Konstruktive Rhetorik in Seminar, Hörsaal und online

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Die Haltung zeigt die Beziehung zum Raum

Wer vor Publikum reden will, muss den Raum einnehmen. Ob dies gelingt, zeigt die Körpersprache, und ein wichtiges Signal gibt dabei die Körperhaltung.

Zwei Skizzen illustrieren dies: Im linken Bild demonstriert die Rednerin Reserviertheit, Inaktivität. Mit der nach vorne gebeugten Haltung scheint sie in ihrem Anzug zu hängen. Die Füße, die eng beieinanderstehen, bieten keinen sicheren Halt. Auf dem Bild rechts hat sie durch einen sichereren Stand und das Heben der Arme bereits eine andere Präsenz. Sie atmet in die Körpermitte (s. Kapitel 7) und ist sich des gesamten Raums bewusst, in dem sie sich befindet. Sie signalisiert allen, die vor ihr sitzen, Interesse.


7 | Passive Haltung: Füße nahe beieinander, Oberkörper ohne Spannung.


8 | Aktive Haltung: Füße in etwa schulterbreitem Abstand, Oberkörper aufgerichtet.

Die Haltung ist nicht nur dazu da, Selbstvertrauen zu signalisieren. Sie hilft auch dabei, die Distanz zu überbrücken: Indem das Publikum einen Menschen sieht, der Präsenz ausstrahlt, konzentriert es sich besser und ist aufmerksamer trotz der Entfernung und der Ablenkungen durch Sitznachbarn und Nebengeräusche.

Kontakt aufnehmen, Kontakt halten

Natürlich hat man das Publikum längst wahrgenommen. Aber kurz vor dem Beginn der Rede braucht es ein paar Sekunden, in denen bewusst Kontakt mit aufgenommen wird – der Kontakt, der durch den Vortrag hindurch gehalten wird. Es ist notwendig, sich dafür die Extrazeit zu nehmen, für Blickkontakt, ohne dabei gleichzeitig einen sicheren Stand zu suchen, ohne noch mit der technischen Einrichtung zu kämpfen.

Dies ist die Chance, Kontakt anzuknüpfen, der während der ganzen Zeit nicht abbrechen wird.

Keine Angst vor Banalitäten: Wenn es im Raum plötzlich zu dunkel ist oder zu kalt oder zu stickig, wenn eine Unruhe entsteht, wenn nicht klar ist, ob alles bis in die hinterste Reihe zu verstehen ist, braucht dies den Kontakt mit dem Publikum nicht zu unterbrechen. Es kann angesprochen werden – ruhig und selbstverständlich. Für viele solche Dinge sind die Leute im Saal kompetenter und können helfen. Und das zu thematisieren, kann als Chance genutzt werden, das gemeinsame Interesse zu betonen – am besten natürlich dann, wenn sich das betreffende Problem auch gemeinsam lösen lässt.

Unmittelbar vor der Rede

»Nähere dich deiner Redeposition bewusst. Erkenne, wie sich dein Spielraum vergrößert.

»Nimm den Raum und dein Publikum aus der Position des Redners wahr.

Zeige durch deine Haltung, dass du den gesamten Raum einnimmst.

Während der Rede

»Wechsle gelegentlich die Perspektive: Was sehen die anderen? Was können sie zum Vortrag beitragen, weil sie in eine andere Richtung blicken?

»Teile deine Raumwahrnehmung: Thematisiere Ungewöhnliches, das dich stört oder belustigt!

Lass dir helfen, wenn das Licht oder die Akustik verändert werden müssen!

Nach der Rede

»Verlasse deine Redeposition und akzeptiere, dass „dein“ Raum wieder kleiner wird und nicht mehr alle Blicke auf dir ruhen.

Ein Beispiel: Orientierung durch Raumnutzung

Der Physiker Harald Lesch nutzt den Raum zur Unterstützung seiner Didaktik. Zu Beginn seines Vortrags Wir irren uns empor. Oder: Warum ist die Physik so erfolgreich? erkundet er zusammen mit den Zuhörern den Raum. Er erklärt, dass er für die verschiedenen thematischen Aussagen auch verschiedene Positionen im Raum einnimmt. Mit einem Schritt vom Podium herunter auf die erste Sitzreihe zu sagt er: „Jedes Mal, wenn ich hier vorne bin, werde ich Ihnen was erzählen darüber, warum die Physik so erfolgreich ist, also welches Verfahren wir benutzen, welche Annahmen wir machen, wenn wir Physik betreiben.“

Zurück auf dem Podium stellt er sich zuerst in die entfernte linke Ecke und erklärt: „Wenn ich hier bin, auf dieser Seite, dann geht es ums Heute.“ Dann schreitet er der Wandtafel entlang auf die rechte Seite. Er will damit die historische Zeit visualisieren: „Dieser ganze Weg auf die andere Seite wird dann einen Zeitpfeil darstellen.“

Diese Ankündigung wird den Zuhörerinnen und Zuhörern helfen, das Gehörte besser einzuordnen. Indem Lesch mit ihnen gemeinsam die verschiedenen Positionen erkundet, bewegen sich alle: Sie richten ihren Blick in alle Richtungen und durchmessen den Raum. Ein Hörsaal, in dem sonst oft nur ein Mensch und seine Wandtafel zu sehen sind, wird dreidimensional. Der Dozent hat also den Raum eingenommen und strukturiert und gleichzeitig die Zuhörenden miteingeschlossen.51

Raumnutzung im großen Saal

Wenn man Vorträge oder gar Seminare in großen Hörsälen halten muss, ist es schwierig, mit 100, 200 oder mehr Menschen so Kontakt aufzunehmen, dass auch etwas zurückkommt. Man merkt das spätestens bei einer Frage ans Publikum, wenn dann die Mehrzahl der Leute passiv bleibt.

Eindeutige Signale geben

Oft herrscht am Anfang der Veranstaltung noch höfliche Aufmerksamkeit. Dann verliert man langsam den Kontakt zu den Leuten in den hinteren Reihen. Am Schluss sind nur noch zwei, drei Getreue in unmittelbarer Nähe, die zuhören oder auch mal aus Erbarmen eine Antwort geben. Dennoch gibt es immer wieder Beispiele von DozentInnen, denen es gelingt, auch Großveranstaltungen dialogisch zu gestalten. Was tun sie? – Sie bemühen sich um Eindeutigkeit. Weil sie den Raum vorher erkundet haben, wissen sie, dass vieles im Raum die Aufmerksamkeit ablenken kann. Wer seine Redeposition dezidiert, vielleicht sogar demonstrativ einnimmt, hilft, die Konzentration auf sich zu lenken. Auch dass der Vortrag dialogisch sein wird, muss von Anfang an deutlich werden. Wer will, dass das Publikum mitmacht, muss dies zu Beginn signalisieren, nicht erst nach zehn Minuten (s. Kapitel 14). Während der Rede ist es wichtig, für Feedback zu sorgen, also dafür, dass regelmäßig etwas zurückkommt, und zwar auf allen Ebenen. Werkzeuge hierfür sind beispielsweise Fragen, Humor oder Gruppenaktivitäten. Dabei ist es wichtig, den Dialog ständig mit dem gesamten Publikum zu führen. Auch wer zwischendurch mit einer Einzelperson interagiert (z.B. nach einem Zwischenruf), muss erkennen lassen, dass dies für alle eine Bedeutung hat. Er geht eher einen Schritt zurück, um auch die anderen körpersprachlich einzubeziehen, und wiederholt die Frage so, dass der Anschluss an den eigenen Vortrag deutlich wird (oder verweist auf später).

Blickkontakt im großen Saal

Da es in großen Sälen nicht möglich ist, auf gewohnte Weise Blickkontakt zu halten, hilft es, das Auditorium in mehrere Sektoren aufzuteilen. In vielen Fällen reichen drei Sektoren aus, was etwa einem Winkel von je 60 Grad entspricht.52

Den Winkel abzuschätzen, ist relativ einfach: Man setzt sich ins Publikum, sieht einem durchschnittlichen Redner zu, der den Blick immer wieder von der linken zur rechten Ecke des Publikums bewegt, und notiert, ab wann man sich mitgemeint fühlt und ab wann nicht mehr. Dies ergibt die Eckpunkte des Blickbereichs. Allzu schematisch dürfen diese Hinweise aber nicht verstanden werden; das Wichtigste ist, dass man keinen Teil des Publikums systematisch vernachlässigt – zum Beispiel die, die sehr weit hinten (oder in traditionellen Hörsälen in den obersten Reihen) sitzen.

Worte verhallen lassen

Oft ist ein Hauptgrund für Verständnisprobleme die Akustik: In großen Sälen ist in der Regel ein Nachhall zu hören, der nur erträglich wird, wenn alle Sitzplätze belegt sind. In Kirchen und anderen repräsentativen Gebäuden ist die Decke so hoch, dass der Hall auch bei Vollbesetzung nicht verschwindet. Dies muss beim Sprechen berücksichtigt werden; die Stimme muss hin und wieder verhallen können. – Die Akustik ist auch ein Grund dafür, dass in alten Kirchen und Versammlungsräumen ein besonderer Ort für die Rednerin oder den Redner geschaffen wurde: Kanzel, Podest, Minbar, Podium, Bütt usw. Wer eines dieser Bauwerke bestieg, war nicht nur in seiner Funktion erhöht, sondern einfach auch besser zu sehen und zu hören. Noch heute ist es für Geistliche eine Überlegung wert, ob sie auf gleicher Ebene wie die Gemeinde reden sollen, um damit Ebenbürtigkeit zu signalisieren, oder ob sie sich auf die Kanzel stellen sollen, um allen Anwesenden visuell und akustisch näher zu sein.

Diese architektonischen Traditionen haben aber meist den Nachteil, dass Beiträge aus dem Publikum nicht vorgesehen sind. Zwischenfragen oder Erfahrungsberichte aus der Gemeinde von den Bänken aus werden von den anderen kaum verstanden. Wenn ein Gemeindeglied gehört werden will, muss es aufstehen, sich eventuell sogar woanders hinstellen, und meistens muss zusätzlich eine kurze Zusammenfassung von der Kanzel herab das Verständnis sichern.

 

Tipps für Reden in großen Sälen

»Achte auf die Akustik: Gibt es einen Nachhall, der mehr Pausen erfordert? Regelt jemand die Lautsprecher?

»Bemühe dich um Eindeutigkeit in der Körpersprache

»Nimm nur eine Handlung auf einmal vor (Umgang mit Geräten, Manuskript, Bewegung im Raum etc.)

»Teile das Publikum in Sektoren auf, um die Blickrichtung zu wechseln

Beantwortung von Fragen

»Öffne das Gespräch für alle: Gehe eher einen Schritt zurück als auf den Fragenden zu.

»Wiederhole die Frage eines Einzelnen für alle vernehmbar.

»Stelle inhaltlichen Anschluss an den Vortrag her.

»Beantworte die Frage so, dass alle die Antwort verstehen.

Raumnutzung im Freien

Es ist noch nicht so lange her, dass Außenveranstaltungen ohne Mikrofon und Lautsprecher die Regel waren. Abraham Lincoln hielt seinen berühmten Appell an die Demokratie auf dem Schlachtfeld von Gettysburg vor 15.000 Zuhörern. Er war das gewohnt und wird laut und deutlich geredet haben. Nur darf man nicht annehmen, dass die Mehrheit etwas mitbekommen hat. Nach zwei Minuten war die Ansprache ohnehin vorbei, und ohne die Mitarbeit der Presse wäre die Kunde von diesen unsterblichen Worten wohl nie in die Welt gelangt.53

Das Publikum gruppieren

Dennoch gibt es Möglichkeiten, die Rede im Freien zu optimieren. Dies beginnt bei der „Choreografie“: Wenn sich Menschen im Freien treffen, stellen sie sich selten so auf, wie man es sich von einem idealen Publikum wünscht. Der Redner muss sich einen Platz schaffen, der Blickkontakt und Hörverständnis garantiert. Und die Menschen müssen als Publikum gruppiert werden, sei es, indem man ihnen Sitzplätze anbietet, sei es, indem man sie energisch an den gewünschten Ort komplimentiert.

Auf die Akustik achten

Die akustischen Verhältnisse sind im Freien grundlegend anders als in geschlossenen Räumen. Die Worte werden nicht von den Wänden zurückgeworfen, sondern breiten sich ungehindert aus, so dass ihre Lautstärke mit dem Quadrat der Entfernung abnimmt. Deshalb ist eine Verstärkeranlage sogar im kleinen Rahmen nützlich. Andere Möglichkeiten bestehen darin, sich wenigstens so zu stellen, dass der Schall nicht in alle Richtungen entschwindet. Bei einer Ansprache in einem Garten oder auf einer Terrasse z.B. wird man sich mit dem Rücken zur Hauswand stellen, während die Zuhörerinnen und Zuhörer den offenen Raum hinter sich haben.

Im Freien reden

»Das Publikum so platzieren, dass es konzentriert zuhören kann.

»Verstärkung durch Lautsprecher kann auch im kleinen Rahmen notwendig sein.

»Störgeräusche (z.B. laufende Apparate) unterbinden. Wenn das nicht möglich ist (z.B. Verkehrslärm), Sprechrichtung anpassen.

4Der Online-Vortrag ist eine Einladung

Das Publikum des Online-Vortrags ist weit verstreut. Der eine sitzt zu Hause, die andere in der freien Natur. Und die Rednerin muss für sich und die Kamera einen Platz suchen, der sich für den Redezweck und das Thema eignet: im Büro, in einem Seminarraum, im Freien … Um das in der Welt verteilte Publikum zu erreichen, müssen zwei Räume – der eigene und der Raum der angesprochenen Person – verbunden werden. Es muss das Gefühl entstehen, dass man sich trotz der örtlichen Trennung beieinander fühlt. Da man die Umgebung der Zuhörenden nicht kennt, klappt das nur, indem man das Publikum in seinen Raum einlädt.

Aber viele Menschen, die ihr Fachwissen online präsentieren, verpassen diese Chance. Sie stellen sich und ihre Umgebung nur zweidimensional dar. Sie setzen sich vor eine flache Wand und werden zu einer Pappfigur in einer Tapetenwelt. Da ist keine Tiefe, kein Platz für Bewegung. In eine solche Kulisse kann man nicht einladen, weil da kein Raum ist.

Willkommen in meiner Welt

Die Wahl des Raumes gehört ebenso zur Planung eines Vortrags wie die Wahl des Themas. Wer sich an Skype oder anderen Formen der Bildtelefonie gewöhnt hat, weiß längst, dass Online-Kommunikation einen großen Bewegungsspielraum bietet. Man braucht nicht starr ins Smartphone oder Laptop zu blicken, sondern kann auch die ganze Umgebung kommunizieren: Man kann den Gesprächspartnern die Wohnung zeigen, das Gespräch ins Freie verlagern usw. Mit anderen Worten: Der eigene Raum nimmt Formen an. Er wird für das Publikum begehbar. Deshalb muss er beim Vortrag zuerst einmal gewählt, dann gestaltet und schließlich auch vorgestellt werden.

In den eigenen Raum einladen: Das gehört dazu

»Die Umgebung wählen.

»Den Raum wählen

»Den Raum benennen

»Umgebung und Thematik abgleichen

»Den Raum dreidimensional darstellen

»Den Raum mit Gesprächspartnern beleben

»Akustik überprüfen

»Bildausschnitt wählen

»Licht setzen

»Perspektive überprüfen

»Durch Bewegung den Raum nutzen.

»Requisiten einsetzen.

»Orte und Gegenstände einbeziehen und erklären.

»Nebengeräusche thematisieren.

»Zwischenfälle positiv nutzen.

Den Raum wählen

Viele Vortragende ignorieren den Raum. Das demonstrieren unzählige Videos im Netz: Zu sehen sind ein Gesicht und ein Hals; den Rest des Bildes füllt Billy von Ikea aus. Oder man gewahrt einen adrett gekleideten Oberkörper hinter einem Schreibtisch, seitlich mit einer Zimmerpflanze dekoriert, im Hintergrund der gleiche notorische Billy. Aber der Raum verbindet sich mit der Botschaft. Er kann sie verstärken oder auch stören. Und alles, was man darin unternimmt, wie man sich darin bewegt, ist Interaktion mit dem Publikum in diesem Raum. Gut genutzt wird er für das Publikum erfassbar und begehbar.

Wer die Möglichkeit dazu hat, wird einen Raum wählen, der als Raum erkennbar ist und die Botschaft unterstützt. Zumindest aber darf das Publikum nicht auf der Frage „Wo redest du?“ sitzen bleiben. Deshalb:

»Wähle einen Raum mit optischer Tiefe (also nicht nur eine weiße Wand mit Zimmerpflanze).

»Wähle einen Raum, der mit deiner Botschaft (deinem Produkt, deinem Beruf, deinem Thema usw.) zu tun hat.

»Wähle einen Raum, in dem du dich wohlfühlst, so dass sich deine Körperhaltung und deine Gestik mit Leichtigkeit entwickeln.

Wo redest du? – Dem Raum einen Namen geben

Die Kommunikation funktioniert besser, wenn der Raum erkennbar ist – als Büro, als Wohnzimmer, als Terrasse usw. Das lässt sich bei Bedarf ansprechen: „Ich musste dem Rest der Familie Platz machen und spreche darum aus der Küche.“ Wenn das abgehakt ist, fällt die Konzentration auf den Inhalt leichter.

Abzuraten ist von einem verschwommenen Hintergrund. Es ist unterdessen möglich, mit einfachen Möglichkeiten (z.B. in Zoom) den Hintergrund unscharf zu belassen. Ein Raum ist nur angedeutet, aber man erkennt keine Details. Zwar zwingt diese Lösung das Publikum, sich auf die Person und den Inhalt zu konzentrieren. Aber die Atmosphäre wird auch steril, die Botschaft lautet: „Ich will nichts von mir preisgeben.“ – Empfehlenswert ist diese Gestaltung nur in einem Fall: wenn in einem Interview mit einem Split-Screen beide Gesprächspartner gleichzeitig gezeigt werden. Die befragte Person ist in ihrem normalen Umfeld zu sehen, die Interviewerin vor einem verschwommenen Hintergrund. Das ist zum Beispiel die Praxis bei den Interviews von WELT.de. Das lenkt die Aufmerksamkeit gezielter auf die Person, die im Zentrum stehen sollte.

Umgebung und Thematik abgleichen

Natürlich ist es ein großer Unterschied, ob man über eine Villa mit 18 Zimmern und einem riesigen Balkon verfügt oder sich eine Einzimmerwohnung mit zwei Mitbewohnern teilt. Aber selbst wenn man sich zur Aufnahme in die (aufgeräumte) Küche verziehen muss, ist das immer noch besser, als sich mit einem Greenscreen vor einen virtuellen Südseestrand zu beamen. Wer die Möglichkeit hat, wird einen Raum wählen, der nicht zu viele Ablenkungen bietet und dessen Einrichtung zur Thematik des Vortrags passt. In anderen Fällen hilft es, die Örtlichkeit kurz anzusprechen und damit allfälligen Irritationen vorzubeugen.

Eine verbale Bezugnahme auf den Raum lässt ihn oft präsenter werden als viele visuelle Bemühungen. „Ich bin der Held der Steine in Frankfurt am Main im Herzen von Europa in meinem wunderbaren kleinen Lädchen an einem phantastischen Tag,“ sagt zum Beispiel Thomas Panke auf seinem YouTube-Kanal.54 Das ist zwar ein wiederkehrender Gag, aber es tut’s schon (und lässt keinen Zweifel darüber, dass der Held seine Steine auch verkaufen will).

Der Raum kann auch dynamisch genutzt werden (vgl. auch Kapitel 16). Rachel Stewart, die ihrem englischsprachigen Publikum die exotischsten Dinge aus Deutschland vorstellt, wählt für jedes neue Thema einen neuen Ort. Sie präsentiert etwa ein Gemüse, das es nur Deutschland und Kaschmir gibt: den Kohlrabi. Dafür geht sie zum Wochenmarkt. Da stellt sie sich unter ihren Regenschirm, greift nach einer der hellgrünen Knollen und wendet sich dann mit einer Frage an einen Passanten.55 Der Stil ist typisch für Videos aus der Blogger- und Influencer-Szene: Man präsentiert nicht nur seine Themen, sondern entdeckt zusammen mit dem Publikum auch laufend Neues im Raum. Und weil der sich ständig verändern kann, ist es verlockend, mitzugehen und die gesamte Präsentation zu erleben.

Instruktiv ist auch der YouTube-Kanal der neuseeländischen Physikerin Tibees, die aus Australien in einfacher Form wissenschaftliche Grundlagen vermittelt. Sie stellt sich oft ins Freie, die Kamera auf einem Stativ, das weit genug entfernt ist, um ihren Körper zu zwei Dritteln („amerikanisch“) zu erfassen und dabei viel Raum für die Umgebung zu lassen. Man sieht die Hügel und Gewässer rund um Canberra, ohne davon abgelenkt zu werden. Speziell ist ihr Kanal, weil man Innen- und Außenaufnahmen vergleichen kann. Bei den Innenaufnahmen sind die Kulissen aufs Wesentlichste reduziert, die Beleuchtung ist sorgfältig überprüft. Es gibt kein störendes Element, alles ist auf die Präsentation ausgerichtet. Die Außenaufnahmen dagegen erfassen eine Landschaft, einen Wald, einen Garten usw., ohne dass man dadurch abgelenkt würde. Denn die Perspektive ist so gewählt, dass keine auffälligen Einzelheiten Fragen aufwerfen.56

Die Umgebung gestalten

Sobald man sich entschieden hat, in einem Raum zu präsentieren, muss man sich auch der Tatsache stellen, dass dieser Raum etwas ausdrückt. Er zeigt Dinge von mir oder von meinem Büro, die meinen Vortrag begleiten. Es ist durchaus in Ordnung, wenn an der Wand hinter mir die Familienbilder aus den letzten Jahrzehnten hängen. Aber sinnvoll ist es nur so lange, als die Familie auch mit dem Vortrag zu tun hat – als Thema oder als Teil der Crew. In allen anderen Fällen wirkt es ebenso ablenkend wie das Poster vom Hamburger Fischmarkt oder die Aussicht auf die sich drehende Waschmaschine. Und auch für Einzelheiten im Bild gilt die Regel: Was irritieren könnte und nicht entfernt werden kann, soll angesprochen werden.