet sich eine große innere Distanzierung. Sie ist nachvollziehbar und verständlich. Sie kann jedoch unter Umständen negative Konsequenzen haben, wie beispielsweise abzustumpfen, und die Arbeit mit traumatisierten Menschen deutlich erschweren. Daneben finden sich glücklicherweise Motivation und Engagement für die Begleitung und Unterstützung von traumatisierten Menschen sowie Hilfsbereitschaft, Solidarität und Mitgefühl.

Um sich besser zurechtzufinden und den betroffenen Menschen angemessen begegnen zu können, werden im Folgenden sechs Orientierungshilfen vorgestellt:

1)Symptomatik

2)Ereignisse

3)Funktionsniveau und Persönlichkeit

4)Diagnostik

5)Therapiekonzepte/-verfahren

6)Prozesse und Wirkfaktoren

Die Orientierungshilfen können die psychotherapeutische Arbeit erleichtern. Sie helfen, sich einen Überblick zu verschaffen. Sie dienen noch nicht der Beantwortung von Behandlungsfragen, d. h., sie stellen noch keine konkreten Behandlungsschritte dar, die im zweiten Teil des Buches erläutert werden. Sie dienen der Handhabung einer vermeintlich schwer greifbaren Komplexität. Sie können als Einstiegshilfen sowie als Aktualisierungen genutzt werden. In vielen Punkten überschneiden sie sich. Es geht nicht darum, abgrenzbare Einheiten zu schaffen, sondern Blickrichtungen zu eröffnen und eine Verständigung zu ermöglichen.

2.1Orientierung mittels der Symptomatik von Traumafolgestörungen

In unseren Praxen, in Kliniken, Beratungsstellen und weiteren Institutionen treffen wir auf Menschen, die sich Hilfe suchend an uns wenden. Sie leiden unter Symptomen. Wir fragen in etwa: Was führt Sie zu mir? Worunter leiden Sie? Was möchten Sie verändern? Unabhängig von der schulenspezifischen Strategie der Fragen an Patienten im Erstkontakt verschaffen wir uns einen Überblick über ihre Beschwerden und Symptome. Die Symptome führen uns bestenfalls zu einem Störungsbild, für das wir fundierte Behandlungsangebote auswählen und anbieten. Das klingt wie ein praktikabler roter Faden: Symptome – Störung – Behandlung. Für einen großen Teil der Patientinnen und Patienten, die unter Traumafolgestörungen leiden, ließe sich dieser rote Faden anwenden. Sie schildern eindeutige Symptome einer Traumafolgestörung. Die Einordnung der Störung und die Erstellung eines Behandlungsplanes können zügig erfolgen und die Therapie erfolgt in der gewünschten Art und Weise.

Die Hauptsymptome der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) sind: (1) Intrusionen, (2) Vermeidung/Numbing und (3) Übererregung (Hyperarousal). Zusätzlich (vor allem bei komplexen Traumatisierungen) finden sich: gestörte Affektregulation und Impulskontrolle, depressive Symptome, chronische Suizidalität, schwere Selbstverletzungen, Selbstwahrnehmungsstörungen, Gefühle der Hilflosigkeit, massive Antriebsarmut, Scham, Schuld, Selbstbeschuldigungen, ausgeprägter Ekel und Selbsthass (Hecker u. Maercker 2015, S. 552).

Das Feld ist trotzdem durch eine erheblich höhere Komplexität charakterisiert. Nicht alle Fälle lassen sich so leicht zuordnen, wie es hier erscheinen könnte.

Zum einen ist vielen Patientinnen und Patienten der traumatische Hintergrund ihrer Beschwerden gar nicht klar. Sie zeigen eine große Bandbreite psychischer und somatischer Beschwerden, die nicht unbedingt auf eine Traumafolgestörung hinweisen. Viele dieser Symptome lassen sich letztlich als komorbide Symptome beschreiben. Laut Leitlinienempfehlung 2 der S3-Leitlinie Posttraumatische Belastungsstörung ICD-10: F43.1 soll beachtet werden, dass komorbide Störungen bei der Posttraumatischen Belastungsstörung eher die Regel als die Ausnahme sind (Flatten et al. 2011, S. 203). In diesen Fällen ist die Orientierung anhand der Symptome ziemlich schwierig, die Landschaft scheint vor allem vernebelt, nirgends finden sich Wegweiser und niemand sagt einem, womit man es zu tun hat.

Zum anderen kann eine spezifische Symptomatik derart hervorstechen, dass der Blick für den Hintergrund missglückt. Beispielsweise können Symptome der Depression, Angststörungen, Zwangsstörungen oder Suchterkrankungen den Blick auf einen möglichen traumaassoziierten Hintergrund verbauen. Selbst wenn ein traumatischer Hintergrund auftaucht, bleiben die Fragen offen, ob er als primär anzusehen ist und die weiteren Symptome als sekundäre Störungen oder umgekehrt (Dammann u. Overkamp 2004, S. 13).

Weiterhin besteht die Charakteristik von dissoziativen Störungen als wichtigen Traumafolgestörungen (Flatten et al. 2011, S. 202) gerade darin, eine direkte Verbindung, also den Kontakt zu traumatischem Geschehen zu unterbrechen (Fritzsche 2017, S. 79 ff.; Fritzsche 2018b, 119 ff.). Für die klinische Praxis bedeutet dies, dass wir auf Patientinnen und Patienten treffen, die unter einer Traumafolgestörung leiden, jedoch kein typisches PTBS-Störungsbild aufweisen. Beispielsweise können sie kein traumatisches Ereignis nennen. Sie erinnern nichts dergleichen. Wir können insofern zwei Patientengruppen unterscheiden: die Gruppe mit deutlichen und typischen Symptomen von Traumafolgestörungen (beispielsweise der PTBS) und die Gruppe mit einem eher diffusen, unklaren Symptombild, in dem ein traumatischer Hintergrund vorerst fehlt bzw. nicht vonseiten der Patienten benennbar ist.

Für die zweite Gruppe möchte ich zwei kurze Beispiele schildern. Eine Patientin wandte sich mit dem Anliegen an mich, einen besseren Zugang zu ihren Gefühlen zu erhalten. Sie schilderte eine absolut unproblematische Kindheit und konnte sich ihre Schwierigkeiten nicht erklären. Im Behandlungsverlauf stellte sich eine komplexe dissoziative Störung heraus, die u. a. beinhaltete, dass der bewusste Zugang zu langjährigen sexuellen Traumatisierungen unterbunden blieb. In einem weiteren Fall stand die massive Alkoholsucht eines Patienten im Vordergrund. Mehrere zurückliegende stationäre und ambulante Behandlungsversuche waren gescheitert. Im Behandlungsverlauf wurde die Funktionalität des Alkoholkonsums als bisher einzig wirksame Bewältigungsstrategie im Umgang mit jahrelang anhaltenden Traumafolgen deutlich. Die Beispiele sollen nicht dafür sprechen, dass hinter jeder psychischen und somatischen Störung eine Traumatisierung verborgen liegt. Sie sollen vielmehr dafür sensibilisieren, dass uns viele Patienten mit einem unklaren Symptombild begegnen.

Von welchen typischen Symptomen sprechen wir? Lotzin, Mauer und Köllner erstellten eine Übersicht über die Symptomkriterien der »spezifisch belastungsbezogenen psychischen Störungen« nach ICD-11 mit den Kategorien: Störung nach ICD-11, Stressor, Symptomkriterien nach ICD-11 und Zeitkriterium nach ICD-11 (Lotzin, Mauer u. Köllner 2019, S. 33). Im Folgenden werden die Störungen und Symptomkriterien aufgeführt.

Neben den hier aufgeführten Störungen sind in der S3-Leitlinie Posttraumatische Belastungsstörung ICD-10: F43.1 weitere Traumafolgestörungen sowie weitere Störungen, bei denen traumatische Belastungen maßgeblich mitbedingend sind, aufgeführt (Flatten et al. 2011, S. 202):

•akute Belastungsreaktion (wird im ICD-11 nicht mehr als Diagnosekategorie, d. h. als psychische Erkrankung aufgeführt; Lotzin, Mauer u. Köllner 2019, S. 35)

•andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung

•dissoziative Störungsbilder

•somatoforme Schmerzstörung

•emotional instabile Persönlichkeitsstörung (Borderline)

•dissoziative Persönlichkeitsstörung

•Essstörungen

•affektive Störungen

•Substanzabhängigkeit

•somatoforme Störungen

•körperliche Erkrankungen


Übersicht über die Symptomkriterien der »spezifisch belastungsbezogenen psychischen Störungen« nach ICD-11
Störung nach ICD-11 Symptomkriterien nach ICD-11
PTBS •Wiedererleben •Vermeidung von Gedanken und Aktivitäten, die an das Ereignis erinnern •anhaltendes Gefühl einer erhöhten aktuellen Bedrohung
Komplexe PTBS •Wiedererleben •Vermeidung von Gedanken und Aktivitäten, die an das Ereignis erinnern •anhaltendes Gefühl einer erhöhten aktuellen Bedrohung •Schwierigkeiten in der Emotionsregulation •negative persönliche Grundüberzeugungen •Schwierigkeiten, Beziehungen aufrechtzuerhalten oder sich anderen nahe zu fühlen
Anhaltende Trauerstörung •intensive Sehnsucht nach dem Verstorbenen •gedankliches Verhaftet-Sein mit dem Verstorbenen oder den Todesumständen, begleitet von tiefem emotionalem Leid
Anpassungsstörung •Beschäftigung mit dem belastenden Ereignis oder seinen Folgen, einschließlich übertriebenes sich Sorgen, wiederkehrende belastende Gedanken an das Ereignis oder Grübeln über seine Auswirkungen •mangelnde Anpassung an die veränderte Lebenssituation
Reaktive Bindungsstörung •keine Zuwendung zur Fürsorgeperson, um Trost, Unterstützung und Fürsorge zu erhalten, selbst wenn eine angemessene Bindungsperson verfügbar ist •kaum Annäherungsverhalten gegenüber Erwachsenen •keine Reaktion, wenn Trost angeboten wird
Beziehungsstörung mit Enthemmung •wahllose Annäherung an Erwachsene •Fehlen von Zurückhaltung •Weggehen mit unbekannten Erwachsenen •übermäßig vertrautes Verhalten gegenüber Fremden

Tab. 1: Übersicht über die Symptomkriterien der »spezifisch belastungsbezogenen psychischen Störungen nach ICD-11« (Auszug aus: Lotzin, Mauer u. Köllner 2019, S. 33)

 

Insbesondere der Bereich der dissoziativen Störungen kann den Überblick und das Zurechtfinden sehr erschweren, da er beispielsweise das erste PTBS-Kriterium außer Kraft zu setzen vermag. Menschen mit dissoziativen Symptomen können teilweise gerade aufgrund ihrer Symptomatik keine traumatischen Ereignisse nennen. Das sogenannte »Typ-A-Kriterium« bleibt offen. Es wird separiert.

Dissoziation wird definiert als teilweiser oder völliger Verlust der normalen Integration von Erinnerungen an die Vergangenheit, des Identitätsbewusstseins, der unmittelbaren Empfindungen sowie der Kontrolle von Körperbewegungen (ICD-10) bzw. als Störung und/oder Unterbrechung der normalerweise integrativen Funktionen des Bewusstseins, des Gedächtnisses, der Identität, der Gefühle, der Wahrnehmung, der Körperrepräsentation und des Verhaltens (DSM-5) (zit. n. Priebe, Stiglmayr u. Schmahl 2018, S. 488).

Priebe, Stiglmayr u. Schmahl (2018) geben eine Kurzbeschreibung der dissoziativen Störungen (ebd., S. 489), die in Tab. 2 dargestellt wird.


Kurzbeschreibung der dissoziativen Störungen
Störungsform Beschreibung
Dissoziative Amnesie •teilweise oder vollständige Unfähigkeit, sich an vergangene belastende oder traumatische Ereignisse zu erinnern •ausgeprägter und anhaltender als normale Vergesslichkeit
Dissoziative Fugue •Amnesie •zusätzlich: Verlassen des Wohn- oder Arbeitsplatzes
Dissoziativer Stupor •Verringerung oder Fehlen willkürlicher Bewegungen, von Sprache und Reaktionen auf Licht, Geräusche und Berührung •normaler Muskeltonus, aufrechte Haltung und Atmung sind erhalten
Dissoziative Bewegungsstörung •entweder teilweiser oder vollständiger Verlust der Bewegungsfähigkeit oder Koordinationsstörungen
Dissoziative Krampfanfälle •plötzliche krampfartige Bewegungen, die an einen epileptischen Anfall erinnern •selten Zungenbiss, schwere Verletzungen beim Sturz oder Urininkontinenz
Dissoziative Sensibilitäts- und Empfindungsstörungen •entweder teilweiser oder vollständiger Verlust von Hautempfindungen bzw. Seh-, Hör- oder Riechverlust
Dissoziative Identitätsstörungen (DIS) •2 oder mehr unterschiedliche Persönlichkeiten mit eigenem Gedächtnis, Vorlieben, Verhaltensweisen, die zu bestimmten Zeiten Kontrolle über das Verhalten der Person haben •Unfähigkeit, sich an wichtige persönliche Informationen zu erinnern
Depersonalisations-/Derealisationssyndrom •entweder Depersonalisation (Entfremdung gegenüber der eigenen Person) oder Derealisation (Unwirklichkeitsgefühl gegenüber der Umgebung)

Tab. 2: Kurzbeschreibung der dissoziativen Störungen (übernommen aus: Priebe, Stiglmayr u. Schmahl 2018, S. 489)

Zur Verdeutlichung werden im Folgenden eigene Praxisbeispiele angeführt:


Praxisbeispiele für dissoziativen Störungen
Störungsform Beispiel
Dissoziative Amnesie Die 50-jährige Patientin kann sich kaum an Ereignisse aus ihrer Kindheit und Jugend erinnern. Erinnerungen vor ihrem 16. Lebensjahr sind sehr lückenhaft bis nicht vorhanden. Im Verlauf der Behandlung treten einzelne Erinnerungen an traumatische Ereignisse aus dieser Zeit auf (Gewalt, sexueller Missbrauch).
Dissoziative Fugue Die 45-jährige Patientin ruft mich von einem Ort der Stadt an, den sie nicht kenne, und sie wisse nicht, wie sie dorthin gelangt sei. Sie sei in ihrem Auto und kenne weder die Gegend noch den Anlass der Fahrt, noch habe sie eine Idee, wie sie nach Hause gelangen könnte.
Dissoziativer Stupor Die 26-jährige Patientin verfällt mehrmals in Behandlungssitzungen in bewegungslose Zustände, in denen sie nicht mehr ansprechbar ist. Sie reagiert nicht auf meine Stimme, ebenfalls nicht auf meine Bewegungen. Die Zustände stehen in Zusammenhang mit der Nähe, die wir zu traumatischen Ereignissen ihrer Biografie herstellen.
Dissoziative Bewegungsstörung Der 48-jährige Patient wurde aufgrund von Bewegungsstörungen (der unteren Extremitäten) in einer neurologischen Spezialklinik behandelt, ohne dass eine neurologische Verursachung gefunden werden konnte. Mehrere Monate verbrachte er im Rollstuhl, bis er das Gehen langsam wieder lernte. Sein Gangbild war in der Therapie überwiegend unauffällig, änderte sich jedoch deutlich in Sitzungen, in denen das Belastungsniveau anstieg. Solche Sitzungen verließ er humpelnd.
Dissoziative Krampfanfälle Die 23-jährige Patientin berichtete von Krampfanfällen, die sie zu Hause erlebt hatte und die ihr große Angst machten. Im Behandlungsverlauf wird ein Zusammenhang mit traumatischem Stress deutlich. Während einer geplanten Konfrontation mit traumatischem Erinnerungsmaterial tritt ein solcher Krampfanfall in der Praxis auf. Die Anfälle gehen in dem Ausmaß zurück, in dem die Bearbeitung der Traumafolgestörung Fortschritte zeigt.
Dissoziative Sensibilitäts- und Empfindungsstörungen Der 28-jährige Patient beschreibt, wie er im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung mit dem traumatischen Verlust, den er erlebte und weshalb er in Behandlung ist, wiederholt in Zustände gerate, in denen er mich nur noch wie aus weiter Ferne wahrnehmen würde, wie durch ein herumgedrehtes Fernrohr. Seine Wahrnehmung würde auf einen minimalen Punkt zusammenschmelzen (stecknadelgroß) und alles andere wäre wie eingefroren.
Dissoziative Identitätsstörungen (DIS) Der 47-jährige Patient beschwert sich über ein neues Tattoo, das sich plötzlich auf seiner Brust befindet. Er könne sich denken, wer dafür verantwortlich sei, und zeigt sich sehr verärgert, dass er keine Möglichkeit hatte, diesen Persönlichkeitsanteil daran zu hindern. Er schäme sich für dieses kindliche Motiv und würde sich so etwas niemals tätowieren lassen (da wüsste er ganz andere Motive, die er mir lieber nicht verraten möchte).
Depersonalisations-/Derealisationssyndrom Die 25-jährige Patientin berichtet davon, wie sie eine stationäre traumatherapeutische Behandlung sozusagen ohne ihr Beisein absolvierte. Die meiste Zeit habe sie jeweils an der Zimmerdecke verbracht. Sie habe die Behandlungen von dort aus beobachtet und sich selbst als fremd erlebt. Die Szenerie sei ihr ebenfalls als fremd und unwirklich vorgekommen. Mit ihr habe das alles offensichtlich nichts zu tun gehabt.

Tab. 3: Praxisbeispiele für dissoziative Störungen