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Hilfe, meine Nachbarn nerven!

Grabenkrieg am Grundstückszaun

Band 1

Copyright: © 2014 Ronald Weißig

Published by: epubli GmbH, Berlin

www. epubli.de

ISBN 978-3-8442-9064-6

Der Ort

Der Maschinenbauingenieur

Der verschrobene Mathematiker

Beamtenalltag

Die Eigenheimsiedlung in Wildbach

Der japanische Professor

Die Pflegedienstunternehmerin

Der Generaloberst a. D.

Sitzung des Gemeinderats

Alt Bauer Herbert Haase

Der italienische Gastronom

Das japanische Haus

Der Gerüstbauprofi

Otto Klein

Die Feingeister aus München

Erste Baustellenbesichtigung

Martin Brzybylla

Das Haus der Italiener

Ballauf wird ausgetrickst

Das Haus des Generalobersten

Ballauf wird erneut getäuscht

Das Haus der Münchner

Der Hund des Regierungsdirektors

Pi als Erkennungszeichen

Bergmännischer Vortrieb für Generaloberst Langsack

Im Visier der NSA

Der Fahrlehrer

Das Schutzbauwerk entsteht

Auslösung einer Sondermaßnahme in Fort Meade

Zwischenfall beim Haus Baumgärtel

Der Einzug des Mathematikers

Der Freak aus Ghana

Ballauf bekommt Stress

Aufbruch zu neuen Ufern

Die Fahrschulausbildung eines Wissenschaftlers

Ein Gangsta Rapper kommt nach Wildbach

Fahrstunden

Die Erfüllung eines Mädchentraumes

Bachmann bekommt die Fleppen

Die Sitzung des Gemeinderates im Jahr 2014

Der Ort

Wildbach war erstmalig 1756 erwähnt worden und zählte heute exakt 3.487 Einwohner, von denen sich schon zirka 40 Prozent im Ruhestand befanden. Das Dorf, wie es die Einheimischen zu nennen pflegten, befand sich keine 15 Kilometer von der boomenden Landeshauptstadt entfernt. Mit dem Auto kam man in knapp 30 Minuten dorthin, mit dem Bus, der an zwei Haltestellen die Passagiere in Wildbach aufsammelte, dauerte es auch nicht wesentlich länger. Die Wildbacher selbst verspürten allerdings wenig Neigung, in die aus ihrer Sicht unübersichtliche und hektische Landeshauptstadt zu reisen, denn sie fühlten sich durch drei Lebensmittelmärkte, zwei Bäckereien, einen Fleischer, ein paar Läden mit Waren verschiedenster Art, einen Dorfgasthof, eine Arztpraxis, eine Kirche und eine Tankstelle durchaus gut versorgt. Dazu kam, dass die Mehrzahl von ihnen schon immer in dem kleinen Ort lebte, die Menschen ausgesprochen bodenständig waren und keinen Wert auf Änderung ihrer Lebensverhältnisse legten, oder gar den Glanz bayrischer oder schwäbischer Siedlungen anstrebten. Die ausbleibende Ortsverschönerung resultierte nicht etwa aus Desinteresse oder Unlust der Einwohner, sondern lag schlicht und ergreifend am allerorten mangelndem Geld. Die meisten von den Wildbachern hatten früher als Bauern in der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft gearbeitet, Getreide, Raps, Zuckerrüben und ähnliches angebaut, oder ihre paar Ostmark in den Hühner- oder Kuhställen verdient. Diese Betriebe gingen nach der Wende zwar nicht sofort Pleite, aber die Beschäftigtenzahlen wurden drastisch nach unten gefahren, um der enormen Konkurrenz der anderen Anbieter wenigstens mit niedrigen Lohnkosten etwas Paroli bieten zu können. Das hatte dann zur Folge gehabt, dass etliche Wildbacher somit ihre Arbeit verloren hatten, und sich als ehemalige Bauern keineswegs dazu berufen fühlten, sich zu Büroangestellten umschulen zu lassen oder anderen artfremden Tätigkeiten nachzugehen.

Vielmehr gaben sie sich damit zufrieden, auf ihren Höfen verschiedenstes Viehzeug zu halten und als teilweise Selbstversorger damit die Haushaltkasse etwas zu entlasten. Außerdem hatten sie ihre Genossenschaftsanteile ausbezahlt bekommen. Es wurde zwar ständig über die harten neuen Zeiten gemeckert, aber man hatte sich auf die jetzigen Verhältnisse eingestellt und damit arrangiert, denn so richtig schlecht ging es keinem. Das lag auch daran, dass die ehemaligen Bauern schon früher neben ihrer eigentlichen Arbeit Flächen bewirtschaftet hatten, die sich seit Generationen im Eigentum ihrer Familien befanden. So gesehen hatten die meisten der Wildbacher zwar keine übermäßig hohen laufenden Einnahmen aus Hartz IV, aber verfügten, und das wussten sie als Bauern ganz genau, über einen schlummernden Schatz in Form ihrer Grundstücke.

Diese Flurstücke waren rings um den Ort herum verteilt, besser gesagt, sie fassten ihn geradezu ein. Die größte Konzentration der Flächen gab es aber am Ortseingang. Wildbach war eigentlich nichts weiter als eine Aneinanderreihung von Häusern und Höfen an einer fast 3 Kilometer langen und kurvigen Straße. Hinter den Anwesen erstreckten sich die Flächen der Bauern, und deren vormalige Nutzung als Acker- oder Weideland hatten die Leute schon lange aufgegeben, da sich eine Bewirtschaftung aufgrund der niedrigen Preise für Lebensmittel überhaupt nicht mehr rentierte. Dieses brachliegende Kapital (einige der Wildbacher hatten zwar die Werke von Karl Marx und seinen Jüngern lesen müssen, aber damit herzlich wenig anfangen können) heckte demzufolge kein Geld, und einige der Dorfbewohner beschlossen, diesem Zustand ein Ende zu bereiten. Konkret waren dies drei Familien, die am Ortausgang in Richtung der Landeshauptstadt eine zwar den jeweiligen Eigentümern zugeordnete, aber zusammenhängende größere Fläche besaßen. Da die Flächen als Bauland deklariert worden waren lag es nahe, diesen Boden seiner eigentlichen Bestimmung zuzuführen und ihn ordentlich zu versilbern.

Wildbach hatte einen Bürgermeister, eine Verwaltungsangestellte und einen fünfköpfigen Gemeinderat, in dem zufälligerweise drei Mitglieder der besagten Familien Mitglied waren. Walther Ziergiebel war vor einem Jahr mit 56 Jahren aus dem Schuldienst ausgeschieden (wegen vorgeblicher akuter Erschöpfungssymtome) und seitdem auf der Suche nach einer sinnvollen Beschäftigung im Ruhestand gewesen, denn ihm fehlte es schon etwas, vor seinen Schülern aufzutreten. Insbesondere war es ihm schon bei seinem Berufseinstieg wichtig gewesen eine Fächerkombination anzustreben, bei der er einerseits intellektuelle Anforderungen, und anderseits physische Leistungen verbinden konnte. Daraus ergab sich dann, dass Ziergiebel Deutsch und Sport unterrichtete. Die ausgiebige Beschäftigung mit der Sprache hatte dazu geführt, dass er geschliffen formulieren konnte und seine Rhetorik brillant war. Durch die langjährige sportliche Betätigung war Ziergiebel in blendender körperlicher Verfassung, und aufgrund der ländlichen Lage von Wildbach lag es nahe, dass er sich weiterhin durch Joggen fit hielt. Das lastete ihn aber keineswegs aus, und da er Zeit seines Lebens Junggeselle geblieben war, hatte er auch niemanden, mit dem er seine Tage gemeinsam verbringen konnte.

Ziergiebel hatte also vor 8 Monaten für den Bürgermeisterposten kandidiert, und wurde mit überwältigenden 96 Prozent der Stimmen gewählt. Natürlich hatte er sich vor der Kandidatur Gedanken gemacht, was den Wildbachern am Herzen liegen würde. Walther Ziergiebel zählte zu den Alteingesessenen des Ortes und war als ehemaliger Lehrer durchaus eine Respektsperson. Obwohl er teilweise den Eindruck eines Eigenbrötlers machte, war er Geselligkeiten nicht abgeneigt, und seit Jahren saß er mit am Stammtisch des Dorfgasthofes. Regelmäßig Freitagabend genehmigte er sich zusammen mit dem Arzt, dem Chef der freiwilligen Feuerwehr, der Pastorin und dem Marktleiter des NEDDA (Natürlich Ernähren Durch Delikate Angebote) einige Getränke und angeregte Gespräche.

 

„Es muss sich mal etwas tun in Wildbach“ hatte der Arzt geklagt „wir vergreisen immer mehr, und meine jüngeren Patienten kann ich bald an zwei Händen abzählen. Wenn hier kein frisches Blut reinkommt, stirbt das Dorf demnächst aus.“

„Was wollen Sie dagegen tun“ hatte der Marktleiter gefragt „die Wildbacher sitzen seit Jahrhunderten an diesem Fleck und unser Dorf ist ja weiß Gott kein Ort, um Fremde zum Bleiben anzulocken.“

„Da gebe ich Ihnen recht“ hatte die Pastorin ergänzt „unsere Kirchgemeinde schrumpft immer mehr, und bald muss ich keinen Gottesdienst mehr leisten. Letzten Sonntag waren wir gerade einmal noch 7 Leute, mich eingeschlossen. Es ist ein Trauerspiel. Einfach zum Gotterbarmen, dieser Zustand.“

„Ich bekomme auch keinen Nachwuchs mehr“ hatte der Chef der freiwilligen Feuerwehr geklagt „unser Durchschnittsalter beträgt mittlerweile stolze 47 Jahre. Wenn es mal richtig ernst wird, bekommen wir alten Säcke Probleme.“

Für Walther Ziergiebel waren das keine neuen Nachrichten gewesen. Da er durchaus analytisch dachte war ihm schnell klar geworden, dass man vor zwei grundlegenden Problemen stand. Einerseits überalterte die Bevölkerung rasant, und insbesondere diese Personengruppe wollte sozusagen am Abend ihrer Tage noch Nutzen aus den brachliegenden Baulandflächen ziehen. Das setzte aber voraus, dass man eine Möglichkeit fand, Interessenten das Bauland und den Ort selbst irgendwie schmackhaft zu machen. Und genau in diesem Ziel sah Ziergiebel das größere der Probleme. Für ihn selbst war der Ort schon immer Heimat gewesen und er kannte es gar nicht anders, als dass das Angebot an Einkaufsmöglichkeiten nicht so üppig wie anderswo war, und sich der kulturelle Aspekt nur im Vorhandensein eines Dorfgasthofes und der kleinen Kirche äußerte. Was jedoch als Pfund galt, mit dem man mächtig wuchern konnte, war die strategisch günstige Nähe zur Landeshauptstadt.

Diese hatte durch die Konzentration von Hochschulausbildung, Forschung und der Ansiedlung von Hightech-Industrie in den letzten Jahren ein beeindruckendes Wachstum hingelegt, was die Folge gehabt hatte, dass Wohnraum dort mehr als knapp geworden war. Jegliche Brache im Stadtbereich war mittlerweile bebaut worden und der stetige Zustrom von Wissenschaftlern aus aller Herren Länder und hoch qualifizierten Arbeitskräften verschärfte den Wohnraummangel noch mehr. Den Wahlkampf um den Bürgermeisterposten hatte Ziergiebel also unter das Motto gestellt, den Ort auf zu hübschen und damit die potentiellen Käufer des Baulandes ködern zu können. Er würde damit mehrere Fliegen mit einer Klappe schlagen können: den Grundstücksbesitzern Geld in die Kassen spülen, mit der Zuwanderung hoffentlich jüngerer Familien mit Kindern eine Verjüngung erreichen, und schlussendlich mit mehr Mitteln in den privaten und in der Gemeindekasse etwas für den Ort und dessen Infrastruktur tun zu können. Ziergiebel hatte lange über einen sinnvollen Spruch für seine Vorhaben gegrübelt, und schließlich folgendes formuliert:

„Mit Walther Ziergiebel Wildbachs Zukunft anpacken! Öffnen wir uns der Welt, und jedem hier im Ort wird es besser gehen. Holen wir uns neue Bürger ins Dorf, das ist auch für die Finanzen der Gemeinde gut. Gutes Bauland soll nicht weiter nutzlos brachliegen, also werde ich entsprechende Maßnahmen einleiten.“

Ziergiebel war sein Motto nach eigener Einschätzung zwar etwas holprig geraten, aber möglicherweise könnte er die Wildbacher so packen. Natürlich stellte er noch eine Aktivitätenliste auf und entwarf einen Flyer, auf dem er seine Kernziele und die Einzelmaßnahmen vermerkte. Der Flyer erschien ihm sehr nüchtern, und so peppte er diesen noch mit einigen bunten Cliparts und Bildern auf. Unter anderem war eine Eigenheimbaustelle zu sehen, und um die Brücke zum Verkauf der Grundstücke zu schlagen, hatte Ziergiebel noch ein Bild von Dagobert Duck eingefügt, welcher auf einigen prallen Geldsäcken saß. Dem Enterich standen zusätzlich noch Dollarzeichen in den Augen, um auch dem letzten Begriffsstutzigen klar zu machen, dass es um einen Haufen Geld gehen würde. Nun musste er für seinen Wahlkampf lediglich noch die Bürger über sein Programm informieren, und das wollte er mit einer Postwurfsendung erledigen. Ziergiebel wusste nicht genau, wie viele Haushalte es in der Gemeinde wirklich gab, aber er ging davon aus, dass es aufgrund der dörflichen Struktur wahrscheinlich wäre, dass oft mehrere Generationen unter einem Dach leben würden. Wenn Großeltern, Eltern und Kinder zusammen wohnen würden könnte man im Schnitt sicher 5 bis 6 Personen in einem Haushalt ansetzen. 3.487 geteilt durch 5 ergab 697, geteilt durch 6 machte das 582 Haushalte. Da ein Packet Druckerpapier 500 Blatt enthielt, kaufte Ziergiebel zwei davon und entschloss sich, zunächst 500 Flyer zu produzieren. Sollten diese nicht ausreichen, könnte er ja problemlos weitere nachfertigen. Der Druck beschäftigte ihn wegen der farbigen Bestandteile des Flyers zwar fast fünf Stunden, aber Zeit hatte er ja im Übermaß.

Nachdem der Druck abgeschlossen war faltete er die Flyer noch akkurat und setzte auf jeden seine Unterschrift mit blauer Farbe. Die Adressaten sollten sehen, dass Ziergiebel keine Mühe gescheut hatte, um für sich zu werben, und das Dorf endlich aus seinem Dornröschenschlaf zu wecken. Am nächsten Tag machte er sich mit einem Beutel voller Flyer auf den Weg durch den Ort und stopfte die Zettel in alle erreichbaren Briefkästen. Als er von der ersten Runde durch den Ort ziemlich erschöpft wieder in seiner Wohnung angekommen war, hatte er ungefähr 70 Prozent seiner geplanten Strecke geschafft. Ziergiebel nahm den Taschenrechner zu Hilfe und setzte 70 Prozent zu 500 Flyern ins Verhältnis. 714. Also druckte er zur Sicherheit noch 215 Flyer nach, denn 500 hatte er bislang verteilt, und wenn die Statistik stimmte, müsste er eben noch 214 nachliefern. Die Verteilung verschob er auf den nächsten Tag, denn er fühlte sich geschlaucht. Tatsächlich lag er ziemlich richtig, denn als er die zweite Runde absolviert hatte, befanden sich in seinem Beutel noch 18 Flyer. Er hatte also exakt 697 Flyer verteilt. Der Taschenrechner sagte ihm dann, dass 3.487 geteilt durch 697 Haushalte fast genau 5 Personen je Haushalt ergab. Walther Ziergiebel vernachlässigte die Tatsache, dass er einige der Haushalte womöglich nicht mit dem Flyer versorgt hätte, und ließ die Zahl 5 auf sich wirken.

Fünf Personen pro Haushalt konnte mehreres bedeuten. Erstens wäre es möglich, dass viele Kinder dort leben würden, aber das konnte er aus eigener Erfahrung ausschließen, denn eine Schule gab es in Wildbach aufgrund der geringen Schülerzahlen nicht. Die Mädchen und Jungs mussten, genau wie er selbst früher, mit dem Bus in die 12 Kilometer entfernte Kreisstadt fahren. Also bedeutete die Fünf, dass in vielen Fällen tatsächlich drei Generationen unter einem Dach, und somit viele hochbetagte Bürger im Ort wohnten. Als Deutschlehrer stand Walther Ziergiebel naturgemäß mit der Mathematik auf Kriegsfuß, aber er wusste, dass die Fünf nur eine ziemlich grobe Näherung war, denn er selbst passte als Einpersonenhaushalt in dieses Raster ja auch nicht hinein. Dennoch war er sich ziemlich sicher, dass seine grundlegende Annahme von der Überalterung stimmte, und er beschloss, etwas dagegen zu tun.

Walther Ziergiebel hatte seine Vision des zukünftigen Wildbachs schon vor Augen. Er sah eine schmucke Eigenheimsiedlung, in der hochgebildete Fachkräfte wohnten, die auch die gesalzenen Quadratmeterpreise ohne weitere Diskussion gezahlt hätten. Da die Leute allesamt im besten Alter sein würden betrug die durchschnittliche Kinderzahl zwei. Etliche der Frauen blieben wegen ihrer hohen Ansprüche an die Kindererziehung für einige Zeit zu Hause und brachten so frischen Wind in das verschlafene Dorf hinein, indem sie Diskussionsgruppen, Handwerkszirkel und ähnliches etablierten. Die Männer, Wissenschaftler und Manager, würden sich nach ihren stressigen Arbeitstagen gern ein wenig die Zeit vertreiben, und wo könnte man das nicht besser tun, als auf einer gepflegten Golfanlage (die Ziergiebel zukünftig unbedingt noch bauen lassen wollte). Die Bauern hätten ihr Bauland zu hohen Preisen losgeschlagen können und wären somit auch in der Lage, etwas zur Verschönerung des Ortsbildes zu tun. Da sowohl die Neubürger, als auch die Alteingesessenen nunmehr über ausreichende finanzielle Mittel verfügen würden, viele Kinder jetzt in Wildbach anzutreffen wären, hätte auch der Handel einen großen Aufschwung genommen. Wildbach sollte sich nach den Vorstellungen von Walther Ziergiebel zu einer Geheimadresse im Speckgürtel der Landeshauptstadt entwickelt haben.

Wenn er gewusst hätte, was in der kommenden Zeit alles auf ihn einprasseln würde, hätte er die Finger besser von seiner Kandidatur als Bürgermeister gelassen. Noch verliefen seine Tage in einem recht gleichbleibenden Rhythmus, aber das sollte sich innerhalb der nächsten Monate dramatisch ändern. Walther Ziergiebel hatte keinen blassen Schimmer davon gehabt, was alles passieren könnte, wenn alte und neue Wertvorstellungen aufeinandertreffen würden, sich hochgebildete Leute wegen Nichtigkeiten in die Haare kommen, und zu viel Geld Streit nach sich ziehen würde. Allerdings würde der ehemalige Lehrer vielfach über sich selbst hinauswachsen, und seine Vision ein ordentliches Stück erfüllen können.

Der Maschinenbauingenieur

„Wenn dieses Rindvieh seinen Köter wieder an unsere Hecke schiffen lässt raste ich aus“ sagte Frank Beyer erregt zu seiner Frau Jana „das lasse ich mir jetzt nicht mehr länger bieten. Bloß weil dieser Sack Regierungsdirektor ist hat er nicht das Recht, mein Eigentum zu beschädigen.“

„Unser Eigentum“ erwiderte seine Frau vorsichtig.

„Egal“ tobte Frank Beyer weiter „ich werde das jetzt nicht mehr tolerieren. Wer Krieg will kann ihn gern bekommen. Ich bin bereit!“

Beyers Nerven lagen blank.

Der knapp 30jährige Mann war eigentlich ein beherrschter und rationaler Typ, wofür auch sein Beruf als Diplomingenieur des Maschinenbaus sprach. Mit 20 Jahren hatte er an der Universität der Landeshauptstadt sein Studium aufgenommen und zügig absolviert. Beyer war so organisiert gewesen, dass er die Regelstudienzeit punktgenau einhielt, denn er hatte keine Lust gehabt, noch drei oder vier Semester dranzuhängen, weil das in seinen Augen reine Zeitverschwendung gewesen wäre. Mit Disziplin und Fleiß hatte er das Studium durchgezogen und nebenbei noch in einem Lebensmittelmarkt an der Kasse gearbeitet, denn Geld war bei ihm immer knapp gewesen. Das lag keineswegs an einem ausschweifenden Lebenswandel, denn dieser passte überhaupt nicht zu Beyer. Vielmehr war der Grund der gewesen, dass Frank Beyer in einem Kinderheim aufgewachsen war und somit niemanden hatte, der ihm mal einen Schein zusteckte. Die Kindheit in dem Heim hatte den Mann stark geprägt. Schon als Junge musste er sich durchsetzen und Probleme ohne Hilfe von anderen meistern. Dieses Verhalten bestimmte sein weiteres Leben sehr deutlich, wobei Beyer keineswegs gefühllos war, bloß steckte ihm der Drang nach klaren Regeln und Ordnung tief in den Knochen. Selbstredend war er handwerklich außerordentlich geschickt. Damals im Heim hatte er erst Roller, dann Fahrräder und später die Motorräder der Erzieher repariert.

Aus dieser Zeit stammte sicher auch seine Fähigkeit, eine Konstruktion schnell begreifen zu können. Wie nebenher hatte er früher als Junge auch gern mit elektronischen Bauteilen herumgebastelt und ganz brauchbare Ergebnisse erzielt. Die Kinder und Jugendlichen im Heim waren vollkommen von den Socken gewesen, als Beyer eines Tages einen Schaltkreis so mit anderen Bauelementen arrangiert hatte, dass auf ein Händeklatschen von ihm hin die Beleuchtung anging. Natürlich waren dies nur Spielereien, aber der Junge hatte die grundlegenden Dinge der Elektrotechnik verinnerlicht. In der Schule kam Frank Beyer problemlos mit und auch das Abitur riss er auf der linken Arschbacke ab. Das Studium forderte ihn zwar mehr heraus, aber mit der ihm eigenen Zielstrebigkeit und Beharrlichkeit absolvierte Beyer auch diesen Bildungsabschnitt mit Bravour. Es brauchte nur drei Bewerbungen abzugeben, dann wurde er schon zu einem Vorstellungsgespräch in die Zweigniederlassung eines großen Konzerns gebeten. Seine sachlich und leicht unterkühlte Art schien gut anzukommen, und er stieg als Konstrukteur in der Forschungs- und Entwicklungsabteilung ein.

 

Beyers Lebensmotto war „Carpe Diem“, und so kniete er sich in die Arbeit hinein und war bald auf dem gleichen Wissens- und Kenntnisstand seiner Kollegen, die dort schon längere Zeit arbeiteten. Karrieredenken war ihm zu diesem Zeitpunkt vollkommen fremd, er wollte eigentlich nur eine ordentliche Arbeit abliefern. Dennoch blieb es nicht verborgen, dass sich Beyers Konstruktionen stets durch ein elegantes Design auszeichneten und immer materialsparend ausgelegt waren. Er fiel aus allen Wolken, als ihn der Abteilungsleiter eines Tages (Beyer war gerade einmal acht Monate in dem Unternehmen beschäftigt) zum Gespräch bat und ihm direkt die Perspektive aufzeichnete, in gut anderthalb Jahren seine Nachfolge antreten zu können. Beyer wusste nicht, ob er in der Lage sein würde, eine Mannschaft von immerhin 20 Leuten führen zu können. Bislang hatte er immer einen klar abgesteckten und überschaubaren Arbeitsauftrag gehabt und diesen gewissenhaft abgearbeitet. Als Abteilungsleiter würde sich einiges an seinem Aufgabenprofil ändern, aber er sah die Sache nach und nach immer mehr als Herausforderung an. Mit gerade einmal 27 Jahren trug er dann die Verantwortung für die gesamte Forschungs- und Entwicklungsabteilung. Wegen seiner korrekten Art und seines fachlichen Könnens gab es unter seinen nunmehrigen Mitarbeitern auch keinerlei Ressentiments gegen ihn. Frank Beyers Bezüge hatten sich mit der Beförderung nahezu verdoppelt. Abwägend wie er war, hatte er sich in einer kleinen Einraumwohnung eingemietet, was hätte er denn allein von einer größeren Wohnfläche. Zum Feierabend machte er es sich in einem Sessel bequem, stülpte sich Kopfhörer über, und genoss die Opern von Richard Wagner in voller Lautstärke. Auch dieser Sachverhalt, nämlich seine Liebe zu klassischer Musik (die er unbedingt laut hören musste) hatte ihn bewogen, sich nur diese Wohnung zu leisten, denn auch in einer besseren Wohnlage wäre es sicher unmöglich, den Tannhäuser aus den Boxen dröhnen zu lassen. Das wäre wohl nur auf dem Lande in einer abgeschiedenen Lage möglich, und dieser Gedanke nistete sich in Beyers Kopf immer mehr ein.

„Da kommt er“ zischte Frank Beyer seiner Frau zu und spähte durch das Fenster „er hat die Töle schon wieder nicht angeleint. Kuck‘ mal, jetzt hat der Köter bei Hartmanns an den Zaun geschifft. Vielleicht hat er dann sein Pulver verschossen, wenn er bei uns vorbei kommt.“

„Aber Frank“ versuchte ihn seine Frau zu beruhigen „du weißt doch, dass Rüden ihr Revier markieren müssen, die können gar nicht anders, als überall ein paar Tropfen abzulassen.“

„Hast du etwa auch noch Verständnis für diese Verhaltensweise“ regte sich Beyer auf „ich werde dieser Regierungsschwuchtel jetzt die Meinung sagen, verlass‘ dich drauf!“

„Bitte, Frank, das bringt doch nichts. Denke doch an die Straßenblockade vor zwei Tagen.“

Frank Beyer hatte sich vor drei Jahren immer ausgiebiger mit dem Projekt eines Hauses im Grünen und vor den Toren der Landeshauptstadt beschäftigt. Da er so gut wie nichts ausgab (außer für ein paar Klamotten, schließlich musste er als Abteilungsleiter im feinen Zwirn auf Arbeit erscheinen) wuchs sein Guthaben bei der Bank monatlich an. Er wusste, dass er aufgrund seines recht hohen Einkommens kreditwürdig war, und so rückte der Traum vom eigenen Heim langsam näher. Jetzt hieß es noch, ein geeignetes Grundstück zu finden, und er begann die Immobilienteile diverser Zeitungen zu studieren. Lange war nichts Passendes dabei, aber an einem Sonnabend fand er in einem Ort namens Wildbach ein erschlossenes und noch freies Wohngebiet.

Walther Ziergiebel hatte nach seiner Wahl zum Bürgermeister den Riemen auf die Orgel geschmissen und mächtig Gas gegeben. Zunächst musste er im Gemeinderat einen Bebauungsplan für die Eigenheimsiedlung durchsetzen. Ziergiebel hatte sich mit wieder enorm erweckter Tatkraft und unter Hilfestellung von Frau Weber, der Verwaltungsangestellten, in die umfangreichen und kaum zu durchschauenden Regelungen des Verwaltungsrechts eingelesen. Er wusste dann zumindest, dass eine Gemeinde in einer Satzung festlegen musste, welche Nutzung auf einer Fläche zulässig wäre. Dieser Plan sollte aus dem Teil A (Planzeichnung) und B (Textteil) bestehen. Frau Weber vermittelte Ziergiebel ein Treffen mit einem Planungsbüro, und der Bürgermeister sog alle Informationen wie ein Schwamm auf. Wenn er sein Büro so gegen 17 Uhr verließ, nahm er stets Akten mit nach Hause, und biss sich an diesen bis kurz vor Mitternacht wie eine angriffslustige Bulldogge fest. Die vor seiner Wahl so üppige Freizeit gab es jetzt nicht mehr, denn Ziergiebel hatte es sich fest vorgenommen, absolut sattelfest bei der Durchsetzung dieses Projektes zu sein. Das war er den Bürgern von Wildbach schuldig, schließlich hatten sie ihm das Vertrauen ausgesprochen. Nach weiteren Konsultationen mit dem Planungsbüro fühlte sich Ziergiebel sicher und rief den Gemeinderat zur Sitzung ein. Es kam, wie er es vorausgeahnt hatte. Da drei der fünf Gemeinderäte ausgesprochen großes Interesse an der Vermarktung ihrer Grundstücke hatten, wurde der vom Planungsbüro vorgelegte Bebauungsplan kurzerhand durchgewinkt, zumal auch der Umweltbericht nichts Nachteiliges ergeben hatte. Ein Projektentwickler, der auch die Akquisition durchführen sollte, stand Gewehr bei Fuß bereit. Als die Anzeige das erste Mal in der überregionalen Presse geschaltet wurde war Walther Ziergiebel auf die Resonanz gespannt. Diese war überwältigend, die Interessenten standen Schlange.

Frank Beyer verließ das Haus und postierte sich am Grundstückszaun. Regierungsdirektor Dr. Jürgen Ballauf bewegte sich auf der anderen Straßenseite und vermied es, zu Beyer hinzusehen. Ballaufs Hund war gut 10 Meter vor seinem Besitzer unterwegs und hob regelmäßig das Bein. Auf einen Pfiff seines Herrn kam er gehorsam zu diesem zurück und ließ sich anleinen. Mann und Hund befanden sich jetzt auf gleicher Höhe mit Frank Beyer, aber auf der anderen Straßenseite. Ballauf stoppte, und der Hund nutzte die Gelegenheit, um erneut das Bein zu heben. In diesem Augenblick schaute Ballauf triumphierend zu Beyer hin und drehte dann um.

Auf die Baugrundstücke in Wildbach hatte es einen regelrechten Run gegeben. Die Bauern hatten aus ihrer Sicht ordentliche Preise für den Quadratmeter verlangt, aber mehr aus dem Bauch heraus entschieden, und eine Analyse der üblichen Kosten unterlassen. Sie lagen knapp 8 Prozent unter den gängigen Werten, und das machte bei der im Eigenheimgebiet durchschnittlichen Grundstücksfläche von 800 Quadratmetern schon eine ganze Menge aus. Der Bebauungsplan wies die Gesamtfläche in Form eines sich zum Waldrand hin immer mehr verbreiternden Dreiecks aus. Vorn an der Straße waren die Preise naturgemäß am niedrigsten, zum Wald her nahmen sie zu. Frank Beyer hatte sich ein Grundstück gesichert, welches direkt am Ende des Dreiecks und somit am Wald lag. Es war exakt 834 Quadratmeter groß. Er konnte also davon ausgehen, dass er zumindest an der dem Wald zugewandten Seite keinen Nachbarn haben würde, sondern einen schönen Blick in die Natur. Dass der Ort Wildbach seinen Namen zu Recht trug, ahnte er damals nicht. Jedenfalls besichtigte er das Gebiet und sein Grundstück regelmäßig, denn es war erst einmal wichtig, sich ein Bild von der ganzen Anlage zu verschaffen, und dann über den Haustyp nachzudenken. Eile verspürte er nicht, er betrachtete schon allein den Erwerb des Grundstücks als Kapitalanlage. Für ihn lief momentan alles rund und es kam noch besser.

Manchmal gönnte er sich den Luxus eines Opernabends in der Spielstätte in der Landeshauptstadt. An diesem Abend saß er neben einer jungen Frau, die der Musik mit geschlossenen Augen folgte. Beyer schielte ab und an zu ihr herüber und sah, dass ihr an einer für ihn besonders schönen Stelle Tränen über die Wangen liefen. Das berührte ihn so stark, dass er sie in der Pause ansprach und auf ein Glas Sekt einlud. Jana Brettschneider war es als Psychologin gewohnt, mit seltsamen Verhaltensmustern der Menschen konfrontiert zu werden, und nahm die Einladung lächelnd an. Der Mann redete sich begeistert über die Struktur der Oper in Rage und sprudelte seine Interpretationen verschiedenster Passagen nur so heraus. Er drückte sich aus ihrer Sicht sehr gewählt und intellektuell aus, und es war ein Vergnügen, ihm zuzuhören.

Frank Beyer erregt in das Haus zurück.

„Eines Tages bringe ich dieses Arschloch noch um“ sagte er wütend „der hat mich wie so oft schon wieder provoziert. Lässt seine Promenadenmischung direkt gegenüber bei Neumanns an den Zaun schiffen und grinst mich dann auch noch an. Na gut, der Neumann ist ja auch nicht besser, von mir aus kann die Töle dort auch noch hin kacken. Am besten wäre es aber, der Bullterrier des Rappers würde diese hässliche Promenadenmischung in Stücke reißen und ihr so das Licht ausknipsen! Und diesem widerlichen Kerl gleich noch dazu den Schwanz und die Eier abbeißen!“

Jana Beyer wusste, dass ihr Mann an diesem Abend noch eine ganze Weile Zeit brauchen würde, um sich wieder einzukriegen. So richtig wunderte sie das nicht, denn in der letzten Zeit war an ihrem neuen Wohnort in Wildbach schon einiges gründlich schief gelaufen.

Das betraf auch etliche andere Neuankömmlinge in der Eigenheimsiedlung.