Ego-State-Therapie bei Traumafolgestörungen

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Zukunft ist zu Ende gebrachte Geschichte.

Daniela Dahn (2017)

Rückkehr von der Wache

Einen Steinwurf von der Kaserne entfernt

wächst Mais in den Rosengärten;

am Schluss torkeln wir todnüchtern

den Weg zur Eisenbahnlinie entlang.

Nur noch durch den Schmerz spürt er den Arm im Gips,

nicht mehr durch fremde Berührung.

Und er merkt nicht die Hand, die eine Tasse

heißen Kaffee auf den Tisch stellt.

Denn die Nacht ist von Explosionen erleuchtet

und Nebelschleier liegt noch auf dem Brillenglas:

und ein Blatt im Hof schlägt

unter den Regentropfen wie ein Herz.

Asmir Kujović1

1Asimir Kujović: Rückkehr von der Wache. Aus: Das versprochene Land. Aus dem Bosnischen übersetzt von Ana Bilić. Klagenfurt/Celovec: Wieser, 2005. Mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

Vorwort

In meinem Buch Praxis der Ego-State-Therapie (Fritzsche 2018a) habe ich die Konzeption der Ego-State-Therapie und die Möglichkeiten ihrer Anwendung in der Praxis beschrieben. Seit dem Erscheinen der ersten Auflage 2013 habe ich diesbezüglich viele erfreuliche und bestärkende Rückmeldungen erhalten und mich über das große Interesse der Leserinnen und Leser sowie über deren vielfältigen Einsatz der Ego-State-Therapie in der Praxis gefreut. Dabei wurden auch die Wünsche nach einer traumatherapeutischen Vertiefung laut, da eine solche in dem Buch nicht enthalten war. Es brauchte einige Zeit, bis aus der Idee ein konkretes Projekt wurde, dessen Ergebnis nun in Ihren Händen liegt.

Das Buch soll zwei Aufgaben erfüllen. Zum einen möchte ich eine umfassende Konzeption der Behandlung von Traumafolgestörungen mit Ego-State-Therapie vorstellen und zum anderen konkrete Interventionen praxisnah erläutern, die aus dieser Konzeption abgeleitet sind. Es geht in diesem Buch also um die Fokussierung auf ein Störungsbild, das der Traumafolgestörungen. Dieses Störungsbild zeichnet sich durch eine sehr große Bandbreite aus. In Anbetracht des Ausmaßes dieser Bandbreite ist es anspruchsvoll, die Besonderheiten der verschiedenen Traumafolgestörungen und deren Behandlung in einer Publikation zu vereinen bzw. die Grundkonzeption auf die Heterogenität der Störungen zu beziehen. Dies stellte für mich jedoch ein wichtiges Anliegen und den Reiz des Projektes dar. Die vorgelegte Behandlungskonzeption lässt sich an die Verschiedenartigkeit der unterschiedlichen Traumafolgestörungen anpassen. Insofern werden nicht alle Behandlungsschritte in der gleichen Gewichtung und im gleichen Umfang zur Anwendung kommen, sondern für den jeweiligen Fall nach einer spezifischen Indikation modifiziert. Dabei ist es mir besonders wichtig, die Vielfalt der Ego-State-Therapie zu zeigen und diese in den Interventionen deutlich zu machen. Es gibt im Konzept der Ego-State-Therapie nicht »das eine Vorgehen«. Es zeichnet sich durch einen hohen Grad an Komplexität und Flexibilität aus. Für Lernende ist dieses Charakteristikum zuweilen mit Irritationen und Mühen verbunden. Es bietet jedoch sehr wichtige und konstruktive Handlungsspielräume, die den Besonderheiten der Behandlungsfälle gerecht werden. Die Konzeption soll sich an die Patientinnen und Patienten anpassen können und nicht umgekehrt. Die Praktikabilität der Konzeption wird besonders in seiner klinischen Anwendung deutlich. Es werden fünf verschiedene Interventionen vorgestellt und ausführlich erläutert. Diese Interventionen sind auf verschiedene Erlebensebenen, Wirkmechanismen und Verarbeitungswege bezogen. Sie reichen von der hypnotherapeutischen Arbeit über die Stühle-Arbeit bis hin zur körperfokussierten Arbeit. Die Interventionen lassen sich einzeln oder in Kombination miteinander anwenden, was die Nutzungsmöglichkeiten noch erweitert.

Die Grundkonzeption der Behandlung von Traumafolgestörungen sowie die davon abgeleiteten Interventionen stützen sich auf meine über 20-jährigen praktischen Erfahrungen, in denen ich vor allem mit Patientinnen und Patienten arbeitete, die unter Traumafolgestörungen litten. Wie bei vielen Kolleginnen und Kollegen auch, bestand der Schwerpunkt meiner Arbeit zu Beginn meiner Laufbahn aus der Behandlung von Traumafolgestörungen in Zusammenhang mit Typ-1-Traumatisierungen. Mit der Zeit veränderte sich dieser Schwerpunkt und ich behandelte zunehmend komplextraumatisierte Patientinnen und Patienten. Mein Interesse galt dabei stets der Integration von Konzepten und Interventionen. Die Notwendigkeit eines integrativen Ansatzes der Behandlung von Traumafolgestörungen wurde mir immer deutlicher. Die Ego-State-Therapie sollte den Rahmen für eine derartige integrative Konzeption darstellen. Nachdem ich 2003 auf die Ego-State-Therapie gestoßen war, prägte sie meine Arbeit. Seit dieser Zeit verfolgte ich den Ansatz, entwickelte ihn zunehmend selbst weiter und begann, ihn zu unterrichten sowie entsprechende Publikationen zu erstellen. Die Ego-State-Therapie innerhalb eines Institutes mit der durch Maria Schnell vertretenen Hypnotherapie nach Milton Erickson vereinen zu können, ist eine besondere Freude, die ich mit einer stetig wachsenden Zahl an Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Veranstaltungen des Instituts für klinische Hypnose und Ego-State-Therapie (IfHE) sowie vieler weiterer Institute und Institutionen teile, in denen ich unterrichte. Die Erfahrungen, die ich insbesondere im Rahmen des Zertifizierten Curriculums für Ego-State-Therapie sammeln kann, sind für mich sehr wertvoll. Für den regen Austausch mit den Kolleginnen und Kollegen bin ich überaus dankbar.

Der Bereich der Konzepte und Behandlungsvorschläge für die Therapie von Traumafolgestörungen ist unübersichtlich geworden. Die »Landschaft ist dicht besiedelt« und die Navigation mitunter schwierig. Soweit es mir möglich war, habe ich versucht, Konzepte und Interventionen einzubeziehen bzw. auf sie zu verweisen. Mir ist klar, dass dies nicht vollständig realisierbar ist und nicht alles Erwähnung finden kann. Das vorliegende Konzept bietet die Möglichkeit der Integration von Ansätzen. Es verleibt sich diese Ansätze nicht ein, sondern es nutzt sie zur Umsetzung eines fundierten und konzeptgeleiteten Behandlungsplans. Für diese Integration sehe ich ein großes Potenzial. Ich freue mich darauf, weitere Anregungen zu erhalten und neue Vorgehensweisen zu erlernen, von denen ich möglicherweise wieder einige Aspekte in meine Grundkonzeption einfließen lassen kann. Die konzeptionellen Impulse sind aus der Perspektive eines integrativen Modells unerlässlich.

Aus dem Projekt, die Praxis der Ego-State-Therapie für den Bereich der Behandlung von Traumafolgestörungen zu vertiefen, ist ein Handbuch im vorliegenden Umfang geworden. Es gab derart viele wichtige Aspekte, dass ein reduzierteres Format nicht mehr sinnvoll erschien. Das Buch ist in zwei Teile gegliedert.

Der erste Teil bietet eine aktuelle Orientierungsmöglichkeit im Bereich der Traumafolgestörungen sowie hinsichtlich der relevanten Konzepte des Ego-State-Modells. Beide Bereiche weisen eine dynamische Entwicklung auf. Beispielsweise stellt das Erscheinen der ICD-11 eine wichtige Neuerung dar, die Auswirkungen auf die praktische Arbeit hat. Ebenso wichtig erscheinen mir die fortlaufenden Daten zur Wirksamkeit von spezifischen Prozessen und Interventionen sowie die Vorschläge zur Kombination von Ansätzen. Durch meine therapeutische Arbeit und Lehrtätigkeit befindet sich meine Konzeption der Ego-State-Therapie »in Bewegung« und wird durch viele Impulse beeinflusst. Insofern stellt die Orientierung im Bereich der Ego-State-Therapie auch eine Aktualisierung dar.

Der größte Teil des Buches, der zweite Teil, ist der praktischen Anwendung gewidmet. Zunächst wird die Grundkonzeption zur Behandlung von Traumafolgestörungen mit Ego-State-Therapie erläutert. Anschießend werden fünf verschiedene Interventionen vorgestellt. Die einzelnen Kapitel werden durch Übersichten, Checklisten, Interventionsbeispiele und Verweise auf Alternativen ergänzt. Für jede der fünf Interventionen wird jeweils eine Struktur angegeben, die einen Überblick über die Behandlungsschritte ermöglicht. Die Strukturen bieten einen Leitfaden für die Praxis, eine Unterstützung der Umsetzung im therapeutischen Alltag sowie eine Modifikationshilfe für die Anpassung an die Besonderheiten des jeweiligen Behandlungsfalls. Zusätzlich wurden Fallbeispiele eingefügt, die die Arbeit in der Praxis verdeutlichen. Die Grenzen des Gesamtumfangs des Buches reglementierten die Anzahl und Ausführlichkeit der Fallbeispiele. Die Erläuterung der einzelnen Behandlungsschritte hatte zunächst Vorrang. Aus diesem Umstand ergab sich bereits die Idee für ein weiterführendes Projekt, in dem Skripte, Fragen, Beispiele und Spezifika einzelner Traumafolgestörungen weiter vertieft werden.

Ich habe mich in diesem Buch für eine Sprache entschieden, mit der ich Sie, liebe Leserin und lieber Leser, häufig direkt anspreche. Das hat mit meinem Bedürfnis zu tun, Ihnen zu begegnen, vielleicht so, als würden Sie sich in einem meiner Seminare befinden. Ich werde also die erste Person nutzen, ich werde Sie direkt ansprechen und nur teilweise die indirekte Rede verwenden. Hinsichtlich der Gender-Frage habe ich mich für die Variante der abwechselnden Verwendung der weiblichen und männlichen Form entschieden.

Wenn ich ein Buch über die Ego-State-Therapie zur Behandlung von Traumafolgestörungen schreibe, bin ich natürlich auch mit meinen eigenen Ego-States konfrontiert, die bei einem solch umfangreichen Projekt nicht lange auf sich warten lassen und mich während der Zeit des Schreibens begleiten. Als Erstes ist hier ein Anteil zu nennen, der meine Begeisterungsfähigkeit und Neugier repräsentiert. Ergreift anscheinend auf jede Idee zu, lässt sie nicht mehr los und möchte sie kreativ umsetzen. Als Nächstes tritt ein Anteil hervor, der sich als Anwalt für die Beziehung zu meinen Patientinnen und Patienten und letztlich insgesamt zu anderen Menschen versteht. Dieser Anteil sorgt für die vielen Begegnungen während des Entstehungsprozesses dieses Buches. Er scheucht mich sozusagen aus dem Kämmerchen und bringt mich mit anderen Menschen zusammen. Er ließ das Schreiben zu einem äußerst interaktiven Erlebnis werden. Natürlich meldet sich auch der Anteil, der sich als Experte für Ego-State-Therapie einschätzt. Er erscheint als Trainer, Lehrer und Therapeut. Offensichtlich hat er einen pädagogischen Anstrich, hat Freude am Unterrichten und ergreift Partei für die Patientinnen und Patienten, denen er gerecht werden will. Und schließlich zeigt sich ein strenger Kritiker, der wohl ziemlich hohe Ansprüche hat und natürlich kaum zufriedenzustellen ist. Wie Sie sehen, ist selbst im stillen Kämmerchen einiges los. Diese Vielfalt hat sich offensichtlich als konstruktiv herausgestellt. Sonst wäre das Buch nicht vollendet worden.

 

Viele Menschen haben den Entstehungsprozess begleitet. Ihnen allen bin ich sehr dankbar. Den größten Anteil haben meine Patientinnen und Patienten aus den vielen Jahren meiner psychotherapeutischen Tätigkeit. Von ihnen lernte ich am meisten. Sie bringen mich immer wieder in die ambulante psychotherapeutische Realität zurück und fordern mich auf, mich weiterzuentwickeln. Ebenso bin ich für die vielen Diskussionen mit den Teilnehmerinnen und Teilnehmern meiner Seminare, Workshops und Supervisionen dankbar. Sie fragen nach. Sie wünschen sich überzeugende Konzepte und praktikable Werkzeuge. Sie weisen mich auf Lücken und Unklarheiten hin und helfen mir dadurch außerordentlich, nicht vom Wege abzukommen. Dr. Richard Huybrechts und Susanne Wirtz bin ich für ihre wichtige inhaltliche Mitarbeit dankbar. Ihre Hinweise zu den Texten waren für mich sehr wertvoll. Dr. Andrea Curio und Dr. Michael Siebers danke ich für die vielen konzeptionellen Anregungen, die meine Arbeit überaus bereichern und in dieses Buch eingeflossen sind. Meiner Tochter Nele bin ich dankbar für die Unterstützung bei sprachlichen Fragen. Meiner Frau Berit danke ich für die endlose Geduld und wichtige Unterstützung dieses Projekts, das neben meiner Praxis- und Seminartätigkeit entstand. Meinem Sohn Claas danke ich für sein Verständnis angesichts meiner ausgeprägten Absorption während des Entstehungsprozesses. Nicht zuletzt danke ich Dr. Ralf Holtzmann, Dipl.-Inform. Veronika Licher und dem Team des Carl-Auer Verlags für das Vertrauen, das mir entgegengebracht wird, und die bestärkende und wohltuende Zusammenarbeit.

Kai Fritzsche Berlin, im März 2020

Teil 1 – Orientierung

1Erster Kontakt mit der Thematik der Traumafolgestörungen

Wenn ich heute an den ersten Kontakt mit meinem Berufsleben als Psychotherapeut, an die Anfänge meiner psychotherapeutischen Laufbahn in der Universitätsambulanz für Psychodiagnostik und Psychotherapie der Humboldt-Universität zu Berlin zurückdenke, dann staune ich darüber, wie meine damaligen Patientinnen und Patienten trotz meiner Behandlung gesund wurden. Hochmotiviert, enthusiastisch, man könnte auch sagen etwas hypomanisch und unwissend stürzte ich mich mit meinen Rettungsfantasien förmlich auf sie, sodass ihnen, falls sie sich für ein Verbleiben in der Therapie entschieden hatten, nur eine Chance blieb, die darin bestand, möglichst schnell gesund zu werden.

Den glücklichen Verlauf meiner weiteren beruflichen Entwicklung habe ich vor allem drei Umständen zu verdanken:

1)Die Patienten hatten Geduld mit mir und unterstützten mich in meinen Bemühungen, indem sie mir behilflich waren, ihnen angemessen zu helfen. Ihnen habe ich am meisten zu verdanken und ohne sie könnte ich heute nicht dieses Buch schreiben. Meine Patientinnen und Patienten forderten mich. Sie brachten mich wieder auf den Boden, sie zeigten Verständnis für meine Naivität und sie schenkten mir ihr Vertrauen, das größte Geschenk, das ihnen möglich war.

2)Ich hatte das Glück eines wohlwollenden und verständnisvollen Supervisors, der meine Bemühungen richtig einzuschätzen vermochte und eine wunderbar wertschätzende Art besaß, mich auf die Gefahren meines Tuns sowie auf angemessene psychotherapeutische Wege hinzuweisen, ohne meine Motivation zu bremsen.

3)Ich war fasziniert von der Begegnung mit Menschen. Ihre Geschichte interessierte mich und das spürten sie. Ich wollte verstehen, mitfühlen, Ideen bekommen. Ich wollte mit ihnen ein Stück des Weges gemeinsam gehen, mal einen Schritt voraus, mal einen Schritt hinterher und möglichst häufig genau neben ihnen. Ich wollte mich auf ihre Seite schlagen, was einerseits unmöglich schien, was sie andererseits unbedingt brauchten. Ich suchte mit ihnen gemeinsam nach Bewältigungsschritten, bildete mit ihnen ein Team, das meiner Vorstellung nach durch dick und dünn ging, und versorgte sie mit Zuversicht.

Seitdem ist viel Zeit vergangen und ich hatte reichlich Gelegenheit zu lernen, nicht nur von meinen Patientinnen und Patienten, sondern auch aus einem riesigen Wissensfundus all derer, die sich mit dem Thema des Verstehens von psychischen, physischen und sozialen Prozessen in Zusammenhang mit Traumatisierungen und mit den Behandlungsmöglichkeiten von Traumafolgestörungen beschäftigten und noch immer beschäftigen. Ich werde natürlich nicht alle zitieren können, die mich in meiner Arbeit beeinflusst haben. Ich werde jedoch versuchen, so viele Verweise unterzubringen, wie es möglich ist.

In meinen Seminaren und Vorträgen werde ich häufig gefragt, wie ich es aushalten würde, mich den ganzen Tag mit Traumatisierungen zu beschäftigen. Die Antwort fällt mir nicht schwer: Ich beschäftige mich nicht den ganzen Tag mit Traumatisierungen. Ich habe das Glück, mich den ganzen Tag Menschen widmen zu können. Diese sind mehr als ihre traumatischen Erfahrungen, deutlich mehr. Trotz der Nähe zum Schrecken, zu Ohnmacht, Hilflosigkeit, Bedrohung und Gewalt freue ich mich auf die Begegnung mit diesen Menschen.

Ich bin ihnen auch dankbar dafür, dass sie mit mir arbeiten und mir meine Ecken und Kanten ebenso verzeihen können wie meine Fehler.

Bereits bei meinem ersten Kontakt mit dem Berufsleben als Psychotherapeut begegnete ich Menschen, die unter Traumafolgestörungen litten. Wie bei allen anderen psychischen und somatischen Störungen auch, halte ich es für wichtig, die eigenen Reaktionen, Impulse und Gefühle wahrzunehmen, die diese Störungen bzw. Menschen, die unter ihnen leiden, auslösen. In der Behandlung von Traumafolgestörungen werden wir mit einer Vielzahl an schrecklichen Geschichten konfrontiert. Es bleibt eine berufslebenslange Aufgabe, eigene konstruktive Wege zu finden, damit gut umzugehen. Zum Glück gibt es hinter den schrecklichen Geschichten immer den Menschen, zu dem auch andere Geschichten und andere Seiten gehören. Ich möchte an dieser Stelle vom ersten Kontakt mit einer der komplexen und drastischen Biografien berichten, die ich als junger Therapeut erlebte und die mit zu den Behandlungen gehörte, die meine traumatherapeutische Ausrichtung prägte. Die Fallsequenz stellt auch für Sie, liebe Leserin und lieber Leser, in diesem Buch einen ersten Kontakt mit betroffenen Menschen dar, von denen viel berichtet werden wird und die uns mit all ihren Facetten begleiten werden. Das Fallbeispiel 1 führt uns mitten hinein in die Fragen der Beschreibung, Einordnung, Behandlung und des Erlebens von komplexen Traumafolgestörungen. Es kann auch die unterschiedlichen Gefühle verdeutlichen, die Biografien bei uns auslösen, in denen traumatisches Geschehen enthalten ist.

Fallbeispiel 1

Der erste Kontakt mit der kasachischen Patientin fand im Beisein ihrer Betreuerin statt, die sich händeringend mit der Bitte um eine traumatherapeutische Behandlung für die junge Frau an mich gewandt hatte. Der sowjetische Hintergrund stand während meiner Kindheit und Jugend in der DDR nicht besonders hoch im Kurs. Umso verblüffender war der Effekt, irgendwie ziemlich schnell einen Draht zu ihr gefunden zu haben, die derart auffällig und instabil zu sein schien, dass ihr viele ambulante Therapeuten und stationäre Einrichtungen eine Behandlung verwehrten, zum Teil, da diese schon mehrmals ohne Erfolg versucht worden waren. Sie brachte mir im Therapieverlauf u. a. Zeichnungen und Grafiken mit, die sie selbst angefertigt hatte. Eine davon zeigte ein Diddl-Maus-Paar in einer Blüte. Die beiden Diddl-Mäuse umarmten sich glücklich und strahlten sich liebevoll an. Die Blüte stand farbenfroh in voller Pracht und ich versuchte, das Leben der Patientin mit diesem Bild in Verbindung zu bringen. Sie hatte es mit den Worten kommentiert, dass dies der Zustand sei, den sie erreichen möchte, ein Zustand, in dem sie glücklich sei. Ein solches Glücklichsein stand in krassem Gegensatz zu ihrer derzeitigen Situation. Sie befand sich in einem Strudel aus heftigen Symptomen, von denen das beängstigendste war, dass sie einen kaum zu kontrollierenden Drang verspürte, einen Menschen umzubringen.

Von gewalttätigen und extrem vernachlässigenden Eltern kommend, gelangte sie im Alter von 13 Jahren in Kasachstan an eine paramilitärische Einheit, in der sie zum Kämpfen ausgebildet wurde. Sie lernte dort die verschiedenen Fertigkeiten des Guerillakampfes. In den folgenden zwei Jahren führte sie Aufträge der Einheit aus, zu denen auch Auftragsmorde gehörten. Es gelang ihr später, sich nach Deutschland abzusetzen, wo sich eine komplexe Traumafolgestörung entwickelte, die die Patientin immer noch in gleichem Maße belastete. Dazwischen lagen gescheiterte Versuche der Integration, Ausbildung, Klinikbehandlungen, geschützte Wohnprojekte, Drogenprojekte, Obdachlosigkeit, Kriminalität und ein Gefängnisaufenthalt. Während dieser gesamten Zeit erlebte sie permanent Überflutungen von traumatischen Erinnerungen, Bedrohungserleben (bedroht werden und bedrohen gleichermaßen), extreme Anspannung, Angst- und Panikzustände, quälende Zwangsgedanken, Derealisationen, Suizidalität, autoaggressives Verhalten, Depressivität, Identitätsunsicherheit. Es war anspruchsvoll, ihr und ihrem Körper zu helfen, sich in Sicherheit fühlen zu können, überhaupt so etwas wie Sicherheit spüren zu können und Möglichkeiten zu finden, sich ihrem Leben und ihren Beschwerden zuzuwenden. Mir war klar, dass es dafür einen integrativen Behandlungsansatz brauchte, dass der Körper, die Gefühle und die Überzeugungen einbezogen werden müssten, dass wir sowohl top-down als auch bottom-up arbeiten müssten und dass die Behandlung nur gelingen konnte, wenn sie gut vernetzt und supervidiert stattfand.

Anhand dieses Fallbeispiels lässt sich ebenfalls zeigen, inwieweit uns eine Topografie von Traumafolgestörungen dabei unterstützt, uns in der Behandlung zu orientieren. Die verschiedenen Bereiche dieser Topografie bilden sozusagen Puzzleteile auf dem Weg der traumatherapeutischen Behandlung. Die Symptome der Traumafolgestörungen der Patientin zeigten sich sehr deutlich und ließen sich schnell mit dem zugrunde liegenden traumatischen Stress in Verbindung bringen (siehe Abschnitt 2.1). Neben den Intrusionen verschiedener traumatischer Ereignisse, den drogengestützten Vermeidungsversuchen und der anhaltenden Übererregung stand das Verlangen der Patientin, einen Menschen zu töten, absolut im Vordergrund und erforderte intensive therapeutische Arbeit. Ebenso wie die Symptome ließen sich die traumatischen Ereignisse bzw. die traumatischen Belastungen topografisch nutzen. Allerdings fand sich eine große Zahl der Ereignisse sowie der verschiedenen Arten von Traumatisierungen (siehe Abschnitt 2.2). Der aktuelle Zustand der Patientin und Aspekte ihrer Persönlichkeit ließen sich zusätzlich nutzen, um einen therapeutischen Weg zu finden (siehe Abschnitt 2.3). Einerseits wirkte die Patientin in ihrem Alltag im Rahmen des geschützten Wohnens stabil, andererseits gab das beschriebene vorrangige Symptom Anlass zu großer Sorge. Die Klassifikation der Störung der Patientin als komplexe Traumafolgestörung fiel nicht schwer. Sie diente als Grundlage für die Erstellung eines individuellen Behandlungsplanes (siehe Abschnitte 2.4 und 2.5). Aufgrund der Komplexität und Ausprägung des Störungsbildes wurde schnell klar, dass in Form einer integrativen Behandlung verschiedene therapeutische Prozesse, Strategien und Wirkfaktoren einbezogen werden müssten (siehe Abschnitt 2.6).

 

Der erste Kontakt mit dem Konzept der Ego-State-Therapie war für mich ein wichtiger Moment, der meinen weiteren Berufsweg prägen sollte. Ich war bereits nach dem ersten Seminar, zu dem ich ziemlich skeptisch angereist war, von diesem Modell begeistert. Die Ego-State-Therapie half mir, eine neue Vorstellung der Persönlichkeit zu entwickeln und verschiedene Konzepte und Ansätze, die ich bisher nebeneinander verfolgt hatte, in ein Behandlungsmodell integrieren zu können.

Die Ego-State-Therapie bietet sich nach meinem Verständnis gleichermaßen als spezifische Intervention und ebenso als ein Rahmen-Modell für die Behandlung von Traumafolgestörungen an. Beides möchte ich in diesem Buch vorstellen. Das Spektrum von Traumafolgestörungen ist derart breit, dass es sicher unmöglich ist, alle Facetten in einem Buch unterzubringen. Ich werde jedoch auf die Vielfalt der Störungen und die unterschiedlichen Implikationen für die Behandlung eingehen. Für mich und meine traumatherapeutische Arbeit war und ist die Ego-State-Therapie ein Geschenk. Dies möchte ich gerne weitergeben.