Johann Stoffel (1899-1970)

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ZÜRICH

Natürlich ist Stoffels Autobiografie wie alle Texte dieses Genres mit Vorsicht zu geniessen. Sie tendieren nicht selten zur Schönfärberei und folgen meist einer bestimmten Absicht. Die Angaben, die Stoffel in seiner Autobiografie macht, sind oft nicht verifizierbar. Seine Bemerkung, er sei das erste uneheliche Kind in Vals gewesen, scheint ganz und gar unwahrscheinlich. Hilfreich zur Überprüfung der Aussagen sind einige Meldekarten der Einwohnerkontrolle im Stadtarchiv Zürich. Am 10. März 1914 meldet sich Stoffel zum ersten Mal in Zürich an, kommend von Vals. Gemäss seiner Autobiografie hält er sich aber seit spätestens 1911 in Zürich auf. Die Angaben stimmen zwar nicht präzise überein, scheinen aber möglich, wenn man Stoffel die ungefähr 17 Jahre zugutehält, die zwischen dem Erlebten und der Abfassung der Erinnerungen liegen.

Und so kam ich nach Zürich resp. nach Uster wo ich nun ihn die Schule ging aber auch da war es nur kurze Zeit u. mein Stiefvater beging ein Unterschlagung im Betrage von 24000 Fr. u. liess meine Mutter u. mich ihm Elend sitzen mir standen nun Mittel u. Obdachlos da u. gingen nach Zürich wo meine Mutter eine Stellung annahm aber da mein Stiefvater ihr keine Treue hilt versagte Sie sich darin auch nichts nichts und da war ich nun wieder im Wege u. kam in Kost und Logis und zwar ganz in der Nähe es kommt nie ein Unglück allein meine Mutter bekam eine Augenentzündung u. ich allein als 12 jähriger Junge verdiente unsern Unterhalt und zwar indem ich mit Seifen u. Seifenpulver hausierte usw [?] ich habe es gerne getan für meine Mutter aber ich hatte nur erobert dass ich auch nach ihrer Besserung weiterhausieren musste bis man mich 3 bis 4 mal erwischte u. mich 1 ganzen Tag einsperrte u. meiner Mutter drohte das man mich Ihr wegnehme wenn ich noch einmal hausieren gehe. Das half. Und ich bekam eine Stelle als Ausläufer u. war nun von meiner Mutter fort den ich hatte in meiner Stellung Kost und Logis u. sah meine Mutter nur sehr wenig bis dan plötzlich mein Stiefvater wieder auftauchte er wurde auch vor Gericht gestellt aber weil solange Zeit darüber verflossen wurde er freigesprochen.9

In der Stadt Zürich lebt Johann Stoffel in einem besonderen Quartier. Bis 1893 ist Aussersihl eine eigene Gemeinde, erst dann wird es als Kreise 4 und 5 der Stadt Zürich einverleibt. Damit wird bekräftigt, was schon lange Tatsache ist, nämlich die enge Verzahnung Aussersihls mit der Stadt. Kaum verschiedener könnten hingegen die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse sein: In der Altstadt, im Kreis 1, wohnen vor allem die besser stehenden Einheimischen, im Kreis 4, im Kreis «Cheib», die minder Privilegierten aller Art. Es sind dies vor allem zugezogene Arbeiter und Handwerker, besonders viele Italiener, die in der Baubranche beschäftigt sind. Nicht immer gestaltet sich das Zusammenleben reibungslos, so etwa bei den «Italiener-Krawallen» von 1896. Die Wohnverhältnisse sind im Allgemeinen äusserst bescheiden. Bei der Eingemeindung im Jahr 1893 hat Aussersihl mehr Einwohner als die damalige Stadt Zürich.

Neben die wirtschaftliche Immigration tritt die politische, auch hier wieder vor allem aus Italien. Es entsteht in Aussersihl eine hochpolitische Gemengelage, mit einer starken linken Übermacht, die auch im täglichen Leben stets präsent ist, wie in den sogenannten Vorfeldorganisationen der Gewerkschaften und der Sozialdemokratie, die «Naturfreunde» oder die «Arbeiter-Velofahrer» etwa. Wichtig ist auch die eigene Tageszeitung, das sozialdemokratisch-gewerkschaftliche Volksrecht. Es bildet sich eine eigentliche Arbeiterkultur mit eigenen Organisationen parallel zu denjenigen des Bürgertums aus.

Das Bezirks- und Gerichtsgebäude an der Badenerstrasse ist das ungeliebte Symbol des Bürgertums im proletarischen Kreis 4. Darum finden Manifestationen mit Vorliebe vor diesem Gebäude statt, wobei es vor allem in den Jahren 1918 und 1919 durchaus gewaltsam zugehen kann. Andreas Petersen rekonstruiert beispielsweise folgenden Vorgang: «Der etwa 2000 Menschen umfassende Zug marschierte, zunächst mit dem Polizeivorstand an der Spitze, über die Bahnhofstrasse dem Kreis 4 zu. Gegen 21.30 erreichte die Menge unter Absingen der Internationale ihr Ziel. Einzelne Rufe ‹Holed de Wyss use!› ertönten, und eine Gruppe von Demonstranten begann mit Pickeln und anderen Brechwerkzeugen von der Kanzleistrasse aus das Tor zum Gefängnishof zu bearbeiten. Steinhagel gegen die Fenster der nach der Kanzlei- und Rotwandstrasse gelegenen Fassaden setzten ein. Sozialdemokratische und gewerkschaftliche Führer bemühten sich nach besten Kräften, das gewaltsame Treiben zu verhindern. Der Unionspräsident wurde dabei durch einen Pickelhieb am Kopf verletzt, und auch Polizeivorstand Traber konnte trotz Polizeieskorte nichts ausrichten […]. Der Krawall forderte schliesslich drei Tote, zwei nicht volljährige Bauarbeiter und einen kantonalen Polizeidetektiv.»10 An diesem «Sturm» oder «Putsch» aufs Bezirksgebäude vom 13./14. Juni 1919 nimmt laut Ausführungen in seinem Lebenslauf auch Johann Stoffel teil, er macht aber keine weiteren Angaben – doch dazu später.

KÖLN

Johann Stoffel meldet sich am 19. Juli 1915 in Zürich ab. Zusammen mit seiner Mutter und dem Stiefvater zieht der Sechzehnjährige nach Köln, mit circa 600 000 Einwohnerinnen und Einwohnern eine richtige Grossstadt. Das Motiv für den Wegzug nach Köln ist offenkundig: Stiefvater Schärer tritt eine neue Stelle an, und zwar als Prokurist in einer Linoleumfabrik, den Rheinischen Linoleumwerken Bedburg. Auf den ersten Blick mag es erstaunen, dass ein Schweizer auf führender Position in einem nordrhein-westfälischen Betrieb tätig sein kann. Doch 1915 ist kein normales Jahr, es ist das zweite des Ersten Weltkriegs. Noch stottert die Kriegswirtschaft nicht im späteren, drastischen Ausmass, aber es fehlt immer mehr an qualifiziertem Personal und an Arbeitern, die fast überall in den Militärdienst eingezogen worden sind. Da greift man gerne auf neutrale Länder wie die Schweiz zurück, die dieses Problem weniger kennen. Der gleiche Mechanismus spielt übrigens auch zwischen dem neutralen Irland und England. Ebenso werden Frauen zunehmend für kriegswichtige Aufgaben verpflichtet.

Wie ergeht es Johann Stoffel in diesen turbulenten Zeiten? Er beginnt mehrere Lehren, bricht diese aber wieder ab. Monatelang liegt er im Krankenhaus, nimmt dann eine Stelle in einer Munitionsfabrik an, wo er ein halbes Jahr beschäftigt ist. In welcher Fabrik er arbeitet, ist nicht bekannt. Die Ärzte und Stoffels Mutter verbieten Johann schliesslich aus gesundheitlichen Gründen die weitere Arbeit in der Fabrik, auch wenn der Lohn doppelt so hoch ist wie bei seiner nächsten Stelle als «Kaffeehaus-Telephonist». In den gut drei Jahren, in denen Stoffel in Köln weilt, gelten zunehmend die strengen Vorgaben der Kriegswirtschaft. Der umfassende Rohstoffmangel tangiert die Konsumgüterindustrie genauso wie die militärische Produktion. Ab 1915 kommt es vor allem in den Grossstädten zu ersten Protesten, ein Jahr später zu ersten Streiks.

Stoffel ist wohl Zeuge dieser Auseinandersetzungen, er berichtet in seiner Autobiografie aber nichts davon. Als er am 9. November 1918 nach Zürich zurückkehrt, ist die deutsche Niederlage absehbar und die Revolution in vollem Gange. Bis zum schweizerischen Generalstreik dauert es noch drei Tage. Stoffel beschreibt seine Kölner Zeit folgendermassen:

Und wir gingen nach Köln a/ Rhein anfangs dem Krieg wo er eine Stelle als Prokurist in den Rheinisch-Linoleumfabriken Bedburg bekam. Nun wurde ich in die Lehre gegeben u. zwar als Mechaniker u. ich hatte auch Freude daran aber da ich sehr schwach war wurde ich krank u. nachdem ich Monatelang im Krankenhaus in Düren lag durfte ich ich wieder nach Hause inzwischen aber hatte mein Stiefvater seine Stellung gewechselt u. nach Köln selbst gezogen. Als ich nun wieder ganz hergestellt war musste ich nochmals in die Lehre u. zwar als Kellner man hatte aber vorher nicht bedacht das ich kaum in die Schule gegangen war u. somit sehr schlecht rechnen konnte aber wir merkten es bald den fast täglich hatte ich zuwenig Geld bei der Abrechnung u. nun musste ich auch hir wieder aus der Lehre u. mein Stiefvater beschuldigte mich das fehlende Geld für mich gebraucht zu haben u. sagte mir alle möglichen schlechten [?] es war nicht wahr ich hatte wirklich zuwenig u habe es nicht für mich gebraucht um keine bösen Worte u. Vorwürfe mehr zu bekommen nahm ich eine Stellung in einer Munitions-Fabrik an es ging nun ein halbes Jahr ganz gut u. ich gab all mein verdientes nach Hause. Sie können darüber meine Mutter fragen aber nach circa 7 Monaten wurde ich wieder krank u lag abermals 10 Wochen im Krankenhaus von dort entlassen untersagten mir die Ärzte die Arbeit in die Munitions-Fabrik wieder aufzunehmen auch meine Mutter wollte mich nicht mehr gehen lassen ich nahm dan auch eine Stelle als Kaffeehaustelephonist an u. zwar im Café Rheinhardt aber der Verdienst war kaum die Hälfte von dem in der Munitions-Fabrik u. mein Stiefvater war wütend u. brach bei jeder Gelegenheit einen Streit vom Zaun u. und bei einem solchen Streite wars als ich ihm sagte er sei ein Tyrann. da griff er zu Hundpeitsche jawoll u. schlug mich bis ich zusammenbrach und drei Tage später ging ich Nachts heimlich von [?] fort da ich nun Angst hatte das man mich suchen würde ging ich zu einem früheren Collegen mit dem ich gearbeitet habe im Caffee Bauer wo ich als Kellner in der Lehre stand der hauste zusammen mit seinen beiden Schwestern in Köln-Deutz u. nun kommt das was mich auf meine jetzige Laufbahn gebrach hatt ich lernte das eine dieser Mädchen lieben das man mich nur ausnützte habe ich nicht gemerkt was ich an Geld besass gab ich hin u. als ich keins mehr hatte wurde ich vom schon erwähnten Bruder belehrt wie wir zu Geld kommen könnten das erste mal ging es gut aber das zweitemal wurden wir erwischt u. ich bekam 3 [?] Monate Gefängnis in welchem sich meine Mutter meiner Annahm.11

 

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Nach Verbüssung von Johanns Strafe reisen Sohn und Mutter wieder in die Schweiz zurück. Die Meldekarten der Einwohnerkontrolle im Zürcher Stadtarchiv geben das genaue Datum an: 9. November 1918.

Da ich hier nicht gleich eine Stellung fand wurde ich von Mutter auch sehr schlecht behandelt u nur um von zu Hause fortzukommen nahm ich die Stelle eines Freiwilligen Grippekrankenpflegers an wo ich wenigsten Kost u Logis hatte u. habe ein Hilfslatzerett Tonhalle u. im Hirschengraben-Schulhaus u. zuletzt im «Riedtli»-Schulhaus unter Dr. Major Suter gepflegt aber auch dieses nahm ein Ende u. ich durfte nicht nach Haus warum werden Sie fragen lassen Sie das Ihnen mündlich mitteilen. Eine Stellung fand ich nicht u. liess mich überreden am Streick mit den Jungburschen teilzunehmen u. ich wurde dan bei dem Putsch am Bezirksgebeude in Zürich arretiert u. nach Chur geliefert.12

Das Jahr 1918 ist für die Schweiz ein Schicksalsjahr. Einerseits steuert die soziale und politische Unrast auf einen nie gekannten Höhepunkt zu. Andererseits bricht spätestens Mitte Jahr die sogenannte Spanische Grippe aus, eine hochansteckende Krankheit, die durch Tröpfchen übertragen wird. Es handelt sich um eine besonders gefährliche Grippe, bei der Lungenentzündung und Blutzersetzung im Extremfall innerhalb von 24 Stunden zum Tod führen. Nicht selten bluten die Angesteckten plötzlich aus Nase und Mund. Die Toten müssen so schnell wie möglich begraben werden. Aus Furcht vor einer Infizierung kommt das gesellschaftliche Leben fast vollständig zum Erliegen. Fast alle öffentlichen Veranstaltungen fallen aus, Schulhäuser und Militärbaracken werden zu Notfallspitälern. Behörden und Ärzte stehen der Katastrophe beinahe hilflos gegenüber, abgesehen von den Schutzimpfungen mit ihrer Präventionswirkung. Harsche Kritik muss insbesondere die Armeesanität über sich ergehen lassen, die auf die Epidemie völlig ungenügend vorbereitet gewesen sein soll.

In der Schweiz leiden circa zwei Millionen Menschen mehr oder weniger stark an der Krankheit. Zwischen Juli 1918 und Juni 1919 sterben 24 449 Menschen infolge der Grippe. Die geschätzten zwanzig bis fünfzig Millionen Grippeopfer weltweit übersteigen die Zahl der Todesopfer des gesamten Ersten Weltkriegs. Während der ersten Grippewelle vom Juli 1918 sterben täglich bis zu 35 Armeeangehörige, was angesichts der engen Unterkünfte und Bunker nicht verwunderlich ist. Im Oktober und November beginnt eine zweite Welle, die durch die weiterhin stattfindenden Streiks einerseits und Truppenaufgebote andererseits noch verstärkt wird und zu gegenseitigen Schuldzuweisungen führt. Eine dritte, weniger starke Welle wird im Januar 1919 registriert. Die Bevölkerung wird aufgefordert, Matratzen und Bettdecken zu spenden, ihre Autos zur Verfügung zu stellen und überhaupt Freiwilligendienste zu leisten. Wie in allen Notlagen üblich, werden auch mehr oder minder wirksame Heilmittel angeboten, etwa Seifen, Spülungen und Staubsauger bis hin zur prosaischen Desinfizierung der Telefone.13

Zum gesundheitlichen Notstand tritt ein politischer. Gegen Ende des Ersten Weltkriegs wird in der Schweiz der Graben zwischen Unternehmern und Bauern einerseits und Arbeitern andererseits immer tiefer. Während die einen grosse Gewinne einfahren, haben die anderen unter den drastischen Kostensteigerungen, etwa bei den Lebensmittelpreisen, zu leiden. Ab 1917 nehmen die Arbeitskämpfe deutlich zu. Die Fronten verhärten sich immer mehr, militärische Aufgebote in den grossen Städten sollen hoch zu Ross den «Ordnungsdienst» gewährleisten, werden aber von den Streikenden als Provokation verstanden. Das Oltener Aktionskomitee ruft schliesslich am 12. November 1918 zum unbefristeten Generalstreik auf und verlangt folgende Reformen, teils politischen, teils sozialen Inhalts:

1. Sofortige Neuwahl des Nationalrats auf der Grundlage des Proporzes

2. Aktives und passives Frauenstimmrecht

3. Einführung der allgemeinen Arbeitspflicht

4. Einführung der 48-Stunden-Woche in allen öffentlichen und privaten Unternehmungen

5. Reorganisation der Armee im Sinne eines Volksheeres

6. Sicherung der Lebensmittelversorgung im Einvernehmen mit den landwirtschaftlichen Produzenten

7. Alters- und Invalidenversicherung

8. Staatsmonopole für Import und Export

9. Tilgung aller Staatsschulden durch die Besitzenden

Am Landesstreik (auch: Generalstreik) nehmen circa 250 000 Männer und Frauen teil, vor allem in der Deutschschweiz und in den grossen Städten, aber auch etwa in Davos oder Chur. Der Bundesrat laviert anfänglich, schwenkt dann aber auf die harte Linie von General Ulrich Wille ein, der den Konflikt militärisch lösen möchte. Der Bundesrat erlässt ein Ultimatum, welches das Ende des Landesstreiks verlangt. Das Oltener Aktionskomitee beschliesst am 14. November, also nach nicht einmal drei Tagen, den Streikabbruch. Es befürchtet insbesondere die militärische Niederschlagung des Streiks und bürgerkriegsähnliche Zustände.

Von Johann Stoffel wissen wir aus oben zitiertem Ausschnitt seiner Autobiografie, dass er sich von den Jungburschen hat überreden lassen, beim Streik mitzumachen. Die Teilnahme am Landesstreik vom 12. bis 14. November 1918 sowie der Sturm auf das Bezirksgebäude vom 13./14. Juni 1919 in Zürich Aussersihl14 sind aber offenbar die zwei einzigen klassisch-politischen Manifestationen, an denen Stoffel partizipiert. Welche Rolle er bei den sozialistischen Jungburschen gespielt hat, konnte nicht eruiert werden. Wenn er allerdings von «überreden» spricht, deutet dies eher auf einen Mitläufer hin. Bemerkenswert ist die Tatsache, dass er erst ab dem 9. November in Zürich, von Köln herkommend, angemeldet ist, nur drei Tage also vor Beginn des Landesstreiks. Möglicherweise hat er noch Bekannte von früher im linken Biotop von Aussersihl. Nicht auszuschliessen ist natürlich ein spontaner Entschluss zum persönlichen Einstehen für die gute Sache. Auch seine Mutter wohnt in Zürich, laut Meldekarten findet Johann Stoffel bei ihr zeitweise Unterschlupf, etwa an der Freischützgasse im Kreis 4.15

Es scheint so, also ob Stoffel nach der Ankunft in Zürich seine kleinkriminellen Touren recht bald wieder aufnimmt. Bereits am 11. März 1919 erfolgt auf Beschluss des Zürcher Regierungsrats die Kantonsverweisung, was Stoffel offenbar nicht daran hindert, drei Monate später am Sturm auf das Bezirksgebäude teilzunehmen. Er lebt in jener Zeit ein prekäres Leben. Selbstverständlich reichen die «Einkünfte» aus seinen Diebestouren bei Weitem nicht, um sich finanziell über Wasser zu halten. Eine feste Anstellung findet er aufgrund seines Rufes auch kaum. Darum reist er «häufig auf Bildern», wie etwa aus späteren Anweisungen aus dem Gefängnis an die Mutter hervorgeht. Um welche Art Bilder es sich handelt, bleibt unklar.16

Der Einbrecher

Der Einbrecher Johann Stoffel kundschaftet aus, steigt ein – er wendet aber nie Gewalt an. Leise und nicht selten mit akrobatischen Einlagen macht Stoffel sich jeweils mit der kleinen oder grossen Beute wieder davon. Die wichtigste Quelle zu seinen Einbrüchen ist – neben den Zeitungen – die umfangreiche Anklageschrift der Staatsanwaltschaft (Kantons-Verhöramt) von 1931, die im Staatsarchiv Graubünden in Chur liegt. In 18 «Tatbeständen» wird allein für das Jahr 1929 detailliert dargelegt, wann, wo und wie Stoffel «arbeitet». Seine Einbrüche begeht er zwar über das ganze Jahrzehnt hinweg, sie sind aber in der Regel weniger gut dokumentiert.

DAS SÜNDENREGISTER

Nach seiner Wegweisung aus dem Kanton Zürich 1919 findet Stoffel, wie er selbst schreibt, auch in Chur keine Anstellung. Er leiht sich beim «Velohändler Vassela in Chur» ein Rad und fährt damit nach Zürich, wo er von seinen Eltern aber nicht aufgenommen wird.

Um nicht hungern zu müssen verkaufte ich das Rad u. als auch dieses Geld alle war wurde ich zum Dieb, stahl zwei oder drei Fahrräder ich glaube beim dritten wurde ich beim Verkauf verhaftet u. wurde in Zürich u Glarus u Chur nach einander abgeurteilt.17

Stoffel gerät früh auf die Diebeslaufbahn. Bereits in Deutschland wurde er einmal verhaftet und zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Spätestens ab 1919 ist er häufig in Graubünden tätig. Das Muster ist oft das gleiche: Er steigt in ein Haus ein und entwendet Objekte, die sich leicht zu Geld machen lassen. S. stiehlt er Wolldecken aus dem Kurhaus Rothenbrunnen, die er in der Umgebung verkauft. Häufig werden auch Fahrräder zu Diebesgut, eines etwa schwatzt er einem Landwirt in Tavanasa auf. Sehr willkommen sind natürlich Schmuckstücke. Ganz ohne Humor arbeitet Stoffel nicht: Als «Spass» darf es auch einmal eine grosse Grison-Pralinen-Schachtel sein, leider angebraucht. Fast alle diese Delikte gibt er ohne Weiteres zu, die grösseren ebenso wie die vielen kleinen und kleinsten. Sein Gegenpart ist in all den Jahren das Kantons-Verhöramt in der Person von Dr. Eduard Fanconi.18

In einem Verhör vom Sommer 1920, das Fanconi führt und Landjäger Putscher protokolliert, wird auf drastische Weise klar, dass Stoffel bei seinen Streifzügen nicht selten vom Hunger getrieben wird:

Es scheint auch, dass Sie in Rothenbrunnen noch verschiedene Sachen entwendet haben, die Sie bisher nicht erwähnt haben?

Was?

Verschiedenes!

Nur noch das was ich gegessen habe!

Was also?

Bindenfleisch und Zwieback. Chokolade, das ist Alles.

Haben Sie nicht auch Sardinen gegessen?

Das stimmt! Die habe ich vergessen gehabt. Ich glaube es waren 2 Schachteln gewesen. Tonfisch?

Es waren zwei Schachteln im Ganzen vielleicht war die eine mit Ton. Dann habe ich aus einem Topf «Honig» gegessen etwa 2–3 Löffel. Der Topf war allerdings intakt gewesen, als ich dran bin. Ich habe dann den Topf wieder zugedeckt. Haben Sie auch etwas getrunken?

Ja, ja. Ich habe aber nur ein Glas mögen, das andere habe ich zurückgelassen.19

Gemäss einem «Auszug aus dem Centralstrafregister» von 1918 bis 1923 begeht Stoffel regelmässig Verbrechen. Er wird dafür auch ebenso regelmässig verurteilt, seitens des Kantons Graubünden 1921, 1923 und 1925 etwa für Diebstahl, Betrug oder Unterschlagung. Das Strafmass beträgt in aller Regel ein paar Monate. Zwei Wochen erhält er allein für «Ungehorsam». Gemäss einer Fiche von 1920, die bei der Kantonspolizei liegt, steht sein Sündenkonto bei vier Vorstrafen, einem Velodiebstahl als Grund der letzten Haft und Unterschlagung als Grund der gegenwärtigen Inhaftierung. Auch im Schweizerischen Polizei-Anzeiger ist Stoffel Thema; so etwa bei Diebstählen im Januar 1923 in zwei Fremdenzimmern der Pension Solaria in Davos. Als «Dringend verdächtig» wird Stoffel angeführt.20

Sechs Jahre später, im August 1929, tönt es im gleichen Anzeiger immer noch ganz ähnlich. Stoffel scheint wie eh und je aktiv zu sein. Das Bündner Landjäger-Kommando bittet um «intensive Fahndung» und führt als besondere Merkmale an, dass er eher klein, gewandt und vermutlich gut gekleidet sei. Als Berufe erscheinen Hotelangestellter, Sattler und Mechaniker. Sein momentaner Aufenthaltsort sei nicht bekannt, infrage kämen neben Graubünden vor allem St. Gallen, Zürich, Bern, Luzern und wohl auch Österreich (Vorarlberg). Die polizeiliche Vermutung ist erstaunlich präzis: Am Erscheinungstag des Anzeigers ist Stoffel mit seiner Freundin unterwegs nach Österreich, via Schruns, Innsbruck und Salzburg nach Wien.

Anfang 1931 sind unter dem Namen Johann Stoffel allein in Graubünden nicht weniger als 13 Vorstrafen sowie mehr als sage und schreibe fünfzig Monate hinter Gefängnismauern und zwei Aufenthalte in der Korrektionsanstalt Realta vermerkt.21 Ganz ähnlich sieht es bei den angrenzenden Kantonen aus, vor allem in Zürich und St. Gallen. In Glarus hat sich Stoffel für sechs Diebstahl- und Diebstahlsversuche zu verantworten, 22 im Kanton Zürich werden ihm seit Neujahr (1929) mehrere Einbrüche angelastet. Im Mai 1930 sitzt Stoffel im Bezirksgefängnis Uster.23 Für Graubünden existiert für das Jahr 1929 eine Aufstellung der Johann Stoffel zur Last gelegten Delikte. Wahrscheinlich dürfte es sich um eines seiner ertragreichsten Jahre handeln. Die Deliktsummen betragen total über 10 000 Franken, im Einzelnen zwischen 17.50 und über 4000 Franken. Geschädigte sind sowohl Private wie Institutionen, etwa Verkaufsläden, Sanatorien, Heime oder Pfarreien. Die in Graubünden heimgesuchten Ortschaften sind vor allem im Raum Chur, dem Lugnez und dem Engadin zu finden. Entwendet hat Stoffel nicht nur Bargeld, sondern häufig auch Naturalien wie Kleider, Esswaren, Velos, Briefmarken.

 

Anzeige im Schweizerischen Polizei-Anzeiger vom August 1929.

Die folgende, ausführliche Aufzählung24 zeigt die Stoffel zur Last gelegten Delikte und gibt einen guten Einblick in seine Arbeitsweise. Zwar stammen die Angaben einseitig vom Kantons-Verhöramt. Da aber in fast allen Fällen ein Geständnis Stoffels vorliegt, können die Angaben im Ganzen wohl als korrekt angenommen werden. «Lange Verhöre liebt er nicht: darum seine raschen Geständnisse», hält der Staatsanwalt fest.25 Stoffel tendiert bei allen Verhören dahin, fast sämtliche ihm zur Last gelegten Delikte ohne Weiteres zuzugeben und seinen Willen für ein fortan ehrliches Leben zu beschwören.

Tatbestand 1

Im Herbst 1928 hielt sich Stoffel eine Zeitlang in Rhäzüns auf. Er wohnte dort bei Frau Caduff-Cajochen und ass bei Frau Spadin. Er arbeitete eine Zeitlang im Holz- und Baugeschäft Rhäzüns und in der Folge in Rhäzüns und Umgebung als Sattler. Eines Tages begab er sich in das Pfarrhaus. Dort sagte er der Magd Ursula Demarmels, der Pfarrer habe ihn beauftragt, eine Matratze auszubessern, er möchte dieselbe ansehen. Die Magd führte Stoffel ins Haus und zeigte ihm eine auf der Laube auf der hinteren Seite des Hauses befindliche Matratze – Stoffel erklärte darauf, er werde dieselbe holen, er holte dieselbe aber nicht. Stoffel verliess dann Rhäzüns. Dagegen kam er im Januar und Februar 1929 wieder dort vorbei. In der Zeit vom 23. März bis 4. April 1929 wurde im Arbeitszimmer des Pfr. Plaz in Rhäzüns mit einem Instrument eine Schublade des Rollpultes aufgebrochen und daraus ein Geldbetrag von ca. 1100 frs. gestohlen. Wegen dieses Deliktes wird Stoffel angeklagt. Er bestreitet die Täterschaft und behauptet, damals nicht in Rhäzüns gewesen zu sein.

Tatbestand 2

Im Sommer 1928 war Stoffel in St. Moritz. Er war dort angestellt als Portier in der Pension Surlej. Er holte dort jeweils die Milch in der Milchhalle im Haus Ponti in St. Moritz-Bad; bei diesem Anlass lernte er die dortigen Localitäten kennen. Er kannte auch die Leiterin der Milchhalle, Frau Meuli-Kreis. Anscheinend erzählte ihm dieselbe gelegentlich, sie bewahre die Casse Nachts im Kühlschrank im Ladenlocal auf. Damals verkehrte Stoffel gelegentlich auch im kathol. Pfarrhaus in St. Moritz.

Tatbestand 3

Ende Mai 1929 reiste Stoffel von Zürich nach St. Moritz, um dort zu stehlen. Am 28. oder 29. Mai 1929 Abends ungefähr 8 h begab sich Stoffel hinter das kathol. Pfarrhaus. Er fand dort einen alten Zaun, lehnte denselben an das Haus, stieg zu einem offenen Fenster in dasselbe ein und gelangte in das Studierzimmer des Pfarrers. Er schloss dasselbe hinter sich ab und durchsuchte dann das Zimmer. Er wurde dabei gestört und entsprang durch ein offenes Fenster, ohne etwas gestohlen zu haben. Stoffel ist in diesem Punkte geständig.

Tatbestand 4

An einem der gen. Tage begab sich Stoffel auch zur Pension Surlej. Dort stahl er eine Decke und ein Beil, begab sich in ein Gartenhaus und wartete dort bis in die Nacht. Dann begab er sich zum Haus Ponti in St. Moritz-Bad, stieg dort durch ein offenes Fenster in den Abort bei der Milchhalle ein und gelangte dann durch den Gang und das Magazin in den Laden. Dort versuchte er die Türe des Kühlschrankes zu erbrechen, was ihm aber nicht gelang. Er öffnete dann die Türe des an den Kühlschrank angebauten Kastens, erbrach die Lattenwand zwischen fragl. Kasten und dem Kühlschrank und nahm eine in letzterem befindliche Casette an sich. Er tat dieselbe in eine dort befindliche Handtasche und begab sich damit auf eine Wiese hinter dem Hotel du Lac. Dort sprengte er die Casette und nahm den Inhalt derselben bestehend in frs. 1345 in Geld und Noten sowie 2 Lebensversicherungspolicen an sich. Darauf kehrte Stoffel zum Haus Ponti zurück und stahl ein dort befindliches Velo, Eigentum des Remigio Ponti im Werte von frs. 250.–. Mit dem Velo fuhr er nach Spinas, in der Meinung er könne dort mit dem Velo über den Berg fahren. Als er erfuhr, dass dies nicht möglich sei, derelinquierte er dort das Velo; er warf dort auch die erwähnten Policen weg; er fuhr dann mit der Bahn nach Zürich zurück. Stoffel ist auch in diesem Falle geständig.

Skizze zu Johann Stoffels Einbruch in die Milchhalle St. Moritz-Bad vom 28./29. Mai 1929. Angefertigt von Korporal Vieli.

Tatbestand 5

Im Juni 1929 fuhr Stoffel wieder von Zürich nach Chur, in der Absicht im Hotel Sternen, wo er früher angestellt gewesen war, zu stehlen. Er orientierte sich dort, fand aber, die Gelegenheit sei nicht günstig. Demzufolge begab er sich in das Frauenspital Fontana; dort fragte er einer Frau Strub nach; auch dort handelte es sich für ihn einzig darum, sich zu orientieren, ob er einen Diebstahl ausführen könnte. Sodann begab er sich in das Kreuzspital. Im dortigen Bureau fragte er wieder einer Frau Strub nach, dies war zum gleichen Zweck wie im Frauenspital Fontana. In der folgenden Nacht, vom 19. auf 20. Juni 1929 begab er sich zum Fenster des Bureaus des Kreuzspitals, stellte dort eine Kiste an die Mauer und auf die Kiste eine Leiter und gelangte so durch ein Fenster in das Bureau. In demselben befand sich ein Geldschrank. Stoffel suchte den Schlüssel desselben; zu diesem Zwecke begab er sich in das an das Bureau anstossende Schlafzimmer. In diesem schlief eine Schwester. Stoffel suchte dort den Schlüssel, fand ihn aber nicht. Er nahm dann ein Kleidungsstück der Schwester und legte es über das Schlüsselloch der Tür zwischen Schlafzimmer und Bureau. Im Bureau öffnete er sodann die Schubladen und stahl daraus: an Geld frs. 484, an Briefmarken frs. 10.– endlich einige Medaillen von geringerem Wert. Total ca. fr. 500.–. Er entfernte sich dann durch das gleiche Fenster. Von dort begab er sich in das Welschdörfli, stahl dort aus einem Unterhaus ein dem Chr. Casanova gehörendes Velo im Werte von frs. 150.– und fuhr mit demselben nach Sargans und von dort mit der Bahn nach Zürich. Stoffel ist auch mit Bezug auf diesen Fall geständig.

Tatbestand 6

Im Juni 1929 begab sich Stoffel von Zürich nach Vals, anscheinend wieder um zu stehlen oder wenigstens auszukundschaften, ob er dort stehlen könnte. Er wurde dort nachts beim Haus des Präs. Schmid gesehen. Er stellte sich dort bei der Armenpflege vor und erhielt eine Unterstützung.

Tatbestand 7

Am 6. Juli 1929 kam Stoffel wieder von Zürich ins Lugnez. In der Nacht vom 6. auf den 7. Juli 1929 wurde dem Arbeiter Antonio Sassi in Peiden aus seiner Schlafkammer ein Geldbetrag von frs. 250.– gestohlen. Damals befanden sich auch Vaganten in dortiger Gegend. Es wurde nachgeforscht, ob dieselben als Täter in Betracht kommen könnten. Diese Nachforschungen ergaben ein negatives Resultat. Als verdächtig erschien Stoffel. Er leugnet die Tat.

Tatbestand 8

Am 7. Juli 1929 kam Stoffel nach Vals zum Hotel Adula. Er wartete Nachts, bis die Lichter im Hotel gelöscht waren. Dann stieg er durch das nur mit der Jalousie verschlossene Fenster in das Haus ein, gelang in das Bureau, öffnete mit einem Stechbeutel das Pult und stahl das darin befindliche Geld, Briefmarken und einen Photographieapparat. Der Damnificat Ph. Schnyder deponierte bestimmt, es seien ihm damals gestohlen worden an Geld und Marken frs. 850–900. Nach längerem Bestreiten des Betrages gibt Stoffel jetzt zu, es könnten ca. 900 frs. gewesen sein.