Johann Stoffel (1899-1970)

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Tatbestand 9

Damals stahl Stoffel in Vals ferner dem Nic. Joh. Illien einen Glasschneidediamant im Werte von ca. frs. 15.– und ein Militärmesser im Werte von frs. 2.50. Er reiste dann nach Zürich zurück. Stoffel ist auch mit Bezug auf die Diebstähle z. N. des Schnyder und des Illien geständig.

Tatbestand 10

Am 16. Juli 1929 reiste Stoffel wieder von Zürich nach Chur, um hier zu stehlen. Er begab sich Nachts zum Marienheim, gelangte mit Hülfe eines Gartenstuhls zu einem Fenster – drückte eine Scheibe ein und stieg ein. Er gelangte in das Stellenvermittlungsbureau, dursuchte dasselbe, fand aber nichts und entfernte sich. Stoffel gesteht auch diesen Diebstahlsversuch ein.

Tatbestand 11

Er begab sich dann zur Sägerei Schmidt, stahl dort einen Stechbeutel und kam ungefähr um Mitternacht zum Sennhof [dem Gefängnis des Kantons Graubünden]. Dort stieg er an einem Dachkennel zum Bureaufenster hinauf welches anscheinend offen war. Er gelangte in das Bureau, schloss die Türen desselben ab, hob die Pultplatte, zog die Schublade heraus und stahl aus derselben nach Angabe des Verwalters ca. frs. 417.63, nach seiner eigenen Angabe ca. frs. 600 in Geld und Briefmarken, sowie einen Revolver. Am folgenden Morgen fuhr Stoffel nach Zürich zurück. Er ist nach längerem Leugnen auch mit Bezug auf diesen Diebstahl geständig.

Tatbestand 12

Am ersten August 1929 reiste Stoffel wieder nach Chur, um hier zu stehlen. Er begab sich zum Hotel Stern, um festzustellen, ob es dort eine günstige Gelegenheit gebe. Als er zuerst dorthin kam, war Personal beim Hotel; Stoffel zog sich daher zurück. Dagegen kehrte er ungefähr um 11 Uhr Nachts wieder dorthin zurück, ging in den Hof des Hotels, stieg auf das Waschhausdach und gelangte von dort aus in das Hotel und durch das Badezimmer in das Schlafzimmer der Frau Taverna. Er schloss die Schlafzimmertüre innen ab, sprengte mit einem Dolch den Secretär, öffnete eine darin befindliche Geldkassette und stahl daraus Geld, einen Check im Betrage von frs. 100.– und eine Brieftasche.

Was den Geldbetrag angeht, so erklärte Frau Taverna, es seien ihr damals gestohlen worden mindestens frs. 4000.–. Dem gegenüber deponierte Stoffel, er habe dort ca. frs. 4800.– gestohlen. Nach dem Diebstahl marschierte Stoffel zunächst nach Bonaduz, übernachtete dort und reiste dann am 2. August 1929 nach Ziegelbrücke, wo er seine damalige Geliebte Alice Burkhalter traf. Am 4. August 1929 reiste er mit derselben über Klosters und das Montafun nach Inssbruck und weiter nach Wien. Auf der Reise lebte er verschwenderisch. Er und die Burkhalter kehrten dann nach der Schweiz zurück. Am 30. August 1929 wurden sie in St. Gallen verhaftet und nach Chur in den Sennhof geschafft.

Tatbestand 13

Noch am 1. Sept. 1929 entwich Stoffel aus dem Sennhof. Er begab sich durch das Lürlibad zum Haus Schäpper bei der Kreuzgasse. Dort beobachtete er, wie die Eheleute Schäpper mit einem Kind das Haus verliessen. Er stieg durch ein offenes Fenster in das Haus ein, gelangte in die Stube und stahl aus dem Secretär frs. 200.– in Noten, zwei Sparbüchsen mit Inhalt von ca. 22.– frs; 1 Portemonnaie mit Inhalt 3–4 frs. Aus dem Corridor stahl er ferner 1 Paar Schuhe, einen Rock, einen Hut im Werte von ca. frs. 95.–.

Dann verliess er das Haus und begab sich nach Ems. Von Ems wollte er nach St. Gallen fahren. Dagegen wurde er am gleichen Tage in Landquart im Bahnwagen verhaftet und in den Sennhof zurückgeschafft. Dort verblieb er bis 3. Oct. 1929.

Tatbestand 14

An gen. Tage entwich Stoffel wieder aus dem Sennhof. Er begab sich nach Rhäzüns. In der Nacht schlug er beim Consumladen ein Fenster ein und stahl dann dort: 1 Paar Sonntagsschuhe, 1 Bluse, 1 Rucksack, Conserven, 1 Schere, Wert Total frs. 56.50, und aus der Cassa Geld im Betrage von frs. 29.–.

Von Rhäzüns begab er sich nach St. Moritz.

Tatbestand 15

In der Nacht vom 6. auf 7. October 1929 begab sich Stoffel zur Privatklinik des Dr. O. Bernhard in St. Moritz. Er kletterte an einem Dachkennel zu einem offenen Fenster des 1. Stockes, gelangte zunächst in ein Zimmer und dann in das Bureau. Er durchsuchte dasselbe und stahl dort frs. 1300.–; dabei verursachte er einen Sachschaden von frs. 8.50. Eine Krankenschwester hörte Geräusche, stand auf und schaute nach. Stoffel floh darauf zu einem Fenster hinaus.

Tatbestand 16

In der Zeit vom 6. bis 27. October 1929 wurde auch eingebrochen in die Villa Vedette des Oberst Fonjallanz in St. Moritz. Die gen. Villa befindet sich unweit der Privatklinik des Dr. Bernhard und war zur Zeit des Einbruches unbewohnt. Der Einbruch geschah in der Weise, dass mittels eines Instrumentes eine Nebentüre und dann ein Kleiderschrank aufgebrochen wurden. Es wurden gestohlen diverse Kleidungsstücke und Herrenwäsche im Werte von ca. 500.– frs. Es wurde Sachschaden angerichtet im Betrage von 60.– frs. Der Diebstahl wurde festgestellt erst Ende October 1929. Als verdächtig erschien damals schon Stoffel. Derselbe bestreitet die Täterschaft.

Tatbestand 17

Am 29. Dez. 1929 abends schlich sich Stoffel in das Sanatorium des Dr. Vöchting in Davos-Platz ein, welches ihm von früher bekannt war. Er gelangte in das Wohnzimmer des Dir. Paulsen, er brach mit einer Feile den Schreibtisch und stahl daraus eine 100 Frs. Note.

Tatbestand 18

Am gleichen Abend schlich er sich in die Klinik des Dr. Werdenberg in Davos, gelangte in das Zimmer der Angestellten Emma Günter und stahl aus deren unverschlossenem Kleiderkasten ein Ledertäschchen im Werte von 10 fr. mit Inhalt 50 frs., ein Taschentuch und Photographien. Stoffel ist auch mit Bezug auf die letztgenannten 2 Diebstähle geständig.

Verhört werden auch mindestens drei Frauen, mit denen Stoffel ein «Verhältnis» gehabt haben soll.

Gemäss Deposition der Clara Schoch, mit welcher Stoffel damals ein Verhältnis hatte, verreiste Stoffel am 28. März 1929 von St. Gallen ab; dabei gab er an, er fahre über Sargans ins Glarnerland. Gemäss Deposition der Marie Gunz, mit welcher Stoffel damals ebenfalls ein Verhältnis hatte, traf ihn dieselbe am Charfreitag 29. März Abends in Zürich. Bei der Urteilsfindung des Gerichts werden nochmals erschwerende und mildernde Umstände aufgeführt. Erschwerend fallen in Betracht der schlechte Leumund des Stoffel, seine Raffiniertheit und Dreistigkeit, die grosse Zahl der Delicte und der grosse Schaden, welchen er verursacht hat. Auf Grund seines Vorlebens und der vielen Vorstrafen dürfte er wohl als unverbesserlich bezeichnet werden. Der Kleine Rat wird ersucht, die Frage der dauernden Versorgung Stoffels zu prüfen.

Mildernd fallen in Betracht seine schlechte Erziehung und bis zu einem gewissen Grade das Geständnis, wobei allerdings erwähnt werden muss, dass im Wesentlichen auch ohne Geständnis genügendes Belastungsmaterial vorgelegen hätte. Es mag auch erwähnt werden, dass er gemäss Zeugnis der Direction der Strafanstalt Regensdorf sich dort bisher gut aufgeführt.26

Die Einbrüche Stoffels werden auch in der romanischsprachigen Surselva verfolgt, und zwar durchaus mit einem Augenzwinkern. Die Gasetta Romontscha berichtet etwa: «Johann Stoffel ist wieder unterwegs! In Davos hat er ein Sanatorium besucht, wo er vor Jahren Portier war, natürlich nicht, ohne aus der Kasse eine Erinnerung zu nehmen. In Mezzaselva im Prättigau hat er eine Erfrischung zu sich genommen.»27

DER STECKBRIEF

Johann Stoffel wechselt während seiner Diebeslaufbahn häufig die Namen. Auch fabriziert er in Handarbeit Visitenkarten, mit denen er wohl potenzielle Opfer beeindrucken will. Ein Hans Sprecher aus Basel ist Kaufmann, ein H. Sprecher ebenso, aber mit der pikanten Berufsbezeichnung «Detektiv», ein H. Salis aus Chur ist «Gimnasjast».28 Dass Stoffel bereits früh von der Kriminaljustiz erfasst und ihr auch bekannt ist, zeigt eine anthropometrische Karte aus dem Archiv der Kantonspolizei Graubünden von 1920. Diese Karten sollten nach dem Prinzip der sogenannten Bertillonage ursprünglich vor allem rückfällige Straftäterinnen und Straftäter identifizieren. «Im Zentrum der Bertillonage, die bald schon international diskutiert und angewandt wurde und ab den 1890er Jahren zunehmend auch in der Schweiz Verwendung fand, stand der menschliche Körper», schreibt Nicole Schwager. «Ausgehend von der Annahme, dass das menschliche Skelett ab dem 20. Lebensjahr mehr oder weniger unveränderlich bleibe und individuell deutlich variiere, war zuerst eine exakte Vermessung bestimmter Körperteile – so des Kopfs, der Arme und der Beine – vorgesehen. Auf einer Karteikarte wurden ausserdem detailliert die ‹besonderen Merkmale› der erfassten Person aufgeführt und das portrait parlé, eine akribische Beschreibung des Gesichts nach dem Vorbild der traditionellen Personenbeschreibung, vermerkt. Die schriftliche Erfassung wurde ergänzt durch zwei standardisierte fotografische Abbildungen – die eine in Frontal-, die andere in Seitenansicht. Fingerabdrücke fanden auf den Karten, welche die Polizeibeamten gemäss den Messresultaten und nicht mehr alphabetisch nach den Namen im Register ablegten, spätestens ab 1894 Aufnahme.»29

Handgemachte Visitenkarten, die allerdings wegen der Schreibfehler kaum Eindruck machen dürften, um 1923.

 

Polizeifotos vom 11. Februar 1930: seitlich, von vorne, mit Hut. Drei Tage vorher, am 8. Februar, wurde Johann Stoffel am Zürcher Hauptbahnhof verhaftet.

Die Churer Karteikarte ist etwas anders aufgebaut als etwa diejenige aus dem anthropometrischen Register der Kantonspolizei Bern von 1914. Eine Fotografie scheint grundsätzlich auch vorgesehen zu sein, fehlt aber für Stoffel. Die «Bündner» Karte enthält andererseits deutlich mehr Angaben: Johann Stoffel ist demgemäss 157 Zentimeter gross, auch für damals also eher klein. Es folgen sehr detaillierte Werte, etwa zum Kopf, zum linken Fuss, zur Farbe der Iris, zur Stirne, zur Nase, zum rechten Ohr. Letzteres ist anliegend und rund. Ein charakteristisches Merkmal von Stoffel sind seine O-Beine. Stoffels scheinbares Alter schätzt der Protokollant auf nicht mehr als 18 Jahre. Die Aufnahme der Daten hat ein «R. Nauer – Chur» besorgt, möglicherweise ein Kantonspolizist.30

Ein ähnliches Signalement findet sich im Schweizerischen Polizei-Anzeiger vom Februar 1923, in dem Stoffel eines Diebstahls in Davos bezichtigt wird:

Dringend verdächtigt: Stoffel, Johann. 10. März 1899, von Vals, Portier – klein, schlank, Haare braun, kleine Narbe an der linken Schläfe, neuer Anzug, neuer, heller Hut – ist am 30. Jan. 1923 aus der Korrektionsanstalt in Realta entwichen. – Er wird ins Ausland, speziell nach Österreich zu kommen trachten.31

Es ist möglich, dass Stoffel ins Ausland flüchtet, weil er im Laufe der Jahre in der Schweiz immer bekannter wird und das Risiko steigt, dass er erkannt wird. Ist er für einmal straffrei und – wenigstens nach seiner Aussage – durchaus willens, eine Arbeit anzunehmen, kommt der Mechanismus zum Zuge, wie ihn auch Hans Fallada in seinem Buch «Wer einmal aus dem Blechnapf frisst …» beschreibt. In Stoffels Variante tönt dies so:

Nach der Verbüssung fragte mich jeder den ich um Arbeit anging wo sind sie in der zwischenzeit gewesen sagte ich die Wahrheit wurde ich nicht eingestellt u. schwieg ich, so wurde ich von andern verraten […] ich wurde unbarmherzig entlassen und meistens wurde ich von den Hern Beamten der öffentlichen Ordnung verraten und so bin ich ein über das andere mal gefallen ja noch ins vorletztes Jahr fand ich keine Stellung da ging ich hausieren […] aber niemand half mir eine Stelle suchen niemand stand mir zur Seite alles war auf dem […] mich zu verdammen aber helfen wollte niemand.[…] ich versuchte mich durchzuschlagen mit hausieren da ging es mir wie oben erwähnt ich beging nun eine Dummheit nach der anderen.32

Oder in den Worten, die Stoffel an den Kantonsgerichtspräsidenten richtet: «Herr Präsident, wenn man einem immer wieder den Zuchthäusler und Realtasträfling vorhält, so würde auch ein anderer als der Stoffel schliesslich genug bekommen.»33

Natürlich fehlen die Stimmen nicht, die weniger Verständnis zeigen, etwa der Amtskläger im Prozess von 1931: «Die Theorie war grau, seine schöne grüne Weide war die Verbrecherlaufbahn […] Stoffel ist frech, kühn und hat unverschämtes Glück. Er reist herum und wird nicht erkannt. Er ist gemeingefährlich, bestiehlt jedermann, auch Arme und Wohltäter, dabei stiehlt er nicht aus Not, die Sucht nach Vergnügen und Weibern treibt ihn dazu.»34

Stoffel spielt verschiedenste Rollen, um unerkannt zu bleiben. S. gibt er sich etwa in Chur als Student aus und trägt «eine entsprechende Mütze»35 oder macht in Innsbruck Eindruck als «Pilot Steiner aus Zürich».36 Ob seine Auftritte als eleganter Herr mehr Teil seiner beruflichen Maskerade sind oder ganz einfach seiner Freude an schönen Kleidern entspringen, muss dahingestellt bleiben.

Eine Paraderolle Stoffels in der öffentlichen Wahrnehmung ist diejenige des Ausbrechers, das nächste Kapitel beleuchtet sie.

Der Ausbrecher

Die populärste und bekannteste Rolle, die Johann Stoffel interpretiert, ist wohl diejenige des kleinen, flinken Kleinkriminellen, der die Staatsmacht immer wieder zum Narren hält. Kaum haben die Landjäger ihn im August 1929 dingfest gemacht, entwischt er schon wieder – gerade einmal zwei Tage später. Dies tut er unter Einsatz all seiner turnerischen Fähigkeiten und nicht ohne Blessuren. Zugute kommt ihm der anerkannt miserable Sicherheitsstandard des kantonalen Gefängnisses Sennhof in Chur – miserabel sowohl in baulicher als auch personeller Hinsicht.

Das Bündner Justiz- und Polizeidepartement ist überaus irritiert und verfügt neue Vorsichtsmassnahmen – ohne Erfolg, wie die Presse nach einer weiteren Flucht Stoffels recht maliziös notiert. Besonders spektakulär soll es in Zürich anlässlich einer Überführung zu- und hergegangen sein: Stoffel blendet den Polizisten mit einer Handvoll Sand und flüchtet in ein grosses Warenhaus, wo er nach einer wilden Jagd schliesslich doch verhaftet wird. Die Tatsache, dass es einmal Sand ist, der blendet, laut anderen Quellen auch Dreck, Seifenpulver oder gar Pfeffer, weist auf eine eher wandelbare Geschichte hin, die aber weitherum kolportiert wird, auch in der italienischbündnerischen und romanischen Presse. Presseerzeugnisse sind denn auch wichtige Quellen für dieses Kapitel.

DER «SENNHOF»

Bevor Stoffels Fluchten aus der Gefangenschaft beleuchtet werden, soll ein Blick auf dasjenige Gefängnis, das mit der Geschichte Johann Stoffels besonders eng verwoben ist, geworfen werden: auf den Churer «Sennhof» also. «Gefängnisse sind Gebäude, die im Rechtsstaat dem Vollzug von Freiheitsstrafen dienen. […] Die meisten kantonalen Gefängnisse wurden zwischen 1820 und 1870 am Rand der Hauptstädte errichtet. Die hohen Umfassungsmauern und die spärlichen, hoch liegenden, oft querrechteckigen Gitterfenster in den Zellentrakten charakterisierten die Zweckbestimmung», schreibt Lukas Gschwend.37 Nicht so in Graubünden: Das erste kantonale Zucht- und Arbeitshaus entsteht 1817 aus einem bestehenden Bau in der Churer Stadtmauer.38 Der junge Kanton kann eine private Liegenschaft kaufen, den sogenannten Sennhof. In den folgenden Jahrzehnten finden zahlreiche Verbesserungen statt, sie bleiben aber immer unbefriedigendes Flickwerk. 1830 wird das sogenannte gelbe Blockhaus erstellt, das schon 1842 massiv kritisiert, aber doch bis 1949 benutzt wird. 1866 folgt das Inquisitenhaus für Untersuchungshäftlinge an der Sennhofstrasse. 1883 kann der Kanton das Haus Kratz erwerben und in den «Sennhof» integrieren. Weitere wichtige Um- und Ausbauten sowie Erweiterungen stammen von 1934, wenige Jahre nach den blamablen Ausbrüchen von Johann Stoffel, die möglicherweise Anstoss sind zu den baulichen Verbesserungen. Bis 1932 besitzen die Zellen kein elektrisches Licht.39 Der «Sennhof» ist weder zu Beginn noch in späteren Zeiten ein Paradebeispiel moderner Gefängnisarchitektur, insbesondere im Vergleich zu einigen anderen schweizerischen Haftanstalten.40

Grundriss der kantonalen Strafanstalt Sennhof in Chur, 1. Stock, 1929.

Der Churer «Sennhof» 2017. Der mittelalterliche Turm rechts ist Teil des Gefängnisses.

Bereits 1895 fällen zwei eidgenössische Experten ein vernichtendes Urteil über den «Sennhof»: «Der ganze Bau ist alt, den heutigen Anforderungen nicht mehr entsprechend, auch fehlt es an einer strammen Beaufsichtigung der Gefangenen. Von den Zellen könnte allerdings ein Teil, bezüglich ihrer Grösse, als Arbeitszellen benützt werden, aber in diesem Fall bieten sie zu wenig Sicherheit gegen Ausbruch, auch sind die Fenster durchgehend zu klein und zu tief angebracht.»41 Das Jahr 1927 ist für den «Sennhof» ein einschneidendes Datum: «Reglement» und «Hausordnung» formulieren neu und auch deutlich liberaler die Regeln, die im kantonalen Gefängnis gelten – nicht zuletzt auch für Johann Stoffel bei seinen kürzeren oder längeren Aufenthalten in den 1920er- und frühen 1930er-Jahren: «Das Schweigegebot findet sich in der Hausordnung 1927 immer noch in § 43. Aber die Disziplinarstrafen haben sich geändert. Erlaubt sind nur noch ein Verweis, der Entzug von Lektüre, das Verbot von Besuchen und des Schreibens und Erhaltens von Briefen, der Entzug von Kaffee, Zusatznahrungsmitteln und Tabak, Schmälerung der Nahrung, Entzug des Verdienstanteils, einfacher Arrest bis auf zehn Tage und scharfer Arrest bis auf fünf Tage, wobei beim Arrest immer auch Kostschmälerung die Folge war. Der einfache Arrest bestand in der Einsperrung in einer gewöhnlichen Zelle, der scharfe Arrest hatte die Versetzung in eine Dunkelzelle ohne Bett, nur mit einer Wolldecke, zur Folge.»42 Ebenfalls sehr detailliert der neue Speiseplan:

Jeder Insasse erhält:

1. Morgens eine Portion Milchkaffee oder Schokolade

2. Mittags wöchentlich dreimal eine Portion Suppe, einmal ein Paar Würste mit Gemüse und zweimal 150 Gramm Fleisch ebenfalls mit Gemüse und einmal eine Portion Polenta und 100 Gramm Käse

Abends eine Portion Suppe

Insassen, welche arbeiten, erhalten ausserdem nachmittags eine Portion Kaffee oder Tee mit Brot.

Die tägliche Brotration beträgt 750 Gramm. Auf besonderes Verlangen kann Insassen, welche streng arbeiten, eine Zulage von Brot gegeben werden.43

Das Angebot erscheint Johann Stoffel wohl zu wenig verlockend, um ihn dauerhaft hinter Gittern zu halten …

In den grundsätzlich ähnlich gearteten Jahresberichten von 1929 bis 1931 sucht man übrigens vergeblich nach einer Passage zu den so peinlichen Ausbrüchen des Johann Stoffel. Im Jahresbericht von 1930 wird das Verhalten der Gefangenen als im Allgemeinen gut bezeichnet. Auch in Chur ist unterdessen die Ansicht gereift, dass «humane Behandlung» bei der Handhabung der Hausordnung mehr Gewähr bietet als herzlose Strenge. Man ist sich bewusst, dass die Bedeutung der Entlassenenfürsorge gar nicht überschätzt werden kann. In eine ganz andere Richtung weist aber dann die Tatsache, dass 1930 immer noch fünf Personen mit Dunkelarrest bestraft werden.44

Der durchschnittliche, tägliche «Insassenbestand» im «Sennhof» beträgt 1934 26, ein Jahr vorher 21. Unterschieden wird zwischen «Sträflingen, Inquisiten und Vaganten». Gemäss dem Berichterstatter hat etwa 1934 das Verhalten der Gefangenen «nicht ganz befriedigt. Die Disziplin litt während des Umbaus. Einige Insassen waren beim Neubau beschäftigt und kamen somit fortwährend mit der Aussenwelt in Berührung. Obwohl man die Arbeiter wiederholt aufmerksam machte, den Insassen ja nichts abzugeben und mit ihnen nicht zu sprechen, gab es immer wieder solche, die sich ein Vergnügen daraus machten, den Internierten etwas zuzuschmuggeln. Bei Durchsuchungen kamen Cigaretten, Zündhölzchen, Esswaren etc. zum Vorschein.»45

Im gleichen Jahresbericht 1934 wird festgehalten, dass die Kriminalität im Kanton nicht stark zugenommen habe. Häufiger als früher seien Diebstähle und andere Straftaten fremder, reisender Verbrecher. Es könne darum behauptet werden, dass Verbrechen und Vergehen Einheimischer abgenommen hätten. Nicht überraschend die Altersstruktur der Häftlinge, die das Jahr 1934 ganz oder teilweise im «Sennhof» verbringen müssen: 4 Personen zwischen 16 und 20 Jahren, 52 zwischen 20 und 30 Jahren, 26 zwischen 30 und 40 Jahren, 14 zwischen 40 und 50 Jahren, 4 zwischen 50 und 60 Jahren, 2 zwischen 60 und 70 Jahren.

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