Herzbrecher

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Herzbrecher
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K.P. Hand

Herzbrecher

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Anmerkung:

Prolog

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Epilog

Impressum neobooks

Anmerkung:

Dieser Thriller beinhaltet an manchen Stellen expliziert geschilderte Gewaltszenen, an denen einige Menschen Anstoß nehmen könnten, des Weiteren handelte es sich hierbei um eine Geschichte mit homoerotischem Inhalt. Alle, die das nicht mögen, sollten ab hier nicht weiterlesen.

Es ist nicht notwendig, zuerst den Teil »Willenbrecher« gelesen zu habe, da die beiden Bände für sich selbst stehen.

Alle Personen, Orte und Organisationen sind frei erfunden und stehen nicht in Zusammenhang mit realen Ereignissen. Ähnlichkeiten sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Prolog

Zeit. Zeit kann der größte Feind des Menschen sein. Sie vergeht immer gleich, doch wir fühlen das Vergehen der verstreichenden Zeit immer anders. Mal drängt sie, mal steht sie still. Eine Stunde konnte wie ein Jahr vorkommen, ein Jahr wie ein Jahrzehnt. Zeit, die erdrückt, die einen Mann ersticken lässt, stillstehende Zeit, die einfach nicht vergehen will, man ertrinkt darin. Zeit, in der einem Mann klar wird, dass er die meiste Zeit seines Lebens, Zeit verschwendet hat.

Zeit.

Zeit.

Zeit.

Was würde er alles dafür geben, wenn sie doch nur schneller vergehen würde. Nun, so kurz vor dem Ende der erstickenden, stillstehenden Stunden, die sich Jahr für Jahr aneinandergereiht hatten, so kurz vor der Erlösung, stand die Zeit stiller denn je.

Valentin schob eine Hand unter den Kopf, seine braunen Augen waren zur fleckigen Zellendecke gerichtet, die wegen der Risse und wegen der bereits heruntergebröselten Stücke wie Schweizerkäse aussah. Er schwitzte, aber nach all den Jahren hatte er sich daran gewöhnt. Selbst die lästigen Fliegen nahm er kaum noch wahr, die über seinen nackten Oberkörper wanderten und von seinem herben Schweiß kosteten.

Von draußen vom Gefängnisinnenhof vernahm er Gelächter, Jubel und Fäuste, die auf nackte Haut trafen. Es klatschte, jemand stöhnte, die Menge jubelte, die Wärter ... drehten vermutlich wie üblich dem Geschehen den Rücken zu.

Während draußen die Neuen erkennen durften, wie das Leben in diesem Loch von nun an für sie aussehen würde, fragte sich Valentin in seiner Zelle – die er für gewöhnlich mit fünf weiteren Insassen teilte, die jedoch nur drei Betten zur Verfügung stehen hatte – warum er als einziger Mann nicht raus durfte.

Er dachte wieder an das Verstreichen der Zeit und ließ die qualmende Zigarette zwischen seinen Lippen von einem Mundwinkel zum anderen wandern. Draußen unter freiem Himmel verging die Zeit etwas schneller als in diesem Raum aus drei Betonwänden und einer Gitterwand. Es kam ihm vor, als sei er schon zwei Leben in diesem verfluchten Dritte-Welt-Insel-Gefängnis. Die Wände um ihn herum schienen täglich näher zusammenzurücken, es war ein Wunder, das sie ihn noch nicht zerquetscht hatten.

Und das alles nur, weil er jemanden vertraut hatte.

Sein Leben lang hatte er sich davor gehütet, einem anderen als sich selbst über den Weg zu trauen, und dann vergisst er all seine Vorsichtsmaßnahmen für ein hübsches Gesicht, das er – Idiot, der er nun mal war – sogar hatte beschützen wollen. Er war so ein Narr gewesen!

Aber was beklagte er sich eigentlich? Angesichts seiner Lebensweise hatte er insgeheim immer geahnt, dass er irgendwann in einem Knast endete. Er hätte nur nie erwartet, dass es ausgerechnet so ein Drecksloch sein würde.

All die Jahre hatte er damit verbracht, durch die Welt zu reisen, diesen und jenen Job anzunehmen, es gab nur ihn und seinen Koffer mit seinem Baby. Seiner Waffe. Nie hatte er einen Gedanken an Zuhause verschwenden, nie hatte er geglaubt, dass er sich nach seiner Heimat sehnen oder die Unfreundlichkeit der Deutschen vermissen würde. Jetzt tat er es. Vor allem sein Heimatdorf, mitten auf dem Land. Er vermisste den weißbärtigen dicken Mann hinter der Theke bei seinem Bäcker neben seinem Elternhaus, der ihn jeden Morgen genervt bediente. Er vermisste die seltsame alte Dame in dem Haus an der Ecke am Ende der Straße, die mit ihrer schwarzen Katze aus dem Fenster sah und Fußgänger anspuckte. Er vermisste den Mann, der unter der Brücke an der Autobahn wohnte und ein Gartentürchen wie einen Hund an der Leine hinter sich herzog. Er vermisste seine Eltern, zwei einfache Milchkuhbauern, die täglich hart für ihr Geld arbeiteten und auf ihre ländliche Art unerträglich vorurteilsvoll und ignorant waren. Er vermisste es sogar, sich von ihnen anzuhören, er sei ein Sünder und eine Schande für die Menschheit. Und er vermisste das strahlende Lächeln seiner Schwester. Verdammt, er vermisste sogar die Militärkaserne, in die er mit achtzehn Jahren geflohen war.

Er hatte oft verlangt, dass man ihn in ein deutsches Gefängnis verlegen sollte, das man ihn ausliefern sollte, aber dazu war es nie gekommen, er bezweifelte mittlerweile, dass irgendwer gewusst hat, das er hier verrottete.

Bis auf jene Person, der er es zu verdanken hatte natürlich.

Seine Gedanken wurden abgelenkt, als er Schritte über den Flur herannahen hörte. Teure Schuhe klackerten über den Boden, begleitet von den schweren, gedämpften Schritten der Stiefel der Gefängniswärter.

Neugierig runzelte Valentin seine Stirn und legte den Kopf so weit schief, dass er von seinem Hochbett hinunter zur Zellentür blicken konnte.

Ein Wärter tauchte vor der Zelle auf, dunkelhäutig und mit mandelförmigen Augen, in grüne Uniform gekleidet, wie Valentin es gewohnt war. Die Mütze hing schief auf dem kurzen dunklen Haar, weil sie dem Mann zu groß war.

Der Wärter schlug mit einem schwarzen Schlagstock gegen die Zellentür und brüllte etwas in einer fremden Sprache. Übersetzt bedeutete es so viel, wie: »Steh auf, Du Made. Hände an die Wand, Beine auseinander«.

»Fuck you«, entgegnete Valentin und wandte seine braunen Augen wieder zur Decke. Er wollte allein sein und hatte keine Lust auf einen weiteren Besuch. Er hatte diese Woche erst einen Mann von draußen empfangen müssen, der gute Neuigkeiten für ihn gehabt hatte. Valentin hatte also keinen Bedarf an weiteren Besuchern, da es für ihn nichts gab, was das letzte Treffen überragen könnte.

Die Gefängniswache brüllte etwas, das Valentin trotz, das er mittlerweile die Sprache ganz gut beherrschte, nicht verstehen konnte. Ein paar vollkommen zusammenhangslose Beleidigungen konnte er heraushören, aber die beeindruckten ihn wenig.

 

Er wusste, sein Verhalten würde ihm spätestens beim Essen, allerspätestens unter der Gemeinschaftsdusche, teuer zu stehen kommen. Denn hier in diesem Drecksloch waren nicht nur die Gefangenen die Gefahr, sondern überwiegend die korrupten und sehr aggressiven Wärter. Sie bezahlten gerne Gefangene, damit diese, Mitgefangene zusammenschlugen – oder Schlimmeres.

Valentin hatte hier drinnen in all den Jahren schon alles miterlebt, er war Opfer aber auch Täter gewesen. Für ein Päckchen Tabak hatte er sich auch schon mal bestechen lassen.

Okay, vielleicht öfters.

Na gut, eigentlich ziemlich oft!

Vor allem wenn Frischfleisch ankam, hatte er in den ersten Reihen gestanden, um sich seinen Spaß mit ihnen zu erlauben. Und das, obwohl er als Neuling selbst alles hatte erleiden müssen. Schlägereien, Messerstechereien mit selbst gebastelten Messerchen aus allerlei Material, das sie hier so fanden. Übergriffe unter der Dusche, nachts mit zwei offenen Augen und mit dem Arsch zur Wand schlafen müssen, um zu vermeiden, weder vergewaltigt noch abgestochen zu werden.

Ach ja, das Gefängnisleben konnte tatsächlich so wunderbar klischeehaft sein, wie es in manch Filmen dargestellt wurde, jedenfalls dann, wenn man in einem solchen Drecksloch festhing wie Valentin.

Er war gewiss kein feiner Herr, der zu Unrecht eingesperrt war, und vielleicht verdiente er das hier. Aber es widerstrebe ihm, wegen etwas zu sitzen, das er nicht getan hatte.

»Ich habe gesagt, du sollst dich ficken, Arschloch«, rief Valentin der Gefängniswache zu, weil dieser Pisser einfach nicht das Maul halten wollte.

Da geschah es, – obwohl Valentin sich sicher gewesen war, dass niemand hier seine Muttersprache verstand – der Wärter zog aus Wut die Waffe und zielte durch die Gitterstäbe auf Valentin.

»Genug! Das genügt!«, ertönte plötzlich eine deutschsprachige Stimme.

Als die dunkle melodiöse Männerstimme erklang, richtete sich Valentin auf die Ellenbogen und begutachtete neugierig den Mann, der sich vor der Zelle aufbaute und der Wache bedeutete, die Waffe zu senken. Übersetzt bat er: »Machen Sie einfach die Zelle auf, er kann gerne liegen bleiben.«

Die Wache überlegte. Erst als er einige Geldscheine zugesteckt bekam, senkte er zögerlich die Waffe und steckte sie wieder ein. Valentin bezweifelte jedoch, dass ihm je Gefahr gedroht hatte. Klar, er wäre nicht der erste Mann, der hier getötet wurde, nicht einmal an diesem Tag, aber die Waffe war so von Rost zerfressen und die Hand des Wärters hatte so gezittert aus Wut, dass er mit dem Ding vermutlich alles getroffen hätte, nur nicht Valentin.

Der fremde Mann, der zu ihm wollte, sprach zwar deutsch, aber er sah mehr wie ein Südländer aus. Spanier, Italiener, etwas in dieser Richtung. Groß, gebräunte Haut, kräftiges dunkles Haar, das er ordentlich zurückgekämmt trug. Sein imposanter Körper steckte in einem maßgeschneiderten Anzug, und trotz der tropischen Hitze schien er nicht zu schwitzen. Seine teuren Schuhe glänzten, trotz des fahlen Lichts. Ein richtiger Lackaffe, stellte Valentin fest. Noch mehr ein Snob als der Typ, der vor Kurzem hier gewesen und mit ihm gesprochen hatte. Vielleicht gehörten die beiden Männer irgendwie zusammen.

Valentin schwang die Beine über die Bettkante, als die Zelle geöffnet wurde und der Mann eintrat. Hinter diesem verriegelte der Wärter wieder die Tür und drehte dem Geschehen den Rücken zu, er wirkte nicht, als wollte er eingreifen, falls Valentin gewalttätig werden wollte.

Aber obwohl Valentin wie eines eingesperrt war, war er kein Raubtier, das sich auf alles stürzt, was ihm vor die Augen kam. Doch in diesem Loch wurden alle über einem Kamm geschert. Wer hier einsaß, war nun mal unterster Abschaum.

Valentin musterte den Mann auffällig abschätzend, dann zog er an seiner Kippe und nahm sie zwischen die Finger um reichlich Rauch auszustoßen. Dabei fragte er: »Was wollen Sie?«

Der Fremde grinste, dabei bildeten sich Grübchen um seinen Mund.

Valentin stockte einen Moment. Nicht unbedingt wegen der Grübchen, sondern viel mehr, weil er plötzlich das Gefühl hatte, den Mann zu kennen. Oder jedenfalls sah er jemanden verdammt ähnlich.

»Sie sind Valentin?«, fragte der Mann rhetorisch mit einem charmanten Lächeln. Er wäre sicher nicht in dieser Zelle, wenn er nicht gezielt nach Valentin gesucht hätte.

Valentin nickte knapp und zog erneut an seiner Kippe. Er ließ den Mann nicht aus den Augen, denn er hatte eine dunkle Vorahnung, wer er war.

»Mein Name ist Enio Martin. Ich komme aus St. Marienstadt«, berichtete er und lächelte dabei noch immer freundlich. Ein Lächeln wie es Geschäftsmänner oder Werbemenschen aufsetzten, wenn sie mit einem potenziellen Kunden sprachen. Oder, wenn sie Gewinn riechen konnten.

Der Ort kam Valentin nicht bekannt vor, der Nachname dafür umso mehr.

Valentin kaute grübelnd auf dem hinteren Stummel seiner Selbstgedrehten. »Martin, hm? Kommt mir bekannt vor.«

Und ob ihm der Name bekannt vorkam!

Enio Martin nickte schmunzelnd. »Ich glaube, Sie kennen meinen Bruder: Alessandro.«

»Kann man wohl sagen.« Valentin zog die Kippe aus dem Mund und warf den Stummel zu Boden. Er sprang leichtfüßig vom Bett und zertrat die Fluppe, ehe er sich an den Bruder des Mannes wandte, der ihn verraten hatte. Er zog neugierig die Augenbrauen hoch. »Und was verschafft mir das Vergnügen?«

»Ich hörte, Sie seien ein Mann für besondere Arbeit.«

»Ich habe meine Qualitäten.«

Enio Martin nickte wieder. »Gut. Ich hätte einen geschäftlichen Vorschlag für Sie. Es sei denn, Sie wollen die Möglichkeit nicht nutzen, aus diesem Dreckloch raus zu kommen.«

Valentin gab sich interessiert, aber nicht zu interessiert. Nach all den Jahren wusste er, dass er Platz für Verhandlungen lassen musste, wenn er mehr rausholen wollte als die üblich eingeplante Summe seines Kunden.

Er lehnte sich mit verschränkten Armen an die Wand zwischen den beiden Betten und nickte mit dem Kinn Enio Martin auffordernd zu. »Ich bin ganz Ohr.«

»Es geht um meinen Bruder«, erklärte Enio Martin. »Ich benötige Ihre Fähigkeiten, um ihn zu finden.«

1

Sie schwitzte. Der Schweiß rann ihr über den ganzen Körper, vom Gesicht über das Dekolleté, Nacken und Rücken. Unaufhaltsam, wie ein Wasserfall.

Dabei konnte eigentlich der Eindruck aufkommen, das es an diesem Augusttag kühl war, denn sobald sie aus dem Fenster ihrer Wohnung, im dritten Stock eines großen und noblen Mietskomplexes hinausblickte, war der Himmel über der Stadt mit dicken, undurchdringbaren dunklen Wolken verhangen. Doch der Schein trog, denn es war geradezu ekelerregend schwül. Drückend. Wie im tiefsten Urwald. Sodass man schon bei der kleinsten Bewegung schwitzte wie ein Bauarbeiter in der brutzelnden Sonne.

Sie öffnete die Balkontür um Luft in den Raum zulassen.

Die Flaggen auf dem spitzen Dach des Rathauses, das sie von ihrem Wohnzimmerbalkon aus erblicken konnte, flackerten heftig in einem stürmischen Wind, von dem sie in ihren vier Wänden nichts mitbekam.

Wobei es sich nicht wirklich um ihre vier Wände handelte. Sie lebte in einer Mietswohnung, allein, und ihr Daddy bezahlte die Miete, weil sie es sich nicht leisten konnte.

Anni war junge zweiundzwanzig Jahre alt, kinderlos, unverheiratet und hatte gerade erst angefangen, im Krankenhaus als Krankenpflegerin zu arbeiten. Mit ihrem niedrigen Gehalt hätte sie sich vielleicht eine Wohnung im Bahnhofsviertel mieten können, aber weder hatte sie die Absicht, bei den dort überwiegend lebenden Prostituierten und Drogendealern zu leben, noch hätte ihr Daddy das zugelassen.

Anni stand mit einer Tasse Kaffee vor dem Balkonfenster, das sie geöffnet hatte. Sie sah auf ihre teure Armbanduhr und las die Zeit von dem weißgoldenen Ziffernblatt ab. Es war ihre Lieblingsuhr, ihre großen Schwester Melissa hatte sie ihr zu ihrem achtzehnten Geburtstag geschenkt. Das Band bestand aus weichem weißen Leder. Genau Annis Stil.

Es war Zeit, zu gehen.

Sie trank die Tasse halb aus und verzog das Gesicht, weil der Kaffee noch zu heiß gewesen war. Anni stellte die Tasse in die Spüle zu ihrem restlichen Frühstücksgeschirr, sie würde sich nach ihrer Schicht im Krankenhaus um den Haushalt kümmern, vielleicht war es dann auch endlich kühler. Der Wetterbericht hatte ja ein Unwetter vorhergesagt, das die Temperaturen endlich wieder etwas senken solle.

Sie schnappte sich ihre Designer Tasche – ebenfalls ein Geschenk von ihrer Schwester – und marschierte aus der Wohnung.

Im grellen Flur, der mit schlichten weißen Wänden und grauen Teppichboden ausgestattet war, wartete sie auf den Fahrstuhl, der vom fünften Stockwerk zu ihr hinunterfuhr.

Kurz überlegte sie, ob sie die Treppe neben sollte. Sie hatte so ein seltsames Gefühl in der Magengrube. Ein Bauchgefühl.

Nimm die Treppe, sagte ihr eine innere Stimme.

Aber wozu? Selbst wenn sie auf den Fahrstuhl wartete, war sie genauso schnell unten.

Sie hatte bereits gestern Abend Magenprobleme gehabt, und schob das Unwohlsein lediglich auf die Tüte Chilichips, die sie gestern vor dem Schlafengehen auf dem Sofa vertilgt hatte.

Fünf ...

Vier ...

Drei.

Der Fahrstuhl war da.

Als die Türen aufgingen, schlug Anni kühle Luft entgegen. Die Klimaanlage. Gott sei es gedankt, für diese tolle Erfindung!

Sie stieg in die Fahrstuhlkabine zu dem Mann, der einen Trenchcoat mit aufgestelltem Kragen und eine schwarze Schirmkappe mit der Aufschrift SAD trug, und zu der älteren Dame mit weißem Haar, altmodischem Hosenrock und Blümchen Bluse, die einen winzigen weißen Hund an der Leine führte.

»Guten Morgen«, sagte Anni freundlich zu beiden.

Der Mann, dessen Gesicht unter der Schirmkappe halb verborgen blieb, hob den Kopf an und strahlte ihr entgegen.

»Einen wunderschönen guten Morgen«, lächelte er ihr zu.

Anni fühlte sich gut, weil er so auf sie reagiert hatte, und lächelte in sich hinein, während die alte Dame sie nur skeptisch von der Seite betrachtete.

Im ersten Stock stieg die Dame aus. Zum Glück, denn ihr Hund ließ in einer Tour Gaswolken ab, deren Gestank Anni die Tränen in die Augen trieb. Jedenfalls hoffte sie, dass es der Hund war. Was auch immer die alte Frau ihm zu fressen gab, es roch reichlich ungesund. Nach Hundenassfutter und Brokkoli. Ekelhaft.

Als Anni mit dem Mann allein war, wagte sie einen Blick über die Schulter.

Er sah sie an, beobachtete sie.

Lächelnd strich sie ihr blondes, seidiges Haar hinter die Ohren. Sie gab viel Geld dafür aus, das ihre Haarfarbe so natürlich aussah, obwohl sie gefärbt waren. Ihm schien es offensichtlich zu gefallen, denn er lächelte zurück.

Als Anni sich wieder umdrehte, biss sie sich auf die Lippen.

Wie lange war es her, dass sie mit einem Mann ausgegangen war?

Viel zu Lange.

Und was sie von ihm sah, war nicht schlecht. Er hatte einen Ziegenbart, der seine eingefallenen Wangen etwas verbarg. Seine Lippen waren dünn, aber er hatte schöne Augen. Etwas an ihm hatte diese gewisse, düstere Aura, die auf guten, harten Sex schließen ließ. Er war groß, kein Muskelprotz, aber trotzdem mit ausgeprägten Muskeln ausgestattet. Anni konnte sich durchaus vorstellen, eine Nacht mit ihm zu verbringen. Sie war ja nicht so der Beziehungstyp. Sie ließ sich von fast jedem abschleppen, das tat sie gerne. Anni hatte gerne viele Liebhaber. Das bedeutete, mehr Aufmerksamkeit. Sie liebte es einfach, begehrt zu sein. Am liebsten von so vielen Männern wie nur irgendwie möglich.

Und dieser Fremde hatte Potenzial, der nächste Glückspilz zu sein, der in ihren Genuss kommen durfte.

Sollte sie ihn nach einem Date fragen? Oder sollte sie ihm einfach ihre Nummer geben und ihm ganz direkt sagen, dass er gerne anrufen konnte, wenn er auf eine unverbindliche Nummer mit ihr aus war?

Erdgeschoss ...

Keller ...

Tiefgarage.

Ping. Sie waren angekommen.

Als die Türen aufgingen, wollte Anni sich gerade mit einem Wimpernaufschlag und einem zuckersüßen Lächeln zu ihm umdrehen, als sie plötzlich grob gepackt wurde.

Erschrocken zog sie die Luft ein, doch er legte seine große Hand über ihren Mund.

 

»Schnauze«, zischte er ihr ins Ohr, sein heißer Atem verwehte dabei ihr blondes Haar.

Anni riss die Augen auf. Oh Gott. Wollte er sie ausrauben? Hoffentlich nahm er nicht ihre Uhr ... Sie versuchte, in die Kamera zu blicken, vielleicht würde sie ja jemand sehen und ihr zu Hilfe eilen.

Anni versteinerte, als die Spitze einer langen Messerklinge in ihre Kehle stach, sie spürte, wie sie die Haut aufriss und Blut hervorquoll.

»Drück. Den. Knopf«, flüsterte er ihr drohend ins Ohr und betonte jedes einzelne Wort, als sei sie schwer von Begriff.

Als sie sich nicht rührte, gab er ihr einen kräftigen Stoß, sodass sich die Spitze der langen Messerklinge noch tiefer in ihren Hals bohrte.

Okay, beruhige dich, sagte sie zu sich selbst. Tu einfach, was er verlangt!

Sie streckte eine zitternde Hand aus und drückte einfach den Knopf, der die Türen wieder schließen ließ, weil sie gar nicht wusste, welchen der vielen Knöpfe er gemeint hatte.

Anni hatte wohl richtiggelegen, denn er atmete hinter ihr gelassen aus.

»Gut, und jetzt hör mir genau zu«, sagte er so leise, das sie ihn über das Rauschen ihres erhöhten Pulses kaum verstehen konnte. »Wir werden jetzt die Kabine verlassen und zu meinem Wagen rübergehen. Du wirst nicht schreien, die wirst nicht versuchen, wegzulaufen. Und wenn doch ...« Er sagte den Satz nicht zu Ende, stattdessen drückte er die Spitze des Messers noch tiefer in die kleine Wunde. Blut floss über Annis Halssehnen hinab und tropfte auf ihr weißes T-Shirt.

»Hast du das verstanden, Süße?«

Sie nickte angestrengt, hob eine Hand und tippte ihm bittend auf die Finger. Vielleicht konnte sie verhandeln.

Anni spürte sein Zögern, aber schließlich lockerte er doch seine Hand und gab ihren Mund frei.

Luft holend sprach sie sofort nervös auf ihn ein: »Sie können meine Handtasche haben, da ist ein bisschen Bargeld drinnen, die Tasche selbst ist viel wert. Nehmen sie auch den Autoschlüssen. Es ist die große silberne Limousine auf Parkplatz 3D. Sie können meine Kreditkarte haben, was immer Sie wollen ... Mein Daddy hat viel Geld, sicher können wir uns einigen, wenn wir ihn anrufen.«

»Halt den Mund.« Er legte wieder seine Hand über ihre Lippen und schüttelte frustriert über sie den Kopf. »Ich will deine Scheißsachen nicht.«

Was wollte er denn dann? Wenn es ihm um Lösegeld ging, konnte er es doch auch gleich hier und jetzt von Annis Vater verlangen. Warum sollte sie dazu zu seinem Wagen gehen?

»Jetzt drück den Scheißknopf und geh unauffällig raus«, sagte er in einem Tonfall, der deutlich machte, das mit ihm nicht zu spaßen war.

Anni zitterte heftig, als sie erneut den Knopf betätigte.

Der Fahrstuhl öffnete sich und sie blickte direkt in die menschenseelenleere Tiefgarage. Nur wenige Autos standen auf den Parkplätzen, die meisten Bewohner waren schon zu ihren Arbeitsplätzen gefahren. Anwälte, Werbefuzzis, Autohändler und so weiter.

»Kein Mucks«, warnte er sie noch. »Sonst schneid ich dir die Zunge raus, kapiert?«

Er ließ sie los und sie ging langsam aus dem Fahrstuhl, weil er dicht hinter ihr war und ihr das Messer in den Rücken drückte.

»Ich schwöre es, ich steche dich ab«, zischte er, während er sie geradewegs auf einen schwarzen Sportwagen zu bugsierte, als könnte er ihre Gedanken hören, die sich überschlugen und überschlugen.

Was sollte sie jetzt tun? Keiner hatte ihr je gesagt, was sie in einem solchen Fall tun sollte.

Annis Augen huschten umher. Wo waren die Kameras? Umging er sie etwa? Wusste er bereits, wo sie hingen? Vielleicht hatte er deshalb die Mütze auf und den Kragen hochgestellt.

Auch er sah sich nervös um.

War denn niemand hier, der ihr helfen konnte?

Und dann hörte sie ein Geräusch, wie eine zuschlagende Autotür. Musik in ihren verzweifelten Ohren.

Anni riss den Ellenbogen nach hinten und hatte Glück, das der Stoß direkt in die Rippen des Fremden traf. Er grunzte und kam ins Wanken. Anni nutzte ihre Chance und rannte ihm davon.

»Scheiße«, hörte sie ihn fluchen und seine dunkle Stimme war so von Zorn verzerrt, das sie sich nur wünschen konnte, dass er sie nicht wieder in die Finger bekam.

»Hilfe«, schrie sie. »Bitte, helfen Sie mir!«

Sie rannte in die Richtung, von der sie glaubte, die zuschlagende Tür gehört zu haben. Zum Glück war sie auf dem Weg zur Arbeit gewesen und trug einfache Sneakers statt ihrer üblichen Fick-mich-Pumps.

Anni hörte hinter sich die schnell herannahenden Schritte ihres Verfolgers.

Sie wagte einen Blick über die Schulter und sah ihn mit überaus finsterer Miene schnell zu ihr aufschließen.

Anni rannte schneller, oder versuchte es jedenfalls. Ihre Beine brannten so sehr, sie wünschte sich in diesem Moment, dass sie mehr ihre Schenkelmuskulatur trainiert hätte, statt nur Bauch, Brust und Po, um heiß und knackig auszusehen. Aber jeder noch so wohlgeformte Muskel brachte ihr nichts, wenn die Ausdauer fehlte. Ihre Lunge protestierte bei jedem Einatmen, als habe sie Jahrzehntelang mehrere Schachtel Zigaretten am Tag geraucht, dabei war der Sprint bis zur Ausfahrt nur kurz ...

»Nein!«, rief Anni fassungslos, als sie einen Wagen gerade aus der Tiefgarage fahren sah.

Die Schranke ging zu, und der blaue Kombi bog ab.

Trotzdem rannte Anni weiter, winkte rufend mit den Armen. »Hey! Kommen Sie zurück! Bitte kommen Sie zurück!«

Der Fahrer hörte sie nicht, er fuhr davon.

»Hab ich dich!«

Er rannte sie einfach um und warf sie zu Boden.

Anni schlug mit dem Kopf auf, sie spürte warme Flüssigkeit ihren Nacken hinabfließen, ihr wurde schwummrig, trotzdem kämpfte sie gegen den Fremden an.

Er schlug ihre Hände fort, doch sie holte aus und zog ihre Fingernägel quer über sein Gesicht. Sie hinterließ nur leichte Spuren.

»Fotze!«, stieß er aus und schlug ihr einfach ins Gesicht.

Er schlug sie! Anni atmete fassungslos aus. Wegen des Adrenalins – oder besser gesagt, dank des Adrenalins – spürte sie den Hieb kaum. Es war eher so, dass es sie zutiefst schockierte, geschlagen worden zu sein.

»Steh auf!«, brüllte er sie an. Er zog sie grob auf die Beine.

Anni war speiübel, sie fürchtete, eine Gehirnerschütterung erlitten zu haben.

»Warte nur ab, du Miststück!« Er packte ihren wankenden Körper und zerrte sie durch die Tiefgarage wieder zurück zu seinem Wagen. »Das wirst du bereuen, das verspreche ich dir.«

Anni wollte sich ja wehren, aber immer wieder verschwamm ihre Sicht. Sie behielt nur mit Mühe das Bewusstsein.

Er öffnete den Kofferraum, als sie an seinem Wagen ankamen.

»Steig rein da.«

Anni verstand die Worte im ersten Moment nicht, sie blinzelte ihn verwirrt an.

»Los!«, brüllte er ihr ins Gesicht. »Rein da!«

»Aber ... Nein! Nein!« Er wollte sie hinein schubsen, aber Anni fing sich am Rand ab und stemmte sich dagegen. »Bitte nicht.«

»Du hast es ja nicht anders gewollt, Anni.«

Anni versteinerte. Woher kannte er ihren Namen? Woher wusste er, wer sie war?

Sie schluckte. »Wer sind Sie?«

»Sagen wir einfach, Daddy legte sich mit den falschen Leuten an«, hauchte er ihr zu.

»Was wollen Sie?« Anni hoffte erneut auf Verhandlungen. »Geld? Er wird Ihnen Geld geben. Alles, was Sie wollen. Nur ... tun Sie mir bitte nichts.«

Letzteres weinte sie verzweifelt. Das sie mal so eine flehende Bitte ausstoßen würde, hätte sie niemals für möglich gehalten. Warum, um Gotteswillen, musste das ausgerechnet ihr geschehen?

Er beugte sich über sie und legte den Mund an ihr Ohr. »Weißt du, was ich will, Anni?«

Sie schüttelte weinend den Kopf.

Statt zu antworten, legte er erneut einen Arm um sie. Sein Finger fand ihren Mund, strich über die Lippen und drang dann gewaltsam in ihn ein.

Anni war versucht, ihn zu beißen, doch der Schock dieser Geste ließ sie nur reglos wimmern.

Sein Finger schmeckte salzig und metallisch, als klebte Blut daran, während er in eindeutiger Geste in ihren Mund fuhr, und wieder hinaus. Er lachte leise in sich hinein, als sie ein Würgen nicht unterdrücken konnte.

Dann packte er plötzlich in ihr Haar und riss ihren Kopf hoch, wieder hatte er das Messer gezogen und wieder drückte er die Spitze in ihre Kehle.

»Ich habe deine Schwester«, haucht er ihr ins Ohr, als wollte er sie mit diesen Worten verführen. »Sei lieber brav, oder ich töte euch beide.« Es war ein Versprechen aus seinem Mund, ein grausames Versprechen, gesprochen mit der honigsüßen Stimme eines Wahnsinnigen.

»Bitte«, weinte Anni, »tun Sie uns nichts, mein Vater wird Ihnen alles geben, was sie wollen, nur tun Sie uns nichts! Ahhh...«

Sein Griff wurde fester und er zog ihren Kopf mehr in den Nacken, sodass Anni auf Zehenspitzen tänzelte und nicht einmal wagte, zu schlucken, weil das Messer sonst in ihre Kehle geritzt hätte.

»Weißt du, was ich mit dir machen werde, Anni?«, fragte er sie flüsternd und mit verheißungsvoller Stimme. »Ich werde dich aufschlitzen«, erklärte er leise, als würde er ihr sagen, dass er sie zum Shoppingtag ins Einkaufzentrum einladen würden. Völlig emotionslos. Vollkommen kalt. »Ich werde dich aufschlitzen, von der Kehle bis zum Bauchnabel, und in deinem Blut baden.«