Radetzkymarsch

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Radetzkymarsch
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

»Da schau her!« flötete die Stimme Leutnant Kindermanns. »Der Trotta hat sich in den Alten verschaut!«

Carl Joseph lächelte Kindermann zu. Der Fähnrich Bärenstein hatte längst eine Partie Domino begonnen und war im Begriff zu verlieren. Er hielt es für eine Anstandspflicht zu verlieren, wenn er mit Aktiven spielte. Im Zivil gewann er immer. Er war sogar unter Rechtsanwälten ein gefürchteter Spieler. Wenn er aber zu den jährlichen Übungen einrückte, schaltete er seine Überlegung aus und bemühte sich, töricht zu werden. »Der verliert unaufhörlich«, sagte Kindermann zu Trotta. Der Leutnant Kindermann war überzeugt, daß die »Zivilisten« minderwertige Wesen waren. Nicht einmal im Domino konnten sie gewinnen.

Der Oberst saß immer noch in seiner Ecke mit dem Rittmeister Taittinger. Einige Herren wandelten gelangweilt zwischen den Tischchen. Sie wagten nicht, das Kasino zu verlassen, solange der Oberst spielte. Die sanfte Pendeluhr weinte jede Viertelstunde sehr deutlich und langsam, ihre wehmütige Melodie unterbrach das Klappern der Dominosteine und der Schachfiguren. Manchmal schlug eine der Ordonnanzen die Hacken zusammen, lief in die Küche und kehrte mit einem Gläschen Cognac auf einer lächerlich großen Platte wieder. Manchmal lachte einer schallend auf, und sah man in die Richtung, aus der das Gelächter kam, so erblickte man vier zusammengesteckte Köpfe und begriff, daß es sich um Witze handelte. Diese Witze! Diese Anekdoten, bei denen alle sofort erkannten, ob man aus Gefälligkeit mitlachte oder aus Verständnis! Sie schieden die Heimischen von den Fremden. Wer sie nicht verstand, gehörte nicht zu den Bodenständigen. Nein, nicht zu ihnen gehörte Carl Joseph!

Er war im Begriff, eine neue Partie zu dritt vorzuschlagen, als die Tür geöffnet wurde und die Ordonnanz mit einem auffällig lauten Knall der Stiefelhacken salutierte. Es wurde im Augenblick still. Der Oberst Kovacs sprang von seinem Sitz auf und sah nach der Tür. Kein anderer war eingetreten als der Regimentsarzt Demant. Er selbst erschrak über die Aufregung, die er verursacht hatte. Er blieb an der Tür stehn und lächelte. Die Ordonnanz an seiner Seite stand immer noch stramm und störte ihn sichtlich. Er winkte mit der Hand. Aber der Bursche merkte es nicht. Die starken Brillengläser des Doktors waren leicht überhaucht von dem herbstlichen Abendnebel draußen. Er war gewohnt, die Brille abzunehmen, um sie zu putzen, wenn er aus der kalten Luft in die Wärme trat. Hier aber wagte er es nicht. Es dauerte eine Weile, ehe er die Schwelle verließ. »Ah, schau her, da ist ja der Doktor!« rief der Oberst. Er schrie aus Leibeskräften, als gälte es, sich im Getümmel eines Volksfestes verständlich zu machen. Er glaubte, der Gute, daß Kurzsichtige auch taub seien und daß ihre Brillen klarer würden, wenn ihre Ohren besser hörten. Die Stimme des Obersten bahnte sich eine Gasse. Die Offiziere traten zurück. Die wenigen, die noch an den Tischen gesessen hatten, erhoben sich. Der Regimentsarzt setzte vorsichtig einen Fuß vor den andern, als ginge er auf Eis. Seine Brillengläser schienen allmählich klarer zu werden. Grüße kamen ihm von allen Seiten entgegen. Nicht ohne Mühe erkannte er die Herren wieder. Er beugte sich vor, um in den Gesichtern zu lesen, wie man in Büchern studiert. Vor dem Obersten Kovacs blieb er endlich stehen, mit gereckter Brust. Es sah stark übertrieben aus, wie er so den ewig vorgeneigten Kopf am dünnen Hals zurückwarf und seine abschüssigen, schmalen Schultern mit einem Ruck zu heben suchte. Man hatte ihn, während seines langen Krankheitsurlaubs, beinahe vergessen; ihn und sein unmilitärisches Wesen. Man betrachtete ihn jetzt nicht ohne Überraschung. Der Oberst beeilte sich, dem vorschriftsmäßigen Ritus der Begrüßung ein Ende zu machen. Er schrie, daß die Gläser zitterten: »Gut schaut er aus, der Doktor!«, als wollte er es der ganzen Armee mitteilen. Er schlug seine Hand auf die Schulter Demants, wie um sie wieder in ihre natürliche Lage zu bringen. Sein Herz war allerdings dem Regimentsarzt zugetan. Aber der Kerl war unmilitärisch, Sapperlot, Donnerwetter! Wenn er nur ein bißchen militärischer wäre, brauchte man sich nicht immer so anzustrengen, um ihm gut zu sein. Man hätte auch, zum Teufel, einen anderen Doktor schicken können, grad in sein Regiment! Und diese ewigen Schlachten, die das Gemüt des Obersten seinem soldatischen Geschmack zu liefern hatte, wegen dieses verfluchten, netten Kerls, konnten schon einen alten Soldaten aufreiben. An diesem Doktor gehe ich noch zugrunde! dachte der Oberst, wenn er den Regimentsarzt zu Pferde sah. Und eines Tages hatte er ihn gebeten, lieber nicht durch die Stadt zu reiten.

Man muß ihm was Nettes sagen, dachte er aufgeregt. Das Schnitzel war heute ausgezeichnet! fiel ihm in der Eile ein. Und er sagte es. Der Doktor lächelte. Er lächelt ganz zivilistisch, der Kerl! dachte der Oberst. Und plötzlich entsann er sich, daß da noch einer war, der den Doktor nicht kannte. Der Trotta natürlich! Er war eingerückt, als der Doktor in Urlaub gegangen war. Der Oberst lärmte: »Unser Jüngster, der Trotta! Ihr kennt euch noch nicht!« Und Carl Joseph trat vor den Regimentsarzt.

»Enkel des Helden von Solferino?« fragte Doktor Demant.

Man hätte ihm diese genaue Kenntnis der militärischen Geschichte nicht zugetraut.

»Alles weiß er, unser Doktor!« rief der Oberst. »Er ist ein Bücherwurm!«

Und zum erstenmal in seinem Leben gefiel ihm das verdächtige Wort Bücherwurm so gut, daß er noch einmal wiederholte: »Ein Bücherwurm!« in dem liebkosenden Ton, in dem er sonst nur zu sagen pflegte: »Ein Ulane!«

Man setzte sich wieder, und der Abend nahm den üblichen Verlauf. »Ihr Großvater«, sagte der Regimentsarzt, »war einer der merkwürdigsten Menschen der Armee. Haben Sie ihn noch gekannt?« »Ich habe ihn nicht mehr gekannt«, antwortete Carl Joseph. »Sein Bild hängt bei uns zu Hause im Herrenzimmer. Wie ich klein war, hab' ich es oft betrachtet. Und sein Diener, der Jacques, ist noch bei uns.« »Was ist das für ein Bild?« fragte der Regimentsarzt. »Ein Jugendfreund hat es gemalt!« sagte Carl Joseph. »Es ist ein merkwürdiges Bild. Es hängt ziemlich hoch. Als ich klein war, mußte ich auf einen Stuhl steigen. Da hab' ich es betrachtet.«

Sie waren ein paar Augenblicke still. Dann sagte der Doktor: »Mein Großvater war ein Schankwirt; ein jüdischer Schankwirt in Galizien. Galizien, kennen Sie das?« (Ein Jude war der Doktor Demant. Alle Anekdoten enthielten jüdische Regimentsärzte. Zwei Juden hatte es auch in der Kadettenschule gegeben. Sie waren dann zur Infanterie gekommen.)

»Zu Resi, zu Tante Resi!« rief plötzlich jemand.

Und alle wiederholten: »Zu Resi. Man geht zur Resi!«

»Zur Tante Resi!«

Nichts hätte Carl Joseph stärker erschrecken können als dieser Ruf. Seit Wochen erwartete er ihn voller Angst. Vom letzten Besuch im Bordell der Frau Horwath behielt er noch alles in deutlicher Erinnerung alles! den Sekt, der aus Kampfer und Limonade bestand, den weichen, fleischigen Teig der Mädchen, das schmetternde Rot und das irrsinnige Gelb der Tapeten, im Korridor den Geruch von Katzen, Mäusen und Maiglöckchen und das Sodbrennen zwölf Stunden später. Er war kaum eine Woche eingerückt, und es war sein erster Besuch in einem Bordell gewesen. »Liebesmanöver!« sagte Taittinger. Er war der Anführer. Es gehörte zu den Obliegenheiten eines Offiziers, der die Messe seit undenklichen Zeiten verwaltete. Bleich und hager, den Korb des Säbels im Arm, mit langen, dünnen und sanft klirrenden Schritten ging er im Salon der Frau Horwath von einem Tisch zum andern, ein schleichender Mahner zu saurer Freude. Kindermann war der Ohnmacht nahe, wenn er nackte Frauen roch, das weibliche Geschlecht machte ihm Übelkeiten. Der Major Prohaska stand in der Toilette, ehrlich bemüht, seinen dicken, kurzen Finger in den Gaumen zu stecken. Die seidenen Röcke der Frau Resi Horwath raschelten gleichzeitig in allen Winkeln des Hauses. Ihre großen, schwarzen Augenbälle rollten ohne Richtung und Ziel in ihrem breiten, mehligen Antlitz herum, weiß und groß wie Klaviertasten schimmerte in ihrem breiten Mund das falsche Gebiß. Trautmannsdorff verfolgte von seiner Ecke aus alle ihre Bewegungen mit winzigen, flinken, grünlichen Blicken. Er stand schließlich auf und steckte eine Hand in den Busen der Frau Horwath. Sie verlor sich drinnen wie eine weiße Maus in weißen Bergen. Und Pollak, der Klavierspieler, saß mit gebeugtem Rücken, Sklave der Musik, am schwärzlich spiegelnden Flügel, und an seinen hämmernden Händen schepperten die harten Manschetten, wie heisere Tschinellen begleiteten sie die blechernen Klänge.

Zu Tante Resi! Man ging zu Tante Resi. Der Oberst machte unten kehrt, er sagte: »Viel Vergnügen, meine Herren!«, und auf der stillen Straße riefen zwanzig Stimmen: »Respekt, Herr Oberst!«, und vierzig Sporen klirrten aneinander. Der Regimentsarzt Doktor Max Demant machte einen schüchternen Versuch, sich ebenfalls zu empfehlen. »Müssen Sie mit?« fragte er den Leutnant Trotta leise. »Es wird wohl so sein!« flüsterte Carl Joseph. Und der Regimentsarzt ging wortlos mit. Sie waren die letzten in der unordentlichen Reihe der Offiziere, die mit Gerassel durch die stillen, mondbelichteten Straßen der kleinen Stadt gingen. Sie sprachen nicht miteinander. Beide fühlten, daß sie die geflüsterte Frage und die geflüsterte Antwort verband, da war nichts mehr zu machen. Sie waren beide vom ganzen Regiment geschieden. Und sie kannten sich kaum eine halbe Stunde.

Plötzlich, er wußte nicht, warum, sagte Carl Joseph: »Ich hab' eine Frau namens Kathi geliebt. Sie ist gestorben!«

Der Regimentsarzt blieb stehen und wandte sich ganz dem Leutnant zu. »Sie werden noch andere Frauen lieben!« sagte er.

Und sie gingen weiter.

Man hörte vom fernen Bahnhof her späte Züge pfeifen, und der Regimentsarzt sagte:

 

»Ich möchte wegfahren, weit wegfahren!«

Nun standen sie vor Tante Resis blauer Laterne. Rittmeister Taittinger klopfte an das verschlossene Tor. Jemand öffnete. Drinnen begann das Klavier sofort zu klimpern: den Radetzkymarsch. Die Offiziere marschierten in den Salon. »Einzeln abfallen!« kommandierte Taittinger. Die nackten Mädchen schwirrten ihnen entgegen, eine emsige Schar von weißen Hennen. »Gott mit euch!« sagte Prohaska. Trautmannsdorff griff diesmal sofort und noch im Stehen in den Busen der Frau Horwath. Er ließ sie vorläufig nicht mehr los. Sie hatte Küche und Keller zu überwachen, sie litt sichtlich unter den Liebkosungen des Oberleutnants, aber die Gastfreundschaft verpflichtete sie zu Opfern. Sie ließ sich verführen. Leutnant Kindermann wurde bleich. Er war weißer als der Puder auf den Schultern der Mädchen. Der Major Prohaska bestellte Sodawasser. Wer ihn näher kannte, wußte vorauszusagen, daß er heute sehr besoffen sein würde. Er bahnte nur dem Alkohol einen Weg mit Wasser, wie man Straßen reinigt vor dem Empfang. »Der Doktor ist mitgekommen?« fragte er laut. »Er muß die Krankheiten an der Quelle studieren!« sagte mit wissenschaftlichem Ernst, bleich und hager wie immer, der Rittmeister Taittinger. Fähnrich Bärensteins Monokel steckte jetzt im Auge eines weißblonden Mädchens. Er saß da, mit kleinen, zwinkernden, schwarzen Äuglein, seine braunen, behaarten Hände krochen wie merkwürdige Tiere über das Fräulein. Allmählich hatten alle ihre Plätze eingenommen. Zwischen dem Doktor und Carl Joseph, auf dem roten Sofa, saßen zwei Frauen, steif, mit angezogenen Knien, eingeschüchtert von den verzweifelten Gesichtern der beiden Männer. Als der Sekt kam – die strenge Hausdame in schwarzem Taft brachte ihn feierlich –, zog Frau Horwath entschlossen die Hand des Oberleutnants aus ihrem Ausschnitt, legte sie ihm auf die schwarze Hose, aus Ordnungsliebe, wie man einen geborgten Gegenstand zurückerstattet, und erhob sich, mächtig und gebieterisch. Sie löschte den Kronleuchter aus. Nur die kleinen Lampen brannten in den Nischen. Im rötlichen Halbdämmer leuchteten die gepuderten, weißen Leiber, blinkten die goldenen Sterne, schimmerten die silbernen Säbel. Ein Paar nach dem anderen erhob sich und verschwand. Prohaska, der schon längst beim Cognac hielt, trat an den Regimentsarzt und sagte: »Ihr braucht sie ja doch nicht, ich nehm' sie mit!« Und er nahm die Frauen und torkelte zwischen beiden der Treppe entgegen.

So waren sie auf einmal allein, Carl Joseph und der Doktor. Der Klavierspieler Pollak streichelte nur so über die Tasten in der gegenüberliegenden Ecke des Salons. Ein sehr zärtlicher Walzer kam zage und dünn durch den Raum gezogen. Sonst war es still und beinahe traulich, und die Standuhr am Kamin tickte. »Ich glaube, wir zwei haben hier nichts zu tun, wie?« fragte der Doktor. Er stand auf, Carl Joseph sah nach der Uhr auf dem Kamin und erhob sich ebenfalls. Er konnte im Dunkel nicht die Stunde erkennen, ging nahe an die Standuhr und trat wieder einen Schritt zurück. In einem bronzenen, von Fliegen betupften Rahmen stand der Allerhöchste Kriegsherr, in Verkleinerung, das bekannte, allgegenwärtige Porträt Seiner Majestät, im blütenweißen Gewande, mit blutroter Schärpe und goldenem Vlies. Es muß etwas geschehen, dachte der Leutnant schnell und kindisch. Es muß etwas geschehen! Er fühlte, daß er bleich geworden war und daß sein Herz klopfte. Er griff nach dem Rahmen, öffnete die papierene, schwarze Rückwand und nahm das Bild heraus. Er faltete es zusammen, zweimal, noch einmal und steckte es in die Tasche. Er wandte sich um. Hinter ihm stand der Regimentsarzt. Er zeigte mit dem Finger auf die Tasche, in der Carl Joseph das kaiserliche Porträt verborgen hatte. Auch der Großvater hat ihn gerettet, dachte Doktor Demant. Carl Joseph wurde rot. »Schweinerei!« sagte er. »Was denken Sie?«

»Nichts«, erwiderte der Doktor. »Ich hab' nur an Ihren Großvater gedacht!«

»Ich bin sein Enkel!« sagte Carl Joseph. »Ich hab' keine Gelegenheit, ihm das Leben zu retten; leider!«

Sie legten vier Silbermünzen auf den Tisch und verließen das Haus der Frau Resi Horwath.

VI

Seit drei Jahren war der Regimentsarzt Max Demant beim Regiment. Er wohnte außerhalb der Stadt, an ihrem Südrande, dort, wo die Landstraße zu den beiden Friedhöfen führte, zum »alten« und zum »neuen«. Beide Friedhofswächter kannten den Doktor gut. Er kam ein paarmal in der Woche die Toten besuchen, die längst verschollenen wie die noch nicht vergessenen Toten. Und er verweilte manchmal lange zwischen ihren Gräbern, und man hörte hier und da seinen Säbel mit zartem Klirren gegen einen Grabstein anschlagen. Er war ohne Zweifel ein sonderbarer Mann; ein guter Arzt, sagte man, und also unter Militärärzten in jeder Beziehung eine Seltenheit. Er mied jeglichen Verkehr. Nur dienstliche Pflicht gebot ihm, hie und da (aber immer noch häufiger, als er gewünscht hätte) unter Kameraden zu erscheinen. Seinem Alter wie seiner Dienstzeit nach hätte er Stabsarzt sein müssen. Niemand wußte, warum er es noch nicht war. Vielleicht wußte er selbst es nicht. »Es gibt Karrieren mit Widerhaken.« Es war ein Wort von Rittmeister Taittinger, der das Regiment auch mit trefflichen Sprüchen versorgte.

»Karriere mit Widerhaken«, dachte der Doktor selber oft. »Leben mit Widerhaken«, sagte er zu Leutnant Trotta. »Ich habe ein Leben mit Widerhaken. Wenn mir das Schicksal günstig gewesen wäre, hätte ich Assistent des großen Wiener Chirurgen und wahrscheinlich Professor werden können.« – In die düstere Enge seiner Kindheit hatte der große Name des Wiener Chirurgen frühen Glanz geschickt. Max Demant war schon als Knabe entschlossen gewesen, später Arzt zu werden. Er stammte aus einem der östlichen Grenzdörfer der Monarchie. Sein Großvater war ein frommer jüdischer Schankwirt gewesen, und sein Vater, nach zwölfjähriger Dienstzeit bei der Landwehr, mittlerer Beamter im Postamt des nächstgelegenen Grenzstädtchens geworden. Er erinnerte sich noch deutlich seines Großvaters. Vor dem großen Torbogen der Grenzschenke saß er zu jeder Stunde des Tages. Sein mächtiger Bart aus gekräuseltem Silber verhüllte seine Brust und reichte bis zu den Knien. Um ihn schwebte der Geruch von Dünger und Milch und Pferden und Heu. Vor seiner Schenke saß er, ein alter König unter den Schankwirten. Wenn die Bauern, vom allwöchentlichen Schweinemarkt heimkehrend, vor der Schenke anhielten, erhob sich der Alte, gewaltig wie ein Berg in menschlicher Gestalt. Da er schon schwerhörig war, mußten die kleinen Bauern ihre Wünsche zu ihm emporschreien, durch die gehöhlten Hände vor den Mündern. Er nickte nur. Er hatte verstanden. Er bewilligte die Wünsche seiner Kundschaft, als wären sie Gnaden und als würden sie ihm nicht in baren, harten Münzen bezahlt. Mit kräftigen Händen spannte er selbst die Pferde aus und führte sie in die Ställe. Und während seine Töchter den Gästen in der breiten, niedrigen Gaststube Branntwein mit getrockneten und gesalzenen Erbsen verabreichten, fütterte er mit begütigendem Zuspruch draußen die Tiere. Am Samstag saß er gebeugt über großen und frommen Büchern. Sein silberner Bart bedeckte die untere Hälfte der schwarzbedruckten Seiten. Wenn er gewußt hätte, daß sein Enkel einmal in der Uniform eines Offiziers und mörderisch bewaffnet durch die Welt spazieren würde, hätte er sein Alter verflucht und die Frucht seiner Lenden. Schon sein Sohn, Doktor Demants Vater, der mittlere Postbeamte, war dem Alten nur ein zärtlich geduldeter Greuel. Die Schenke, von Urvätern her vermacht, mußte den Töchtern und den Schwiegersöhnen überlassen bleiben; während die männlichen Nachkommen bis in die fernste Zukunft Beamte, Gebildete, Angestellte und Dummköpfe zu bleiben bestimmt waren. Bis in die fernste Zukunft: Das paßte allerdings nicht! Der Regimentsarzt hatte keine Kinder. Er wünschte sich auch keine ... Seine Frau nämlich –

An dieser Stelle pflegte Doktor Demant seine Erinnerungen abzubrechen. Er dachte an seine Mutter: Sie lebte in ständiger, hastiger Suche nach irgendwelchen Nebeneinnahmen. Der Vater sitzt nach der Dienstzeit im kleinen Kaffeehaus. Er spielt Tarock und verliert und bleibt die Zeche schuldig. Er wünscht, daß der Sohn vier Mittelschulklassen absolviere und dann Beamter werde; bei der Post natürlich. »Du willst immer hoch hinaus!« sagt er zur Mutter. Er hält, mag sein ziviles Leben noch so unordentlich sein, eine lächerliche Ordnung in alle Requisiten, die er aus der Militärzeit mitgebracht hat. Seine Uniform, die Uniform eines »längerdienenden Rechnungsunteroffiziers«, mit den goldenen Ecken an den Ärmeln, den schwarzen Hosen und dem Infanterietschako, hängt im Schrank wie eine in drei Teile zerlegte und immer noch lebendige Persönlichkeit, mit leuchtenden, jede Woche frisch geputzten Knöpfen. Und der schwarze, gebogene Säbel mit dem gerippten, ebenfalls jede Woche aufgefrischten Griff liegt quer, von zwei Nägeln gehalten, an der Wand über dem nie benutzten Schreibtisch, mit lässig baumelnder, goldgelber Troddel, die an eine knospenhaft geschlossene und etwas verstaubte Sonnenblume erinnert. »Wenn du nicht gekommen wärst«, sagt der Vater zur Mutter, »hätt' ich die Prüfung gemacht und wäre heute Rechnungshauptmann.« An Kaisers Geburtstag zieht der Postoffiziant Demant seine Beamtenuniform an, mit Krappenhut und Degen. An diesem Tage spielt er nicht Tarock. Jedes Jahr an Kaisers Geburtstag nimmt er sich vor, ein neues, schuldenfreies Leben zu beginnen. Er betrinkt sich also. Und er kommt spät in der Nacht heim, zieht in der Küche seinen Degen und kommandiert ein ganzes Regiment. Die Töpfe sind Züge, die Teetassen Mannschaften, die Teller Kompanien. Simon Demant ist ein Oberst, ein Oberst im Dienste Franz Josephs des Ersten. Die Mutter, mit Spitzenhaube und vielgefälteltem Nachtunterrock und flatterndem Jäckchen, steigt aus dem Bett, um den Mann zu beruhigen.

Eines Tages, einen Tag nach Kaisers Geburtstag, trifft den Vater im Bett der Schlag. Er hatte einen freundlichen Tod gehabt und ein glänzendes Leichenbegängnis. Alle Briefträger gingen hinter dem Sarg. Und im getreuen Gedächtnis der Witwe blieb der Tote haften, das Muster eines Ehemannes, gestorben im Dienste des Kaisers und der kaiser-königlichen Post. Die Uniformen, die des Unteroffiziers, die des Postoffizianten Demant, hingen noch nebeneinander im Schrank, von der Witwe mittels Kampfer, Bürste und Sidol in stetem Glanz erhalten. Sie sahen aus wie Mumien, und sooft der Schrank geöffnet wurde, glaubte der Sohn, zwei Leichen seines seligen Vaters nebeneinander zu sehn.

Man wollte um jeden Preis Arzt werden. Man erteilte Unterricht für kümmerliche sechs Kronen im Monat. Man hatte zerrissene Stiefel. Man hinterließ, wenn es regnete, auf den guten, gewichsten Fußböden der Wohlhabenden nasse und übergroße Spuren. Man hatte größere Füße, wenn die Sohlen zerrissen waren. Und man machte schließlich die Reifeprüfung. Und man wurde Mediziner. Die Armut stand immer noch vor der Zukunft, eine schwarze Wand, an der man zerschellte. Man sank der Armee geradezu in die Arme. Sieben Jahre Essen, sieben Jahre Trinken, sieben Jahre Kleidung, sieben Jahre Obdach, sieben, sieben lange Jahre! Man wurde Militärarzt. Und man blieb es.

Das Leben schien schneller dahinzulaufen als die Gedanken. Und ehe man einen Entschluß gefaßt hatte, war man ein alter Mann.

Und man hatte Fräulein Eva Knopfmacher geheiratet.

Hier unterbrach der Regimentsarzt Doktor Demant noch einmal den Zug seiner Erinnerungen. Er begab sich nach Hause.

Der Abend war schon angebrochen, eine ungewohnt festliche Beleuchtung strömte aus allen Zimmern. »Der alte Herr ist gekommen«, meldete der Bursche. Der alte Herr: Es war sein Schwiegervater, Herr Knopfmacher.

Er trat in diesem Augenblick aus dem Badezimmer, im langen, geblümten, flaumigen Schlafrock, ein Rasiermesser in der Hand, mit freundlich geröteten, frisch rasierten und duftenden Backen, die breit auseinanderstanden. Sein Angesicht schien in zwei Hälften zu zerfallen. Es wurde lediglich durch den grauen Spitzbart zusammengehalten. »Mein lieber Max!« sagte Herr Knopfmacher, indem er das Rasiermesser sorgfältig auf ein Tischchen legte, die Arme ausbreitete und den Schlafrock auseinanderklaffen ließ. Sie umarmten sich so, mit zwei flüchtigen Küssen, und gingen zusammen ins Herrenzimmer. »Ichmöchte einen Schnaps!« sagte Herr Knopfmacher. Doktor Demant öffnete den Schrank, sah eine Weile mehrere Flaschen an und wandte sich um: »Ich kenn' mich nicht aus«, sagte er, »ich weiß nicht, was dir schmeckt.« Er hatte sich eine Alkoholauswahl zusammenstellen lassen, etwa wie sich ein Ungebildeter eine Bibliothek bestellt. »Du trinkst immer noch nicht!« sagte Herr Knopfmacher. »Hast du Sliwowitz, Arrak, Rum, Cognac, Enzian, Wodka?« fragte er geschwind, wie es seiner Würde keineswegs entsprach. Er erhob sich. Er ging (die Schöße seines Mantels flatterten) zum Schrank und holte mit sicherem Griff eine Flasche aus der Reihe.

 

»Ich hab' der Eva eine Überraschung machen wollen!« begann Herr Knopfmacher. »Und ich muß dir gleich sagen, mein lieber Max, du warst den ganzen Nachmittag nicht da. Statt deiner« – er machte eine Pause und wiederholte: »Statt deiner hab' ich hier einen Leutnant angetroffen. Einen Dummkopf!«

»Es ist der einzige Freund«, erwiderte Max Demant, »den ich seit dem Anfang meiner Dienstzeit beim Militär gefunden habe. Es ist der Leutnant Trotta. Ein feiner Mensch!«

»Ein feiner Mensch!« wiederholte der Schwiegervater. »Ein feiner Mensch bin ich auch zum Beispiel! Nun, ich würde dir nicht raten, mich eine Stunde allein mit einer hübschen Frau zu lassen, wenn dir auch nur so viel an ihr gelegen ist.« Knopfmacher legte die Spitze von Daumen und Zeigefinger zusammen und wiederholte nach einer Weile: »Nur so viel!« Der Regimentsarzt wurde blaß. Er nahm die Brille ab und putzte sie lange. Er hüllte auf diese Weise die Umwelt in einen wohltuenden Nebel, in dem der Schwiegervater in seinem Bademantel ein undeutlicher, wenn auch äußerst geräumiger, weißer Fleck war. Und er setzte die Brille, nachdem sie geputzt war, nicht sofort wieder auf, sondern er behielt sie in der Hand und sprach in den Nebel hinein:

»Ich habe gar keine Veranlassung, lieber Papa, Eva oder meinem Freund zu mißtrauen.«

Er sagte es zögernd, der Regimentsarzt. Es klang ihm selbst wie eine ganz fremde Wendung, entnommen irgendeiner fernen Lektüre, abgelauscht einem vergessenen Schauspiel.

Er setzte die Brille auf, und sofort rückte der alte Knopfmacher, deutlich an Umfang und Umriß, an den Doktor heran. Jetzt schien auch die Wendung, deren er sich soeben bedient hatte, sehr weit zurückzuliegen. Sie war bestimmt nicht mehr wahr. Der Regimentsarzt wußte es genausogut wie sein Schwiegervater.

»Gar keine Veranlassung!« wiederholte Herr Knopfmacher. »Ich aber habe Veranlassung! Ich kenne meine Tochter! Du kennst deine Frau nicht! Die Herren Leutnants kenn' ich auch! Und überhaupt die Männer! Ich will nichts gegen die Armee gesagt haben. Bleiben wir bei der Sache. Als meine Frau, deine Schwiegermutter, noch jung war, hab' ich Gelegenheit gehabt, die jungen Männer – in Zivil und in Uniform – kennenzulernen. Ja, komische Leute seid ihr, ihr, ihr –«

Er suchte nach einer gemeinsamen Bezeichnung irgendeiner ihm selbst nicht genau bekannten Gemeinschaft, der sein Schwiegersohn und noch andere Dummköpfe angehören mochten. Am liebsten hätte er »ihr akademisch Gebildeten!« gesagt. Denn er war gescheit, wohlhabend und angesehen geworden, ohne Studium. Ja, man war im Begriff, ihm in diesen Tagen den Titel des Kommerzialrats zu verschaffen. Er spann einen süßen Traum in die Zukunft, einen Traum von Geldspenden, großen Geldspenden. Deren unmittelbare Folge war der Adel. Und wenn man zum Beispiel die ungarische Staatsbürgerschaft annahm, so konnte man noch schneller adelig werden. In Budapest machte man einem das Leben nicht so schwer. Es waren übrigens auch Akademiker, die einem das Leben schwermachten, lauter Konzeptsbeamte, Dummköpfe! Sein eigener Schwiegersohn machte es ihm schwer. Wenn jetzt ein kleiner Skandal mit den Kindern ausbricht, kann man noch lange auf den Kommerzialrat warten! Überall muß man nach dem Rechten sehn, selbst, persönlich! Auf die Tugend fremder Gattinnen muß man auch aufpassen!

»Ich möchte dir, lieber Max, ehe es zu spät ist, reinen Wein einschenken!«

Der Regimentsarzt liebte dieses Wort nicht, er liebte nicht, um jeden Preis die Wahrheit zu hören. Ach, er kannte seine Frau genausogut wie Herr Knopfmacher seine Tochter! Aber er liebte sie, was war dagegen zu tun! Er liebte sie. In Olmütz hatte es den Bezirkskommissär Herdall gegeben, in Graz den Bezirksrichter Lederer. Wenn es nur nicht Kameraden waren, dankte der Regimentsarzt Gott und auch seiner Frau. Wenn man nur die Armee verlassen könnte. Man schwebte ständig in Lebensgefahr. Wie oft hatte er schon einen Anlauf genommen, dem Schwiegervater vorzuschlagen ... Er setzte noch einmal an. »Ich weiß«, sagte er, »daß sich Eva in Gefahr befindet. Immer. Seit Jahren. Sie ist leichtsinnig, leider. Sie treibt es nicht bis zum Äußersten«, er hielt ein und betonte: »nicht bis zum Äußersten!« Er mordete mit diesem Wort alle seine eigenen Zweifel, die ihn seit Jahren nicht in Ruhe ließen. Er rottete seine Unsicherheit aus, er bekam die Gewißheit, daß seine Frau ihn nicht betrog. »Keineswegs!« sagte er noch einmal laut. Er wurde ganz sicher: »Eva ist ein anständiger Mensch, trotz allem!«

»Ganz bestimmt!« bekräftigte der Schwiegervater.

»Aber dieses Leben«, fuhr der Regimentsarzt fort, »halten wir beide nicht lange aus. Mich befriedigt dieser Beruf keineswegs, wie du weißt. Wo wäre ich heute schon, ohne diesen Dienst? Ich hätte eine ganz große Stellung in der Welt, und Evas Ehrgeiz wäre zufriedengestellt. Denn sie ist ehrgeizig, leider!«

»Das hat sie von mir!« sagte Herr Knopfmacher, nicht ohne Vergnügen.

»Sie ist unzufrieden«, sprach der Regimentsarzt weiter, während sein Schwiegervater ein neues Gläschen füllte, »sie ist unzufrieden und sucht sich zu zerstreuen. Ich kann's ihr nicht übelnehmen.«

»Du sollst sie selbst zerstreuen!« unterbrach der Schwiegervater.

»Ich bin –« Doktor Demant fand kein Wort, schwieg eine Weile und blickte nach dem Schnaps.

»Na, trink doch endlich!« sagte aufmunternd Herr Knopfmacher. Und er stand auf, holte ein Gläschen, füllte es; sein Mantel klaffte auseinander, man sah seine behaarte Brust und seinen fröhlichen Bauch, der so rosig war wie seine Wangen. Er näherte das gefüllte Gläschen den Lippen seines Schwiegersohnes. Max Demant trank endlich.

»Da gibt es noch was, es zwingt mich eigentlich, den Dienst zu verlassen. Als ich einrückte, war es mit den Augen noch ganz gut. Nun, es wird mit jedem Jahre schlimmer. Ich habe jetzt, ich kann jetzt, es ist mir jetzt unmöglich, ohne Brille etwas deutlich zu sehen. Und eigentlich müßte ich es melden und den Abschied nehmen.«

»Ja?« fragte Herr Knopfmacher.

»Und wovon ...«

»Wovon leben?« Der Schwiegervater schlug ein Bein übers andere, es fröstelte ihn auf einmal; er hüllte sich in den Bademantel und hielt mit den Händen den Kragen am Halse fest.

»Ja«, sagte er, »glaubst du denn, daß ich das aufbringe? Seitdem ihr verheiratet seid, beträgt mein Zuschuß (ich weiß es zufällig auswendig) dreihundert Kronen im Monat. Aber ich weiß schon, ich weiß schon! Eva braucht viel. Und wenn ihr eine neue Existenz anfangt, wird sie auch soviel brauchen. Und du auch, mein Sohn!« Er wurde zärtlich. »Ja, mein lieber, lieber Max! Es geht nicht mehr so gut wie vor Jahren!‹

Max schwieg. Herr Knopfmacher empfand, daß er den Angriff abgeschlagen hatte, und ließ den Bademantel wieder aufgehen. Er trank noch einen. Sein Kopf konnte klar bleiben. Er kannte sich. Diese Dummköpfe! Es war immerhin noch besser, so eine Art Schwiegersohn, als der andere, der Hermann, der Mann der Elisabeth. Sechshundert Kronen monatlich kosteten beide Töchter. Er wußte es ganz genau auswendig. Wenn der Regimentsarzt einmal blind werden sollte – er betrachtete die funkelnden Brillen. Er soll auf seine Frau aufpassen! Kurzsichtigen darf es auch nicht schwerfallen!

To koniec darmowego fragmentu. Czy chcesz czytać dalej?