Radetzkymarsch

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Radetzkymarsch
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Herr Nechwal trank zwei kleine Tassen Kaffee, nicht mehr, nicht weniger. Mit Bedauern zerdrückte er das letzte Drittel der Virginier. Er mußte gehen, man schied nicht mit rauchender Zigarre. »Es war heute ganz besonders großartig. Empfehlen Sie mich Ihrer Frau Gemahlin. Ich hatte leider noch nicht das Vergnügen!« sagte Herr von Trotta und Sipolje. Carl Joseph schlug die Hacken zusammen. Er begleitete den Kapellmeister bis zum ersten Absatz der Treppe. Dann kehrte er ins Herrenzimmer zurück. Er stellte sich vor dem Vater auf und sagte: »Ich gehe spazieren, Papa!« »Recht, recht! Gute Erholung!« sagte Herr von Trotta und winkte mit der Hand.

Carl Joseph ging. Er gedachte, langsam spazierenzugehen, er wollte schlendern, seinen Füßen beweisen, daß sie Ferien hatten. Es riß ihn zusammen, wie man beim Militär sagte, als er dem ersten Soldaten begegnete. Er begann zu marschieren. Er erreichte die Stadtgrenze, das große gelbe Finanzamt, das gemächlich in der Sonne briet. Der süße Duft der Felder schlug ihm entgegen, der schmetternde Gesang der Lerchen. Den blauen Horizont begrenzten im Westen graublaue Hügel, die ersten dörflichen Hütten mit Schindel- und Strohdächern traten auf, Geflügelstimmen stießen wie Fanfaren in die sommerliche Stille. Das Land schlief, eingehüllt in Tag und Helligkeit.

Hinter dem Bahndamm stand das Gendarmeriekommando, das ein Wachtmeister führte. Carl Joseph kannte ihn, den Wachtmeister Slama. Er beschloß anzuklopfen. Er betrat die brütende Veranda, klopfte, zog am Klingeldraht, niemand meldete sich. Ein Fenster ging auf. Frau Slama beugte sich über die Geranien und rief: »Wer dort?« Sie erblickte den kleinen Trotta und sagte: »Sofort!« Sie machte die Flurtür auf, es roch kühl und ein wenig nach Parfüm. Frau Slama hatte einen Tropfen Wohlgeruch auf das Kleid getupft. Carl Joseph dachte an die Wiener Nachtlokale. Er sagte: »Der Wachtmeister ist nicht da?« »Dienst hat er, Herr von Trotta!« erwiderte die Frau. »Treten Sie nur ein!«

Jetzt saß Carl Joseph im Salon der Slamas. Es war ein rötliches, niedriges Zimmer, sehr kühl, man saß wie in einem Eisschrank, die hohen Lehnen der gepolsterten Sessel bestanden aus braun gebeiztem Schnitzwerk und Blättergerank, das dem Rücken weh tat. Frau Slama holte kühle Limonaden, sie trank zierliche Schlückchen, hielt den kleinen Finger gespreizt und ein Bein übers andere geschlagen. Sie saß neben Carl Joseph und ihm zugewandt und wippte mit einem Fuß, der in einem rotsamtenen Pantoffel gefangen war, nackt, ohne Strumpf. Carl Joseph sah auf den Fuß, dann auf die Limonade. Frau Slama sah er nicht ins Gesicht. Seine Mütze lag auf den Knien, die Knie hielt er steif, aufrecht saß er vor der Limonade, als wäre es eine Dienstobliegenheit, sie zu trinken. »Waren lange nicht da, Herr von Trotta!« sagte die Frau Wachtmeister. »Sind recht groß geworden! Schon vierzehn vorbei?« »Jawohl, schon lange!« Er dachte daran, möglichst schnell das Haus zu verlassen. Die Limonade mußte man in einem Zug austrinken und eine schöne Verbeugung machen und den Mann grüßen lassen und weggehen. Er sah hilflos auf die Limonade, man wurde nicht mit ihr fertig. Frau Slama schüttete nach. Sie brachte Zigaretten. Rauchen war verboten. Sie zündete selbst eine Zigarette an und sog an ihr, nachlässig, mit geblähten Nasenflügeln, und wippte mit dem Fuß. Plötzlich nahm sie, ohne ein Wort, die Mütze von seinen Knien und legte sie auf den Tisch. Dann steckte sie ihm ihre Zigarette in den Mund, ihre Hand duftete nach Rauch und Kölnisch Wasser, der helle Ärmel ihres sommerlich geblümten Kleides schimmerte vor seinen Augen. Er rauchte höflich die Zigarette weiter, an deren Mundstück noch die Feuchtigkeit ihrer Lippen lag, und sah auf die Limonade. Frau Slama steckte die Zigarette wieder zwischen die Zähne und stellte sich hinter Carl Joseph. Er hatte Angst, sich umzuwenden. Auf einmal lagen ihre beiden schimmernden Ärmel an seinem Hals, und ihr Gesicht lastete auf seinen Haaren. Er rührte sich nicht. Aber sein Herz klopfte laut, ein großer Sturm brach in ihm aus, krampfhaft zurückgehalten vom erstarrten Körper und den festen Knöpfen der Uniform. »Komm!« flüsterte Frau Slama. Sie setzte sich auf seinen Schoß, küßte ihn flugs und machte schelmische Augen. Von ungefähr fiel ein blondes Büschel Haare in ihre Stirn, sie schielte hinauf und versuchte, es mit gespitzten Lippen wegzublasen. Er begann, ihr Gewicht auf seinen Beinen zu fühlen, gleichzeitig durchströmte ihn neue Kraft und spannte seine Muskeln im Schenkel und in den Armen. Er umschlang die Frau und fühlte die weiche Kühle ihrer Brust durch das harte Tuch der Uniform. Ein leises Kichern brach aus ihrer Kehle, es war ein wenig wie Schluchzen und etwas wie Trillern, Tränen standen in ihren Augen. Dann lehnte sie sich zurück und begann, mit zärtlicher Genauigkeit einen Knopf der Uniform nach dem andern zu lösen. Sie legte eine kühle, zarte Hand auf seine Brust, küßte seinen Mund lange, mit systematischem Genuß, und erhob sich plötzlich, als hätte sie irgendein Geräusch aufgeschreckt. Er sprang sofort auf, sie lächelte und zog ihn langsam, rückwärts schreitend, mit beiden ausgestreckten Händen und den Kopf zurückgeworfen, ein Leuchten im Gesicht, zur Tür, die sie von rückwärts mit dem Fuß aufstieß. Sie glitten ins Schlafzimmer. Wie ein ohnmächtig Gefesselter sah er zwischen halb geschlossenen Lidern, daß sie ihn entkleidete, langsam, gründlich und mütterlich. Mit einigem Entsetzen bemerkte er, wie Stück um Stück seiner Paradekleidung schlaff auf die Erde sank, er hörte den dumpfen Fall seiner Schuhe und fühlte sofort an seinem Fuß die Hand der Frau Slama. Von unten her stieg eine neue Welle von Wärme und Kühle bis an seine Brust. Er ließ sich fallen. Er empfing die Frau wie eine weiche, große Welle aus Wonne, Feuer und Wasser.

Er erwachte. Frau Slama stand vor ihm, hielt ihm Stück um Stück seiner Kleidung entgegen; er begann, sich hastig anzuziehen. Sie lief in den Salon, brachte ihm Handschuhe und Mütze. Sie rückte an seinem Rock, er fühlte ihre ständigen Blicke auf seinem Gesicht, aber er vermied es, sie anzuschauen. Er schlug die Absätze aneinander, daß es knallte, drückte der Frau die Hand, sah aber hartnäckig auf ihre rechte Schulter und ging.

Von einem Turm schlug es sieben. Die Sonne näherte sich den Hügeln, die jetzt blau waren wie der Himmel und von Wolken kaum zu unterscheiden. Von den Bäumen am Wegrand strömte süßer Duft. Der Abendwind kämmte die kleinen Gräser der Wiesenhänge zu beiden Seiten der Straße; man sah, wie sie sich zitternd wellten unter seiner unsichtbaren, leisen und breiten Hand. In fernen Sümpfen begannen die Frösche zu quaken. Aus dem offenen Fenster eines knallgelben Vorstadthäuschens sah eine junge Frau in die leere Straße. Obwohl Carl Joseph sie nie gesehen hatte, grüßte er sie, stramm und voller Ehrfurcht. Sie nickte etwas befremdet und dankbar. Es war ihm, als hätte er jetzt erst Frau Slama zum Abschied gegrüßt. Wie ein Grenzposten zwischen der Liebe und dem Leben stand die fremde, vertraute Frau am Fenster. Nachdem er sie gegrüßt hatte, fühlte er sich wieder der Welt zurückgegeben. Er schritt schnell aus. Schlag dreiviertel achtwar er zu Hause und meldete seinem Vater die Rückkehr, blaß, kurz und entschlossen, wie es sich für Männer geziemt.

Der Wachtmeister hatte jeden zweiten Tag Patrouillendienst. Jeden Tag kam er mit einem Aktenbündel in die Bezirkshauptmannschaft. Den Sohn des Bezirkshauptmanns traf er niemals. Jeden zweiten Tag, nachmittags um vier, marschierte Carl Joseph in das Gendarmeriekommando. Um sieben Uhr abends verließ er es. Der Duft, den er von Frau Slama mitbrachte, vermischte sich mit den Gerüchen der trockenen sommerlichen Abende und blieb an Carl Josephs Händen Tag und Nacht. Er gab acht, dem Vater bei Tisch nicht näher zu kommen als nötig war. »Es riecht hier nach Herbst«, sagte eines Abends der Alte. Er verallgemeinerte. Frau Slama gebrauchte grundsätzlich Reseda.

III

Im Herrenzimmer des Bezirkshauptmanns hing das Porträt, den Fenstern gegenüber und so hoch an der Wand, daß Stirn und Haar im dunkelbraunen Schatten des alten, hölzernen Suffits verdämmerten. Die Neugier des Enkels kreiste beständig um die erloschene Gestalt und den verschollenen Ruhm des Großvaters. Manchmal, an stillen Nachmittagen – die Fenster standen offen, der dunkelgrüne Schatten der Kastanien aus dem Stadtpark erfüllte das Zimmer mit der ganzen satten und kräftigen Ruhe des Sommers, der Bezirkshauptmann leitete eine seiner Kommissionen außerhalb der Stadt, von fernen Treppen her schlurfte der Geisterschritt des alten Jacques, der auf Filzpantoffeln durch das Haus ging, um Schuhe, Kleider, Aschenbecher, Leuchter und Stehlampen zum Putzen einzusammeln –, stieg Carl Joseph auf einen Stuhl und betrachtete das Bildnis des Großvaters aus der Nähe. Es zerfiel in zahlreiche tiefe Schatten und helle Lichtflecke, in Pinselstriche und Tupfen, in ein tausendfältiges Gewebe der bemalten Leinwand, in ein hartes Farbenspiel getrockneten Öls. Carl Joseph stieg vom Stuhl. Der grüne Schatten der Bäume spielte auf dem braunen Rock des Großvaters, die Pinselstriche und Tupfen fügten sich wieder zu der vertrauten, aber unergründlichen Physiognomie, und die Augen erhielten ihren gewohnten, fernen, dem Dunkel der Decke entgegendämmernden Blick. Jedes Jahr in den Sommerferien fanden die stummen Unterhaltungen des Enkels mit dem Großvater statt. Nichts verriet der Tote. Nichts erfuhr der Junge. Von Jahr zu Jahr schien das Bildnis blasser und jenseitiger zu werden, als stürbe der Held von Solferino noch einmal dahin, als zöge er sein Andenken langsam zu sich hinüber und als müßte eine Zeit kommen, in der eine leere Leinwand aus dem schwarzen Rahmen noch stummer als das Porträt auf den Nachkommen niederstarren würde.

Unten im Hof, im Schatten des hölzernen Balkons, saß Jacques auf einem Schemel, vor der militärisch ausgerichteten Reihe gewichster Stiefel. Immer, wenn Carl Joseph von Frau Slama heimkehrte, ging er zu Jacques in den Hof und setzte sich auf die Kante. »Erzählen Sie vom Großvater, Jacques!« – Und Jacques legte Bürste, Pasta und Sidol weg, rieb die Hände aneinander, als wüsche er sie von Arbeit und Schmutz, bevor er anfing, von dem Seligen zu sprechen. Und wie immer und wie schon gute zwanzig Mal begann er: »Ich bin immer mit ihm ausgekommen! Gar nicht jung mehr bin ich auf den Hof gekommen, geheiratet hab' ich nicht, das hätt' dem Seligen nicht gefallen. Frauenzimmer hat er nicht gern gesehn, ausgenommen seine eigene Frau Baronin, aber die ist bald gestorben, auf der Lunge. Alle haben gewußt: Er hat dem Kaiser das Leben gerettet, in der Schlacht bei Solferino, aber er hat nichts davon gesagt, keinen Mucks hat er gegeben. Deshalb haben sie ihm auch ›Der Held von Solferino‹ auf den Grabstein geschrieben. Gar nicht alt ist er gestorben, so am Abend, gegen neun, im November wird's gewesen sein. Geschneit hat es schon, nachmittags ist er schon im Hof gestanden und hat gesagt: ›Jacques, wo hast du die Pelzstiefel hingetan?‹ Ich hab's nicht gewußt, aber gesagt hab' ich: ›Gleich hol' ich sie, Herrn Baron!‹ ›Hat Zeit bis morgen!‹ sagt er – und morgen hat er sie nicht mehr gebraucht. Geheiratet hab' ich nie!«

 

Das war alles.

Einmal (es waren die letzten Ferien, in einem Jahr sollte Carl Joseph ausgemustert werden) sagte der Bezirkshauptmann beim Abschied: »Ich hoffe, daß alles glattgeht. Du bist der Enkel des Helden von Solferino. Denk daran, dann kann dir nichts passieren!«

Auch der Oberst, alle Lehrer, alle Unteroffiziere dachten daran, und also konnte Carl Joseph in der Tat nichts passieren. Obwohl er kein ausgezeichneter Reiter war, in der Terrainlehre schwach, in der Trigonometrie ganz versagt hatte, kam er »mit einer guten Nummer« durch, wurde als Leutnant ausgemustert und den X-ten Ulanen zugeteilt. Die Augen trunken vom eigenen neuen Glanz und von der letzten feierlichen Messe, das Ohr erfüllt von den donnernden Abschiedsreden des Obersten, im azurenen Waffenrock mit goldenen Knöpfen, das silberne Patronentäschchen mit dem goldenen, erhabenen Doppeladler am Rücken, die Tschapka mit Schuppenriemen und Haarschweif in der Linken, in knallroten Reithosen, spiegelnden Stiefeln, singenden Sporen, den Säbel mit breitem Korb an der Hüfte: so präsentierte sich Carl Joseph an einem heißen Sommertag seinem Vater. Es war diesmal kein Sonntag. Ein Leutnant durfte auch am Mittwoch kommen. Der Bezirkshauptmann saß in seinem Arbeitszimmer. »Mach dir's bequem!« sagte er. Er legte den Zwicker ab, zog die Augenlider zusammen, erhob sich, musterte seinen Sohn und fand alles in Ordnung. Er umarmte Carl Joseph, sie küßten sich flüchtig auf die Wangen. »Nimm Platz!« sagte der Bezirkshauptmann und drückte den Leutnant in einen Sessel. Er selbst ging auf und ab durchs Zimmer. Er überlegte einen passenden Anfang. Ein Tadel war diesmal nicht anzubringen, mit einem Ausdruck der Zufriedenheit konnte man nicht beginnen. »Du solltest dich jetzt«, sagte er endlich, »mit der Geschichte deines Regiments beschäftigen und auch ein wenig in der Geschichte des Regiments nachlesen, in dem dein Großvater gekämpft hat. Ich hab' zwei Tage dienstlich in Wien zu tun, wirst mich begleiten.« Dann schwang er die Tischglocke. Jacques kam. »Fräulein Hirschwitz«, befahl der Bezirkshauptmann, »möchte heute den Wein heraufholen lassen und, wenn's geht, Rindfleisch vorbereiten und Kirschknödel. Wir essen heute zwanzig Minuten später als gewöhnlich.« »Jawohl, Herr Baron«, sagte Jacques, sah Carl Joseph an und flüsterte: »Gratuliere herzlich!« Der Bezirkshauptmann ging zum Fenster, die Szene drohte rührend zu werden. Hinter seinem Rücken vernahm er, wie der Sohn dem Diener die Hand gab, Jacques mit den Füßen scharrte, etwas Unverständliches vom seligen Herrn murmelte. Er wandte sich erst um, als Jacques das Zimmer verlassen hatte.

»Es ist heiß, nicht?« begann der Alte.

»Jawohl, Papa!«

»Ich denke, wir gehn an die Luft!«

»Jawohl, Papa!«

Der Bezirkshauptmann nahm den schwarzen Stock aus Ebenholz mit dem silbernen Griff, nicht das gelbe Rohr, das er sonst an hellen Vormittagen zu tragen liebte. Auch die Handschuhe behielt er nicht in der Linken, er streifte sie über. Er setzte den Halbzylinder auf und verließ das Zimmer, gefolgt von dem Jungen. Langsam und ohne ein Wort zu wechseln, gingen beide durch die sommerliche Stille des Stadtparks. Der Stadtpolizist salutierte, Männer erhoben sich von den Bänken und grüßten. Neben der dunklen Gravität des Alten nahm sich die klirrende Buntheit des Jungen noch leuchtender und geräuschvoller aus. In der Allee, in der ein hellblondes Mädchen Sodawasser mit Himbeersaft unter einem roten Sonnenschirm ausschenkte, hielt der Alte ein und sagte: »Ein frischer Trunk kann nicht schaden!« – Er bestellte zwei Soda ohne und beobachtete mit verstohlener Würde das blonde Fräulein, das wollüstig und willenlos ganz in den farbigen Schimmer Carl Josephs einzutauchen schien. Sie tranken und gingen weiter. Manchmal schwenkte der Bezirkshauptmann ein bißchen den Stock, es war wie die Andeutung eines Übermuts, der sich in Grenzen zu halten weiß. Obwohl er schwieg und ernst war wie gewöhnlich, erschien er seinem Sohn heute beinahe flott. Aus seinem frohen Innern brach gelegentlich ein wohlgefälliges Hüsteln, eine Art Lachen. Grüßte ihn jemand, so hob er kurz den Hut. Es gab Augenblicke, in denen er sich sogar zu kühnen Paradoxen vortraute, wie zum Beispiel: »Auch Höflichkeit kann lästig werden!« Er sprach lieber ein gewagtes Wort aus, als daß er sich die Freude über die staunenden Blicke der Vorbeikommenden hätte anmerken lassen. Als sie sich wieder dem Haustor näherten, blieb er noch einmal stehen. Er wandte sein Angesicht dem Sohn zu und sagte: »In meiner Jugend wär' ich auch gern Soldat geworden. Dein Großvater hat's ausdrücklich verboten. Jetzt bin ich zufrieden, daß du nicht Beamter bist!« »Jawohl, Papa!« erwiderte Carl Joseph.

Es gab Wein, auch Rindfleisch und Kirschknödel hatte man ermöglicht. Fräulein Hirschwitz kam im sonntäglich Grauseidenen und ließ beim Anblick Carl Josephs den größten Teil ihrer Strenge ohne weiteres fallen. »Ich freue mich sehr«, sagte sie, »und beglückwünsche Sie herzlich.« »Beglückwünschen heißt gratulieren«, bemerkte der Bezirkshauptmann. Und man begann zu essen.

»Du brauchst dich nicht zu eilen!« sagte der Alte. »Wenn ich schneller fertig bin, so wart' ich noch ein bißchen.« Carl Joseph sah auf. Er begriff, daß der Vater seit Jahr und Tag wohl gewußt hatte, wieviel Mühe es kostete, mit ihm Schritt zu halten. Und zum erstenmal war es ihm, als sähe er durch den Panzer des Alten in sein lebendiges Herz und in das Gewebe seiner geheimen Gedanken. Obwohl er bereits ein Leutnant war, wurde Carl Joseph rot. »Danke, Papa!« sagte er. Der Bezirkshauptmann löffelte hastig weiter. Er schien nicht zu hören.

Ein paar Tage später stiegen sie in den Zug nach Wien. Der Sohn las in der Zeitung, der Alte in den Akten. Einmal blickte der Bezirkshauptmann auf und sagte: »Wir wollen in Wien eine Salonhose bestellen, du hast nur zwei.« »Danke, Papa!« Sie lasen weiter.

Sie waren knapp eine Viertelstunde vor Wien, als der Vater die Akten zusammenklappte. Der Sohn legte sofort die Zeitung weg. Der Bezirkshauptmann sah auf die Fensterscheibe, dann ein paar Sekunden auf den Sohn. Plötzlich sagte er: »Du kennst doch den Wachtmeister Slama?« Der Name schlug an Carl Josephs Gedächtnis, ein Ruf aus verlorenen Zeiten. Er sah sofort den Weg, der zum Gendarmeriekommando führte, das niedrige Zimmer, den geblümten Schlafrock, das breite und wohlbepackte Bett, er roch den Duft der Wiesen und gleichzeitig das Reseda der Frau Slama. Er lauschte. »Er ist leider Witwer geworden, in diesem Jahr«, fuhr der Alte fort. »Traurig. Die Frau ist an einer Geburt gestorben. Solltest ihn besuchen.«

Es wurde auf einmal unerträglich heiß im Kupee. Carl Joseph versuchte, den Kragen zu lockern. Während er vergeblich nach einem passenden Wort rang, stieg eine törichte, heiße, kindische Lust zu weinen in ihm auf, würgte ihn im Hals, sein Gaumen wurde trocken, als hätte er seit Tagen nicht getrunken. Er fühlte den Blick seines Vaters, sah angestrengt in die Landschaft, empfand die Nähe des Ziels, dem sie unaufhaltsam entgegenfuhren, als eine Verschärfung seiner Qual, wünschte sich wenigstens in den Korridor und sah gleichzeitig ein, daß er dem Blick und der Mitteilung des Alten nicht davonlaufen könnte. Er raffte schnell ein paar schwache, vorläufige Kräfte zusammen und sagte: »Ich werde ihn besuchen!«

»Es scheint, daß du die Eisenbahn nicht verträgst«, bemerkte der Vater.

»Jawohl, Papa!«

Stumm und aufrecht, von einer Qual bedrängt, der er keinen Namen hätte geben können, die er niemals gekannt hatte und die wie eine rätselhafte Krankheit aus fernen Zonen war, fuhr Carl Joseph ins Hotel. Es gelang ihm noch, »Pardon, Papa!« zu sagen. Dann schloß er sein Zimmer ab, packte den Koffer aus und zog die Mappe hervor, in der ein paar Briefe der Frau Slama lagen, in den Umschlägen, wie sie gekommen waren, mit der chiffrierten Adresse, Mährisch-Weißkirchen, poste restante. Die blauen Blätter hatten die Farbe des Himmels und ein Hauch von Reseda, und die zarten, schwarzen Buchstaben flogen wie eine geordnete Schar schlanker Schwalben dahin. Briefe der toten Frau Slama! Sie erschienen Carl Joseph als die frühen Künder ihres plötzlichen Endes, von der geisterhaften Feinheit, die nur todgeweihten Händen entströmt, vorweggenommene Grüße aus dem Jenseits. Den letzten Brief hatte er nicht beantwortet. Die Ausmusterung, die Reden, der Abschied, die Messe, die Ernennung, der neue Rang und die neuen Uniformen verloren ihre Bedeutung vor dem gewichtlosen, dunklen Zug der beschwingten Buchstaben auf blauem Hintergrund. Noch lagen auf seiner Haut die Spuren der liebkosenden Hände der toten Frau, und in seinen eigenen warmen Händen barg sich noch die Erinnerung an ihre kühle Brust, und mit geschlossenen Augen sah er die selige Müdigkeit in ihrem liebessatten Angesicht, den offenen, roten Mund und den weißen Schimmer der Zähne, den lässig gekrümmten Arm, in jeder Linie des Körpers den fließenden Abglanz wunschloser Träume und glücklichen Schlafs. Jetzt krochen die Würmer über Brust und Schenkel, und gründliche Verwesung zerfraß das Gesicht. Je stärker die gräßlichen Bilder des Zerfalls vor den Augen des jungen Mannes wurden, desto heftiger entzündeten sie seine Leidenschaft. Sie schien in die unbegreifliche Unbegrenztheit jener Bezirke hinauszuwachsen, in denen die Tote verschwunden war. Wahrscheinlich hätte ich sie gar nicht mehr besucht! dachte der Leutnant. Ich hätte sie vergessen. Ihre Worte waren zärtlich, sie war eine Mutter, sie hat mich geliebt, sie ist gestorben! Es war klar, daß er Schuld an ihrem Tode trug. An der Schwelle seines Lebens lag sie, eine geliebte Leiche.

Es war die erste Begegnung Carl Josephs mit dem Tode. An seine Mutter erinnerte er sich nicht mehr. Nichts mehr kannte er von ihr als Grab und Blumenbeet und zwei Photographien. Nun zuckte der Tod vor ihm auf wie ein schwarzer Blitz, traf seine harmlose Freude, versengte seine Jugend und schmetterte ihn an den Rand der verhängten Gründe, die das Lebendige vom Gestorbenen trennen. Vor ihm lag also ein langes Leben voller Trauer. Er rüstete sich, es zu erleiden, entschlossen und blaß, wie es einem Manne geziemt. Er packte die Briefe ein. Er schloß den Koffer. Er ging in den Korridor, klopfte an die Tür seines Vaters, trat ein und hörte wie durch eine dicke Wand aus Glas die Stimme des Alten: »Es scheint, daß du ein weiches Herz hast!« Der Bezirkshauptmann ordnete seine Krawatte vor dem Spiegel. Er hatte noch in der Statthalterei zu tun, in der Polizeidirektion, im Oberlandesgericht. »Du begleitest mich!« sagte er.

Sie fuhren im Zweispänner auf Gummirädern. Festlicher als je erschienen die Straßen Carl Joseph. Das breite, sommerliche Gold des Nachmittags floß über Häuser und Bäume, Straßenbahnen, Passanten, Polizisten, grüne Bänke, Monumente und Gärten. Man hörte den hurtigen, schnalzenden Aufschlag der Hufe auf das Pflaster. Junge Frauen glitten wie helle, zärtliche Lichter vorbei. Soldaten salutierten. Schaufenster schimmerten. Der Sommer wehte milde durch die große Stadt.

Alle Schönheiten des Sommers aber glitten an Carl Josephs gleichgültigen Augen vorüber. An sein Ohr schlugen die Worte des Vaters. Hundert Veränderungen hatte der Alte festzustellen: verlegte Tabaktrafiken, neue Kioske, verlängerte Omnibuslinien, verschobene Haltestellen. Vieles war zu seiner Zeit anders gewesen. Aber an alles Verschwundene wie an alles Bewahrte heftete er seine treue Erinnerung, seine Stimme hob mit leiser und ungewohnter Zärtlichkeit winzige Schätze aus verschütteten Zeiten, seine magere Hand deutete grüßend nach den Stellen, an denen einst seine Jugend geblüht hatte. Carl Joseph schwieg. Auch er hatte soeben die Jugend verloren. Seine Liebe war tot, aber sein Herz aufgetan der väterlichen Wehmut, und er begann zu ahnen, daß hinter der knöchernen Härte des Bezirkshauptmanns ein anderer verborgen war, ein Geheimnisvoller und dennoch Vertrauter, ein Trotta, Abkömmling eines slowenischen Invaliden und des merkwürdigen Helden von Solferino. Und je lebhafter des Alten Ausrufe und Bemerkungen wurden, desto spärlicher und leiser kamen die gehorsamen und gewohnten Bestätigungen des Sohnes, und das stramme und diensteifrige »Jawohl, Papa«, der Zunge eingeübt seit frühen Jahren, klang nunmehr anders, brüderlich und heimisch. Jünger schien der Vater zu werden und älter der Sohn. Sie hielten vor mehreren Amtsgebäuden, in denen der Bezirkshauptmann nach früheren Genossen, Zeugen seiner Jugend, suchte. Der Brandl war Polizeirat geworden, der Smekal Sektionschef, Monteschitzky Oberst und Hasselbrunner Legationsrat. Sie hielten vor den Läden, bestellten bei Reitmeyer in den Tuchlauben ein Paar Salonstiefeletten, matt, Chevreaux, für Hofball und Audienz, eine Salonhose auf der Wieden beim Hof- und Militärschneider Ettlinger, und es ereignete sich das Unglaubliche, daß der Bezirkshauptmann beim Hofjuwelier Schafransky eine silberneTabatiere, solide und mit geripptem Rücken, auswählte; ein Luxusgegenstand, in den er die tröstlichen Worte eingravieren ließ: »in periculo securitas. Dein Vater.«

 

Sie landeten vor dem Volksgarten und tranken Kaffee. Weiß im dunkelgrünen Schatten leuchteten die runden Tische der Terrasse, auf den Tischtüchern blauten die Siphons. Wenn die Musik innehielt, hörte man den jubelnden Gesang der Vögel. Der Bezirkshauptmann hob den Kopf, und als zöge er Erinnerungen aus der Höhe, begann er: »Hier hab' ich einmal ein kleines Mädel kennengelernt. Wie lang wird's her sein?« Er verlor sich in stummen Berechnungen. Lange, lange Jahre schienen seit damals vergangen; es war Carl Joseph, als säße neben ihm nicht sein Vater, sondern ein Urahne. »Mizzi Schinagl hat's geheißen!« sagte der Alte. In den dichten Kronen der Kastanien suchte er nach dem verschollenen Bildnis Fräulein Schinagls, als wäre sie ein Vögelchen gewesen. »Sie lebt noch?« fragte Carl Joseph aus Höflichkeit und wie um einen Anhaltspunkt für die Abschätzung der verschwundenen Epochen zu gewinnen. »Hoffentlich! Zu meiner Zeit, weißt du, war man nicht sentimental. Man nahm Abschied von Mädchen und auch von Freunden ...« Er unterbrach sich plötzlich. Ein Fremder stand an ihrem Tisch, ein Mann mit Schlapphut und flatternder Krawatte, in einem grauen und sehr alten Cutaway mit schlaffen Schößen, dichtes, langes Haar im Nacken, das breite, graue Gesicht mangelhaft rasiert, auf den ersten Blick ein Maler, von jener übertriebenen Deutlichkeit der überlieferten künstlerischen Physiognomie, die unwirklich erscheint und ausgeschnitten aus alten Illustrationen. Der Fremde legte seine Mappe auf den Tisch und machte Anstalten, seine Werke anzubieten, mit dem hochmütigen Gleichmut, den ihm Armut und Sendung zu gleichen Teilen eingeben mochten. »Aber Moser!« sagte Herr von Trotta. Der Maler rollte langsam die schweren Lider von seinen großen, hellen Augen empor, betrachtete ein paar Sekunden den Bezirkshauptmann, streckte die Hand aus und sagte: »Trotta!«

Im nächsten Augenblick schon hatte er die Bestürzung wie die Sanftheit abgelegt, schmetterte die Mappe hin, daß die Gläser zitterten, rief dreimal hintereinander: »Donnerwetter!«, so mächtig, als erzeugte er es wirklich, ließ den Blick triumphierend über die benachbarten Tische kreisen und schien Applaus von den Gästen zu erwarten, setzte sich, lüftete den Schlapphut und warf ihn auf den Kies neben den Stuhl, schob mit dem Ellbogen die Mappe vom Tisch, bezeichnete sie gelassen als »Dreck«, neigte den Kopf gegen den Leutnant vor, zog die Augenbrauen zusammen, lehnte sich wieder zurück und sagte: »Wie, Herr Statthalter, dein Herr Sohn?«

»Das ist mein Jugendfreund, der Herr Professor Moser!« erklärte der Bezirkshauptmann.

»Donnerwetter, Herr Statthalter!« wiederholte Moser. Er faßte gleichzeitig nach dem Frack eines Kellners, erhob sich und flüsterte eine Bestellung wie ein Geheimnis, setzte sich und schwieg, die Augen in jene Richtung gewendet, aus der die Kellner mit den Getränken kommen mußten. Schließlich stand ein Sodawasserglas vor ihm, halbgefüllt mit wasserklarem Sliwowitz; er führte es vor geblähter Nase ein paarmal hin und her, setzte mit einer mächtigen Armbewegung an, als gälte es, einen schweren Humpen auf einen Zug zu leeren, nippte schließlich nur ein wenig und sammelte dann mit vorgestreckter Zungenspitze die Tropfen von den Lippen ab.

»Du bist zwei Wochen hier und besuchst mich nicht!« begann er mit der forschenden Strenge eines Vorgesetzten.

»Lieber Moser«, sagte Herr von Trotta, »ich bin gestern gekommen und fahre morgen wieder zurück.«

Der Maler sah lange in das Gesicht des Bezirkshauptmanns. Dann setzte er das Glas wieder an und trank es ohne Aufenthalt leer wie Wasser. Als er es hinstellen wollte, traf er nicht mehr die Untertasse und ließ es sich von Carl Joseph aus der Hand nehmen. »Danke!« sagte der Maler, und mit ausgestrecktem Zeigefinger auf den Leutnant: »Außerordentlich, die Ähnlichkeit mit dem Helden von Solferino! Nur etwas weicher! Schwächliche Nase! Weicher Mund! Kann sich aber mit der Zeit ändern ...!«

»Professor Moser hat den Großvater gemalt!« bemerkte der alte Trotta. Carl Joseph sah den Vater und den Maler an, und in seiner Erinnerung erstand das Porträt des Großvaters, verdämmernd unter dem Suffit des Herrenzimmers. Unfaßbar erschien ihm die Beziehung des Großvaters zu diesem Professor; die Vertrautheit des Vaters mit Moser erschreckte ihn, er sah die schmutzige, breite Hand des Fremden mit freundschaftlichem Schlag auf die gestreifte Hose des Bezirkshauptmanns niederfallen und den abwehrenden, sanften Rückzug des väterlichen Oberschenkels. Da saß nun der Alte, würdig wie sonst, zurückgelehnt und gleichsam abgehalten vom Alkoholgeruch, der gegen seine Brust und sein Angesicht gerichtet war, lächelte und ließ sich alles gefallen. »Solltest dich renovieren lassen«, sagte der Maler. »Schäbig bist du geworden! Dein Vater hat anders ausgesehn.«

Der Bezirkshauptmann strich seinen Backenbart und lächelte. »Ja, der alte Trotta!« begann wieder der Maler.

»Zahlen!« sagte plötzlich leise der Bezirkshauptmann. »Du entschuldigst, Moser, wir haben eine Verabredung.«

Der Maler blieb sitzen, Vater und Sohn verließen den Garten.

Der Bezirkshauptmann schob seinen Arm unter den des Sohnes. Zum erstenmal fühlte Carl Joseph den dürren Arm des Vaters an der Brust. Die väterliche Hand im dunkelgrauen Glacéhandschuh lag in leicht gekrümmter Zutraulichkeit auf dem blauen Ärmel der Uniform. Es war die gleiche Hand, die, hager und zürnend, umscheppert von der steifen Manschette, mahnen konnte und warnen, mit leisen und spitzen Fingern in Papieren blättern, die Schubladen mit grimmigem Ruck in ihre Fächer stieß, Schlüssel so entschieden abzog, daß man glauben konnte, die Schlösser seien für alle Ewigkeit versperrt. Es war die Hand, die mit lauernder Ungeduld auf die Tischkante trommelte, wenn es nicht nach dem Willen ihres Herrn ging, und an die Fensterscheibe, wenn im Zimmer irgendeine Verlegenheit entstanden war. Diese Hand hob den mageren Zeigefinger, wenn jemand im Haus etwas unterlassen hatte, ballte sich zur stummen, niemals aufschlagenden Faust, bettete sich zärtlich um die Stirn, nahm behutsam den Zwicker ab, bog sich leicht um das Weinglas, führte die schwarze Virginier liebkosend zum Mund. Es war die linke Hand des Vaters, dem Sohn seit langem vertraut. Und dennoch war es, als erführe er jetzt erst, daß es die Hand des Vaters war, die väterliche Hand. Carl Joseph verspürte das Verlangen, diese Hand an seine Brust zu drücken.