Die Poesie des Biers

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Neulich am Tresen

Sagt der eine zum andern: »Mensch, ich glaub’, ich trink’ noch eins!«

Sagt der andere: »Mensch, dann mach das doch!«

Die einzig wahre Flaschenpost

»Beim Bockbier schmeckt alles nach Blues«, brummte der 1987 auf der A 94 bei München besoffen verunglückte Frankfurter Dichter Jörg Fauser ein wenig benommen und melancholisch. Ob er den schweren, dunklen, gallig-schnapsigen Weihnachtsdoppelbock meinte oder den leichteren, honiggelben Maibock, den Kleinbrauereien während der Biergartensaison unter schattenspendenden Bäumen frisch vom Faß servieren, ist nicht zu klären. Allein, wenn Fauser auch oft zurückgezogen, jenseits der Tresen und Trinkhallen trank – »ich warte darauf daß es klingelt / und jemand mit mehr Bier / und anderen Gedanken kommt« –, so trank er doch mit einer solchen Beharrlichkeit, wie sie sich heutzutage PR-Manager und Geschäftsführer der großen Brauhäuser als verbreitete Gewohnheit wünschen würden.

Denn der Trend zum Biertrinken ist seit Jahren ein konstant negativer, ein Trend zur Abkehr vom beseelend feinen Hopfengebräu, hin zu aufputschenden, aggressiven respektive vorgeblich sportiven Mixturen und Cocktailpanschereien. Die Absatzquote, meldete der Deutsche Brauer-Bund, fiel jüngst unter die magische Grenze von hundert Millionen Hektolitern. Daran ändert selbst das engagierte Bechern auf dem jährlichen Münchner Oktoberfest nichts. Nahezu sieben Millionen Einheimische und assoziierte australische und sonstige globale Touristen verputzten im Jahr 2000 neben knapp 700.000 Brathendln, über 60.000 Schweinshaxen, 235.000 Paar Schweinswürstln und 94 Ochsen immerhin noch fast 65.000 Hektoliter Wiesn-Festbier – und das bei einem astronomischen Maßpreis von zwölf bis dreizehn Mark. Sie tun, was sie können. Sie »litern obi«, wie’s nur reingeht und wie’s ihnen Gerhard Polts Meistertrinker Adi in der genialen Wiesn-Bühnennummer »Attacke auf Geistesmensch« vorexerziert. Bloß – es nützt nichts. Deutschland kehrt dem Bier den Rücken.

Alarmiert ob des besorgniserregenden Zustandes im Land des Dichtens, des Bieres und des Denkens, greift der Brauer-Bund zu absonderlich gedankenlosen Werbemaßnahmen. Da werden allenthalben sogenannte Biererlebnisse beschworen und zwei offizielle »Bierbotschafter« berufen – Harald Schmidts mehr scherzhaft als rechtschaffen bierverkostender Co-Moderator Manuel Andrack und Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt; letzterer wohl, weil der Einbecker Brauknecht Till Eulenspiegel einst an Stelle des Hopfens des Braumeisters Hund – mit Namen Hopf – der Würze appliziert haben soll.

Innerhalb der vergangenen fünf Jahre sank der Jahresprokopfverbrauch um zehn auf zirka hundertzwanzig Liter. Steuert man jetzt nicht dagegen, dürfte es in sechzig Jahren in Deutschland kein Bier und keine Biertrinker mehr geben. Intelligente Öffentlichkeitsprogramme sind gefragt, eine sofortige Rückbesinnung auf das Bier und seine Verherrlicher tut not, auf die Jünger des Gambrinus, auf die ehrenwerten Bierpoeten und -denker. Und die hat es wahrlich reichlich, zumal im deutschsprachigen Raum, solche, die das Bier in Romanen, Theaterstücken und Gedichten priesen oder gewichtigste Rollen übernehmen ließen, und jene, die es eher empirisch in sich hineinschütteten – zwecks Anfeuerung oder Entspannung oder beider Lebensverschönerungen halber, getreu dem Motto Robert Walsers: »Ein Helles, bitte!«, und zwar dalli.

Thomas Bernhard vermochte noch das Selbstverständlichste zu definieren: »›Ein Bier, bitte‹ heißt, die Welt will ein Bier. Sie trinkt es und wird mit der Zeit wieder durstig.« Bereits Jörg Fauser jedoch konnte das gegenwärtige Übel mit Worten greifen: »Wenn ich sehe, wie dann statt der Halben der Piccolo rausgetan wird […], dann wird mir klar, warum deutsche Büromenschen so zerrüttet sind […]. Dabei wäre, wie so oft im Leben, das Desaster zu vermeiden gewesen, wären wir nur beim Naheliegenden geblieben, beim Bier.«

Fern lag das Naheliegende nicht nur der protestantischen Antibierpropaganda von Luther, der den »Saufteuff« zu exorzieren trachtete, bis zu Kant, der »Trunkenheit« schlicht als »einen widernatürlichen Zustand« schalt. Bier verdammte, in völliger Mißachtung dessen, was Friedrich Schillers Freund J. W. Petersen die »deutsche National-Neigung zum Trunke«, und das heißt zum Bierumtrunke, nannte, der Weimarer Großgrantler Goethe, der eminent ahnungslos dekretierte: »Das Bier macht das Blut dick.« Und in Ekelkoalition mit dem Tabakdampfen malte er den geistesgeschichtlichen Teufel an die Wand, weil er halt selber täglich flaschenweise Wein verdrückte und deshalb wohl glaubte, besser zu dichten als die Bierhumpen: »Wenn es so fortgehen sollte, wie es den Anschein hat, so wird man nach zwei oder drei Menschenaltern schon sehen, was diese Bierbäuche und Schmauchlümmel aus Deutschland gemacht haben. An der Geistlosigkeit, Verkrüppelung und Armseligkeit unserer Literatur wird man es zuerst merken.«

Daß es, europaweit betrachtet, so nicht kam, verdanken wir trotz gewisser Reputationen nicht dem Goethe-Verehrer Alessandro Manzoni, der die Frechheit besaß, in seinem Jahrtausendroman Die Brautleute die Zunft der Kneipiers zu desavouieren (»›Verdammte Wirte!‹ fluchte Renzo im stillen. ›Je mehr Exemplare ich von ihnen kennenlerne, desto schlimmer finde ich sie!‹«); genausowenig konnte sich Goethe-Preisträger Thomas Mann Verdienste ums Bier erwerben. In der ihm eigenen Torheit gab er zum besten: »Im allgemeinen halte ich nicht das geringste von der ›Inspiration‹ durch Alkohol«, und der Sturzlangweiler fügte an: »Ich Geringer trinke täglich zum Abendbrot ein Glas helles Bier und reagiere auf diese anderthalb Quart so stark, daß sie regelmäßig meine Verfassung durchaus verändern.«

Durchaus seine Verfassung veränderte Thomas Manns Hausphilosoph Nietzsche. Zu Studentenzeiten ein Fan der »Biergemüthlichkeit«, suhlte er sich später, so Eckhard Henscheid, in einer »nimmerstill-pathetischen Ablehnung des Biers – als des Symbols von Biedersinn und Philisterei«. Henscheids episches Personal hingegen neigt, uns zur Freude, recht ausgiebig größeren Mengen Bier zu – etwa der herzergreifend abgewrackte, desillusionierte Kommunist aus der wie ein goldgelbes Helles wunderbar und wundersam in sich ruhenden Novelle Maria Schnee: »Sie alle seien heute gebrannte Kinder der Revolution, flüsterte der Dicke leis und mit viel Wehmut. Er sei heute praktisch trocken. Er trinke nur noch sieben oder acht Bier am Tag, sieben, acht frische Weizen. Gar nicht der Rede, gar nicht der Erwähnung wert.«

Uns allen, den Wirtshausweizenwuchtern, den Biergartenhockern und den Pilspassionierten, sollte die innige und humane Beziehung zwischen gutem Bier und guter Literatur eine Erwähnung wert und Mahnung genug sein, den fünfzackigen Stern des Bierbrauers nicht sinken zu lassen auf den Boden von Wein-, Whisky- und Wacholderbeersaftgläsern. E. T. A. Hoffmann drehte u. a. durch Bamberger Bierspezialitäten sein »inneres Fantasie-Rad an« und »trank, um sich zu montieren«. Georg Christoph Lichtenberg vergötterte englisches Bier (»diese Bouteillen aus England [sind] so etwas wie eine poetische Flaschenpost«), der Nachfahre Kurt Tucholsky verleibte seinem Sudelbuch die besinnliche und sauschöne Sentenz ein: »bier beglänzt«, und Jean Paul, der knuddelige Krösus der Biervernichtung, widmete sich in aufreibendsten Briefwechseln pausenlos dem einen, dem Edlen, dem süffigen Solidargetränk, dem sensationell schmackhaften Durstlöscher und Rauscherzeuger: »Bier, Bier, Bier, wie es auch komme!«

Es kam zu selten, und Jean Paul zürnte, da ihm seine Hauswirtin Kienhold englische Bräus kredenzte. Er mahnte Besserung an, »weil der Transport vom Faß in mich schneller geht« als jener des Fasses zu ihm, und schrieb manisch: »Vom Wichtigsten zuerst! Ihr Bier ist schon seit so lange ausgetrunken, daß ich wieder mit ihm zugleich (durch das englische) den Appetit verloren habe. Leere Fässer kommen – ungleich Menschen – schwerer fort als volle; kein Fuhrmann belastet sich mit jenen.« »Fuhrmann Zapf«, o welch Name!, nahm sich des geplagten Bayreuthers (»Bayreuth trotz Bier und Gegend unaushaltbar«) an, und der Dank kannte kein Ende – gleich dem Durst.

Glücklicher noch, wer etliche Jahre später auf dem englischen Eiland einen echten Kumpel an seiner Seite wußte, einen zuverlässigen, solventen Alkoholkompagnon. Marx und Engels, »diese beiden Superchampions der Polemik« (G. Tomasi di Lampedusa) und Superkenner der geistigen Getränke, verband eine dioskurischdionysische Freundschaft. Während der »privilegierte Zecher« Engels, den Marxens Schwiegersohn Paul Lafargue »den unergründlichen Verschlinger von Ale« taufte, auf Reisen Bier testete, haute Marx den zugesandten Wein um und berichtete Engels aber auch: »Außer dem Wein hatte ich täglich (bis zur Stunde) 1½ Quart vom stärksten Londoner Stout zu saufen. Es schien mir ein gutes Thema für eine Novelle.«

Erst Ernest Hemingway dröselte den Faden vom anderen Ende her auf: »Nun tranken die Burschen in meiner Story, und das machte mich durstig«, was H. L. Mencken, der erste amerikanische Nietzsche-Biograph und gefürchtete Kritiker, mit einer Eloge auf das »unique, incomparable, transcendental Bavarian Beer« konterte. In das grausame 20. Jahrhundert, längst jenseits der von Engels verlachten »unerschöpflichen Streit- und Parteifrage über die respectiven Vorzüge des alten Pilsener, des bürgerlichen und des Aktienbieres«, pflanzte Robert Walser ein bezauberndes Idyll, ein Stilleben, das sich der »Seelenruhe« und Geselligkeit verdankte, die das Bier stiftet: »Die Bierburschen haben momentan ein wenig Ruhe, aber nicht lange, denn es wälzt sich wieder von draußen herein und wirft sich durstig an die Quelle. […] Würde und Selbstbewußtsein wirken behaglich, auf mich wenigstens, und deshalb stehe ich so gern in irgendeinem von unseren Aschingerhäusern.«

 

Durchs Bier genas manch Denker, manch Dichter, am Bier labte sich noch auf dem Todeslager sehnsuchtsvoll Franz Kafka, und beim Sterben ließ er sich eins vortrinken. Beruhigt, hienieden erlöst: »Ich bin ja zum Biertrinken da«, formuliert Herbert Achternbusch die modernste aller Existenzphilosophien und Religionen, und Gottfried Benns funkelndste Verse huldigen weihevoll IHM, dem Bier. Aber: »Was schlimm ist: bei Hitze ein Bier sehen, das man nicht bezahlen kann.«

Was das Schlimmste wäre: bei Hitze das Kleingeld zusammenkramen und ein Bier vor dem inneren Auge sehen, das man nicht kaufen kann. Daher sei, bevor das Undenkbare, das Ende des Biers, eintritt, dem Deutschen Brauer-Bund die Frage gestellt: Was spräche gegen ein den Absatz ankurbelndes, bundesweit gehängtes Plakat mit jenem berühmten Photo, das Bertolt Brecht und Oskar Maria Graf beim beduselt-beherzten Krugstemmen am Kneipentisch zeigt – ergänzt um die Zeile: »Zwei deutsche Dichter – wer ist deutlich dichter?«

Nicht die Kaffeebohne spräche dagegen.

Ein Flecken

Nicht allzuweit nordwestlich von der global geachteten Brau- und Damenhochburg Bamberg, aber doch bereits recht abgeschieden, gebettet zwischen weich geschwungene Wiesenbuckel und säumende Waldstreifen, liegt am Rande der östlichen Haßberge ein ganz und gar einfältiger fränkischer Weiler. Nie käme einem Menschen, einem durchschnittlich welterfahrenen Menschen, in den Sinn, dieser kaum zweihundert Einwohner zählenden Ortschaft, diesem geduckten, aus einigen Höfen, einer kauernden Kirche und zwei Wirtschaften bestehenden Dorf eine Bedeutung beizumessen, irgendeine Bedeutung, wär’s eine für die Region, wär’s eine gar fürs Land oder für die Republik.

Bamberg, des Örtchens hinreichend entfernter großer und beschützender, alle neugiergeilen Fremden anziehender, ja fliegenpapiergleich anlockender Nachbar, tut sich verständlicherweise eher dicke mit den unterschiedlichsten Attraktionen und Traditionen, und deshalb mag unseren Ort oder dessen Bewohner auch bisweilen der Gram übermannen, daß es mit ihm und mit ihnen nicht recht voranmarschieren möcht’ in der Welt der Aufmerksamkeit und Sensationen.

In Bambergs berühmter Gaststube der Brauerei Fäßla, die selbstbewußt ihr vorzügliches Produkt bewirbt: »Fäßla Bier – bekannt, beliebt, bekömmlich«, in dieser schon um die Mittagszeit dramatisch gefüllten ehrwürdigen Lokalität imponieren »für vier« oder »für sechs« – also für »vier Bier« oder durchaus mehr, wie das einheimische Idiom preisgibt – künftige Bräute und edle Weibsbilder den gepiercten Stammtischlern. Sie offerieren Haxn-Bringdienste und servieren den mehrheitlich erbarmungswürdig verquollenen Männern Klopsteller mit Pfiff. Ein Bohei von erheblichen Ausmaßen ist Standard.

Schmachvoll verkümmert derweil schmählich schlummernd unser bescheidener Flecken unter den schwachen Sonnenstrahlen des neckenden Frühlings. Eine Kuh muht, ein Gockel kräht, ein Traktor brummt, das Gewöhnlichste geht hier vonstatten, ob es will oder nicht.

Drei Wandersleut’, ein Museumsdirektor, ein Bürgermeister eines multifunktionalen Mittelzentrums und ein Taugenichts, machten sich dennoch auf den Weg. In Baunach verließen sie, von Bamberg kommend, die Bimmelbahn, und bald öffnete sich ihren Blicken ein schönes, schlichtes Tal. Ein Fluß begleitete sie, und gegen Abend erreichten sie unsren Ort, der als ein Hort des Zauberhaften sich entpuppen sollte.

Appendorf durchzieht eine gefegte, kerzengerade Straße. Der Bürgermeister erspähte als erster an ihrem Ende die Brauerei Fößel-Batz. »Grüß Gott!« empfing der Wirt, ein sportlicher Mittvierziger, das Trio, »hereinspaziert!« ergänzte Yvonne, seine Frau.

Nun »in der Dorfschenke angelangt, wo sie völlig frei in perfekter Einsamkeit Platz finden konnten«, so erzählt es Alessandro Manzoni in seinem Roman Die Brautleute, »ließen sie sich das wenige bringen, was es gab«, etwas Sauerkraut, Bratwurst, graues Brot und ein brezelzart knisterndes Kellerbier, im Familienbetrieb gebraut wie eh und je.

So in sich versunken, waren sie es zufrieden, und der Bürgermeister begann gerade, einen Wurstzipfel zerfleischend, seine »kneipenorientierte Stärken-/ Schwächenanalyse« zu unterbreiten, als der Museumsdirektor gedämpft die Stimme hob: »Schaut mal, das gibt’s doch nicht! Was ist denn da los?«

Wie auf ein geheimes Zeichen traten aus verschiedenen Türen unpassend akkurat gekleidete Männer. Einer trug unter jedem Arm eine Trommel, ein anderer zwei Becken, ein dritter schleppte einen Kofferverstärker und eine feuerrote Gitarre herein. Sie bauten, ohne ein Wort zu wechseln, ihre Gerätschaften im ein wenig tiefer gelegenen Gesellschaftsraum auf, und währenddessen schritten weitere Männer in Westen durch die Eingangstür.

Den Schluß der Prozession bildete ein bäriger, graumelierter, geruhsamer Mann, der sich und seinen Kontrabaß in der Mitte der Tanzfläche postierte und sogleich vorsichtig einige Töne zupfte. An der hinteren, kunststoffverschalten hellbraunen Wand kauerte jetzt der weißbärtige Herr in fichtengrüner Kombi auf einem Stuhl und strich Akkorde, und der Schlagzeuger ditschte mal das Becken an, mal auf die Snare.

Der Bürgermeister schwieg, der Taugenichts schaute benommen, und der Museumsdirektor rieb sich die Augen. Plötzlich zog einer der drei, oder waren es vier, fünf?, Harmonikaspieler sein Schifferklavier auseinander, quetschte es zusammen, ein breiter, fetter Auftaktakkord erklang, und auf der Eins setzte diese aus dem Nichts erschaffene und vom Himmel gesandte Combo ein und erfüllte den Raum mit einem seelenheiteren Getön nur für unsere drei Wanderer.

Da hockten sie, tranken das dunkle Zwickelbier und lauschten betört. Vor ihnen bewegten sich, von unsichtbarer Hand choreographiert, acht, zehn Musikanten, geschmückt mit Zweireihern, manchmal einer bunten Kreppkappe oder Hosenträgern, und drehten Kreise um ihre Weisen, beglückt vom schieren Hier- und Beisammensein. Ihr Publikum, der Taugenichts, der Museumsdirektor und der Bürgermeister, applaudierte erst zaghaft, dann immer impulsiver nach jedem Lied, der Wirt bezapfte entspannt die alten Glaskrüge, Yvonne reichte sie mal diesem, mal jenem Spielmann, und sonst geschah einfach nichts – außer dem beständigen, gutmütigen, bedächtig rhythmisierten, betulich dynamisierten Ineinanderfließen des Bieres und der Musik.

Erst eine, vielleicht zwei Stunden später betraten andere Menschen den Brauereiausschank Fößel-Batz, Ortsansässige und Bekannte aus den umliegenden Dörfern, und längst hatte da den drei Wanderern der Geiger, der einzige Violinist des Appendorfer New Modern Dance & Swing Ensembles, erklärt, daß sich jeden Freitag hier, auf unserem begünstigten Flecken Erde, die Musikanten träfen, in zufälliger Formation, und aufspielten, daß es rassele, ja, er trinke heute Wasser, er müsse den Laden zusammenhalten, die Quetschkommodisten neigten zu vorgerückter Stunde zu recht freien Improvisationen, da sei einer vonnöten, der die Leitmelodie noch im Kopf habe, obschon sie ihn meist ja doch übertrumpften und niederschrubbten, er lachte verschmitzt, machte eine wegwerfende Geste und wandte sich, das Instrument unters Kinn schiebend, kurz dem Tresen zu, ja, daß es halt eine Freude sei und sie den Leuten hier eine Freude bereiteten, sagte der alte, sorgenfreie Mann mit seiner glänzenden Geige zu den drei Gästen, er hob den Bogen, und als er das sagte und eine Gitarrensoloeinlage herüberpritzelte, pflanzten sich ein krebsroter, grinsender, wohlbeleibter Mann im feinsten Tuch und dessen Frau, eine sorgsam herausgeputzte Dame, an den Tisch. An den Tisch, an den dürfe man sich doch hersetzen, fragte der Mann, ein Kerl, der sich rasch als tanzwütige Granate und fideler Gemütskracher erwies, der zunächst mal eine Haxn einfuhr und dann seine heilig-froh als »schönste Frau der Welt« belobigte Gattin zwischen die immer fetziger herumfegenden Musiker schob und über den Tanzboden schleuderte, wo die beiden ein »La Paloma« hinschwoften, daß dem lieben Gott die Sinne geschwunden wären, während am Nebentisch Kotelettenpaul und dessen Anhang lächelten.

Lebensprall tobte das Appendorfer Stüberl Stunde um Stunde doller und draller, die fesch frisierten Hasardeure des Liedguts ließen Strophen und Refrains, Harmonien und Hooklines stilvoll durcheinanderrauschen und -randalieren, als sei es ihnen gegeben, die Musik neu zu erfinden, und mitten in dieser klingenden Welt der Freude für und für erklommen die »Bergvagabunden« den Gipfel der Begeisterung, die nichts sucht außerhalb ihrer selbst. Im Getöse und Gestampfe, im Gesange und Geschwanke stießen sie aufeinander, die Menschen, und priesen, zur Ehr’ ihrer selbst und der Geselligkeit, die roten Rosen, die roten Lippen, den roten Wein, und da unser Museumsdirektor ein zweites Mal des Dorfhallodris bewunderte, im Gesicht greulich vernarbte Spitzenfrau um die Hüften wirbelte, fand auch der Bürgermeister einen Gefallen gehörig daran, bloß noch den Damen zu gefallen.

Was immer im Dämmer des Bewußtseins versank – am folgenden Morgen beteuerte der Bürgermeister, er habe »nicht nur« seine »ausgeprägten logischen Denkstrukturen beieinander«, nein, er werde obendrein dem von ihm regierten und dirigierten Mittelzentrum einen Innovationskreis verordnen, der durch eine ausgetüftelte Stärken-/Schwächenanalyse die Grundlagen der künftigen Stadtpolitik dahingehend neu bestimme, daß im Hinblick auf konkrete Zielvorgaben das Handlungsfeld der Kneipenpolitik in einem permanenten Innovationsprozeß moderierend, koordinierend und kontrollierend dergestalt neu und innovativ gestaltet werde, daß – gemäß dem Motto »Hinschauen und lernen« – »endlich so ein Laden herkommt«.

Der Taugenichts und der Museumsdirektor nickten, recht grundlegend einverstanden.

Arbeiterfrühling

Im Osten wird es später warm. Wien friert Ende März noch immer. »Su koit woas nu nia«, klagt eine ältere Dame am Stephansplatz. In der geheizten Stube der U-Bahnlinie 4 zählen andere Dinge und Werte. Eine Mittzwanzigerin, die von einem politischen Treffen nach Hause fährt, gibt ihrem Begleiter fast dialektfrei und in voller dialektischer Fahrt zu bedenken: »Weißt du, was mir auf die Nerven geht? Dieser undifferenzierte Antimaterialismus!«

Nimmt man die U 1 Richtung Kagran, erreicht man Teile jener monomorphen Peripherien großer Städte, in denen die Straßen selten gekehrt, die Häuser nicht mehr verputzt und die Menschen nicht mehr der Mode teilhaftig werden. Dort herrscht der Funktionalismus des Lebens, und wenn man auch nostalgisch an eine Epoche denkt, in der das Rote Wien mehr versprach als nur noch mehr höhere, bürgerliche, als nur noch feinere und darob nicht sinnvollere Kultur, die stets eine Herrschaftsvernebelungskultur war, so sieht man sich doch enttäuscht, allerdings voraussehbar enttäuscht.

Die Enttäuschung ist der Anfang aller Aufklärung, und so darf man die Sentimentalität fahrenlassen und an einer der silbern verkleideten U-Bahnstationen aus den achtziger Jahren, am Haltepunkt Alte Donau, den Zug verlassen. Verlassen vom Guten, Wahren und Schönen, führt einen die Arbeiterstrandbadstraße zum aus Gründen des Hochwasserschutzes abgetrennten Arm der grün und smaragdblau funkelnden Donau. Rund um das stehende Gewässer stehen ein paar Ausflugslokale für karg Begüterte (Schnitzel um sechs Euro). Grüne Tretbote ruhen am Gestade, der seeähnliche Fluß öffnet sich weit und schmiegt sich lässig um baumverzierte Halbkleininseln.

Unterhalb der Arbeiterstrandbadstraße hat ein kleines Lokal, eher eine Art Imbiß, schon geöffnet. Das Buffet Alte Donau wird von der Familie Schneider betrieben. An den Außenwänden des Verschlags sind Holzschilder angebracht, die zur »Selbstbedienung« auffordern.

Die ersten Tische, Bänke und Stühle sind rausgebracht worden. Vor dem Eingang sitzt Frau Schneider mit den blauen Fingernägeln und raucht Memphis-Zigaretten, die blauen. Herr Schneider in der Jogginghose sitzt neben ihr und raucht Marlboro. Der Sohn setzt sich dazu, raucht nicht und liest das Fachblatt Fisch & Fang. Nebenan gruppieren sich um einen Holzstehtisch drei Frührentner, nippen an ihren Achtele und reden Vollgültiges.

Meisen zirpen, ein Star pfeift, Mäusebussarde gellen. Die Weiden und Birken wiegen sich im kühlen Wind. Herr Schneider rückt unseren Tisch alle halbe Stunde in die wandernde Sonne, stellt einen frischen Aschenbecher ab und sagt: »Bitte sehr.«

Schneiders Hund, ein französischer, ergrauter Vorstellhund, rennt im Schweinsgalopp auf und ab, das Maul auf- und zuschnappend, als lache er sich das Herz aus dem gewärmten Leib. Ein Kind versucht, ein blaues Tretboot mit Rutsche zu entern, während sich ein Ehepaar an einer überdimensionalen Cola-Dose, einem weiteren Stehtisch, zum Wieselburger Bier einfindet und sich zufrieden nicht unterhält. Und raucht.

 

Das österreichische Fernsehen, der ORF, sendet ein paarmal pro Tag zehn Minuten über den »Krieg gegen Saddam«, in seinen Nachrichten Zeit im Bild. Es gebe nicht mehr zu sagen, sagt der Moderator, einige Bilder von den Alliierten flimmern über den Schirm, dann kommt Ally McBeal. Morgens greift man zum Splitscreen. Rechts streift die Kamera über österreichische Landschaftstraumpanoramen, links, etwas kleiner, glühen grüne Kugeln über dem kommentarlos eingespielten CNN-Bagdadhimmel. Drunter dudelt Kaminmusik.

Der Vorzug der Neutralität und des kleinen Landes: Es ist praktisch fernsehfrei. Keine Endlosschleifen, kein televisionär sich vermehrendes Nichts. Kaum ein Österreicher hat Kabel. Der Österreicher hat ORF 1 und ORF 2.

Zwei Schweizer KFOR-Soldaten in voller Montur tauchen vor dem Buffet Alte Donau auf. Warum, weiß niemand. »I dacht’, der Krieag is’ woanders«, sagt Sohn Schneider und bringt den beiden, die nicht lesen können oder nicht wissen, was Selbstbedienung ist, einen Kaffee und eine aufgespritzte Limo.

Wir bestellen eine Gemüsesuppe und Bier. Vorzüglich. Frau Schneider lacht nicht einmal. Sie ist nur da. Ohne etwas zu wollen.

Ein Krieg findet statt. Anderswo, irgendwo, nirgendwo. Zu »20 Schilling« darf im alten Buffetnebenkabuff Tischtennis gespielt werden.