Identität im Zwielicht

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Identität im Zwielicht
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa


Copyright © Claudius Verlag, München 2021

www.claudius.de

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise –

nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Umschlaggestaltung: Weiss Werkstatt, München

Layout: Mario Moths, Marl

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2021

ISBN 978-3-532-60088-7

INHALT

Cover

Impressum

1. Prolog. Eine Selbstbeobachtung

2. Anliegen des Essays: Wut zur Differenzierung

3. Thinking Identity Politics. Theorien, Ideen, Diskurse

4. Doing Identity Politics. Die Praxis der Identitätspolitik in der Medienöffentlichkeit

5. Wider die Wolkenphobie: Keine Identifikation ohne Imagination

Anmerkungen

Über den Autor

„Was ist Identität? In Mathe ist das Äquivalenz der Werte unabhängig von den Variablen. Und im Leben? Ach, im Leben! Mein Gott, so viele Variablen, so viele zusammengeflochtene Wurzeln, die sich durchdringen und unter den Füßen wie Wolken zusammenballen.“

Adam Wodnicki1

„Sobald man anfing, über Identität nachzudenken, fächerte sich die Wirklichkeit in so viele Dimensionen auf, dass es keine richtigen Worte mehr für sie gab.“

Mithu Sanyal2

„Das Unsichtbare existiert, ich habe es nicht gesehen.“

John Kimble

„I believe the definition of definition is reinvention.“

Henry Rollins

„You cannot be just one colour. If the bloody thing is ever gonna work out properly, then we all have to intermarry and screw each other blind and get to be coffeeish. But then we’d still find people looking whiter than those guys, right?“

Lemmy Kilmister

„Ist der intensivste Moment im Theater dann erreicht, wenn die Schauspielerin auf der Bühne nicht mehr von ihrer oe_mt2 zu unterscheiden ist, weil sie im Grunde sich selbst spielt? Die Witwe wird von einer verwitweten Darstellerin gespielt, die Kinderreiche von einer kinderreichen, usw. – ist das unser Ideal: möglichst keine Differenz wahrzunehmen, auch nicht außerhalb der Performance?“

Olga Radetzkaja3

1.Prolog. Eine Selbstbeobachtung

Im Juni 2019 schaute ich auf YouTube die Musikvideos zu Bruce Springsteens neuem Album Western Stars an. Mich selbst beim Betrachten betrachtend und mir selbst beim Hören zuhörend, stellte ich nach einer Weile fest, dass ich eigentlich keine Klänge hörte und eigentlich keine Bilder betrachtete. Dass sie mich nicht berührten. Meine Aufmerksamkeit hatte sich sofort auf etwas anderes gerichtet: Warum sind in den Videos keine Afroamerikaner zu sehen? Warum tauchen kaum Frauen auf? Warum verharrt die Musik in der Tradition westlicher Rock- und Popmusik? Warum wird nur ein kleiner Ausschnitt der Lebensrealität in den Vereinigten Staaten von Amerika gezeigt? Ist das noch zeitgemäß?

Ähnlich erging es mir, als ich Clips der in Trinidad und Tobago geborenen R&B-Sängerin Nicki Minaj und des norwegischen Black-Metal-Projekts Gaahls Wyrd anschaute. Noch bevor mich ein Beat gepackt, eine Akkordfolge ergriffen oder ein Sound fasziniert hatte, identifizierte ich Hautfarben, Geschlechter, sexuelle Orientierungen, Herkünfte, mögliche politische Einstellungen. Melodien und Rhythmen folgten als Nachhut eines soziologischen Heeres.

Meine Wahrnehmung hatte sich in einen Scanner verwandelt, der minutiös Merkmale erfasste und meinem Hirn wie auf einer Quittung präsentierte. Früher hatte meine Wahrnehmung eher einem Nebelscheinwerfer geglichen, der schemenhafte Gebilde sichtbar machte, wie sie aus ihrer Umgebung auftauchten, wieder in sie eintauchten, ineinander übergingen. Und als ich diese Sätze schrieb, da schaute ich mir selbst über die Schulter und flüsterte mir einen Verdacht ins Ohr: Hast du einen heterosexuellen weißen Amerikaner, eine queere migrantische Frau und einen homosexuellen Skandinavier für den Prolog gewählt, um Diversity zu signalisieren? Bist du vielleicht einer von jenen, die aus Marktkalkül auf Vielfalt setzen? Ein Karrierist, ein Opportunist, ein Trittbrettfahrer, ein „Tokenizer“, der andere als Alibi instrumentalisiert?

Wenn ich Artikel verfasste, war ich in den letzten Jahren immer häufiger versucht, sie mit Verweisen auf meine Lebensgeschichte, mein Geschlecht, meinen Beruf, meinen Wohnort oder mein Alter beginnen zu lassen: „Ich als Mann finde, dass …“, „Für einen Kunsthistoriker wie mich ist es …“, „Wenn man wie ich …“, „Ich bin nun 41 Jahre alt und …“ Etwas in mir mahnte, eine Argumentation sei nur dann legitim, wenn ich, wie bei den Inhaltsstoffen eines Nahrungsmittels, deklarierte, aus welchen biografischen Stoffen sie bestand. Bereits meine Doktorarbeit über Arnold Schwarzenegger (2011) hatte mit dem Satz begonnen: „Indirekt ist diese Dissertation einer Wirbelsäulenschwäche geschuldet“ – ohne den Rat eines Physiotherapeuten, im Fitnesscenter meine Rückenmuskulatur aufzubauen, hätte ich als Teenager vielleicht nie zum Bodybuilding und damit nicht zu einem meiner späteren Forschungsgebiete gefunden. Ist somit nicht schlichtweg alles autobiografisch bedingt?

Mitunter ertappte ich mich dabei, wie ich mir dachte, dass sich meine Biografie und meine Lebensweise ganz gut für mein öffentliches Image instrumentalisieren ließen: „Du führst seit Jahrzehnten eine transnationale Paarbeziehung! Und was, wenn nicht dein Lebensstil zwischen Universität und Fitnesscenter, Heavy Metal und Biedermeier, West- und Osteuropa könnte von ‚Diversity‘ zeugen? In deiner Familie gibt es Geschichten von Flucht und Marginalisierung! Du bist Migrant, wenn auch kein prekärer, wirst gefragt, wo du ‚eigentlich‘ herkommst – mache was draus, exponiere diese Aspekte deines Lebens, du kannst davon nur profitieren!“ Und selbst wenn ich diese Instrumentalisierung ablehnte – hätte ich mich ihrer mit den eben formulierten Sätzen nicht doch schuldig gemacht, nur eben auf indirekte Weise? Gab es überhaupt ein Entkommen aus diesem Zirkel?

Ich versuchte mich zu erinnern, wie es gewesen war, Menschen und Dinge nicht als Trägermedien von Identitäten zu identifizieren, sondern – ja als was eigentlich? Vielleicht als etwas, das sich dem Zugriff der Identifizierung, Benennung, Klassifizierung auch widersetzt; als etwas, das die Grenzen unserer Sprache und Kategorien markiert; als etwas, das voller Widersprüche und in sich ironisch ist; als etwas, das mehr Potenzial als Istzustand, mehr Emergenz als ein geschlossenes, sich selbst reproduzierendes System ist.

Es ist schwer zu beschreiben, aber während mir immer bewusst war, dass es sich bei dieser oder jener Person um einen Mann oder eine Frau, um eine Schwarze oder einen Weißen, um einen Protestanten oder eine Muslima, um eine Homosexuelle oder einen Heterosexuellen, um eine Konservative oder einen Progressiven handelte, spielte das Wissen um diese Eigenschaften für mich eine geringere Rolle als das Wissen darum, dass Menschen ganz wesentlich das sind, was sie auch sein könnten, auch sein wollen, auch einmal waren; das Wissen darum, dass wir unsere Identitäten sowohl auf fernen Planeten, in ferner Zukunft, als auch auf Friedhöfen von Möglichkeiten, Träumen, Wünschen errichten – Friedhöfen, auf denen die Toten regelmäßig zum Leben erwachen. War ich ein müder Humanist und Universalist gewesen; einer, der in konkreten Einzelnen nur Vertreter einer abstrakten Menschheit gesehen hatte? Ein entrückter Liberaler, der fest daran glaubte, dass Menschen frei sind, sich zu formen? Ein possierlicher Träumer, der harte Realitäten ausblendete? Oder hatte ich im Gegenteil aus guten Gründen davon abgesehen, Menschen zu schubladisieren, die Kanäle offen und die Dinge im Fluss zu halten? Ich wusste es nicht mehr.

In den sozialen Netzwerken fiel mir auf, dass Diskussionen vulgarisiert wurden, indem Teilnehmer auf einen bestimmten Aspekt ihrer Identität reduziert wurden oder mehr noch die Identitäten der Teilnehmer auf ein einziges Merkmal. Meldete sich beispielsweise in einem Twitter-Thread eine Feministin zu Wort, so konnte man damit rechnen, dass ein rechter Troll sie angriff – das, was sie da sagte, sei doch nur Ausdruck einer linksgrünversifft-genderistischen Agenda, die Ordnung unterminiere und zu Chaos führe! Dass Feminismus nicht gleich Feminismus ist, dass es eine große Vielfalt feministischer Haltungen und Theorien gibt, geschenkt. Durch die reflexhafte Identifikation einer Aussage mit einer – angeblich homogenen – Gruppenidentität, so schien es mir, wurden Einzelne ihrer eigenen Stimme beraubt, zu einem Echo sozialer Donnerschläge erklärt. In diesem Zusammenhang beobachtete ich, wie umgekehrt Social-Justice-Aktivisten auf Twitter die Argumente weißer Männer gar nicht erst analysierten, sondern sie rundweg als Verbrämung von Privilegien einstuften. Selbst linke Akademiker, die sich in Lippenbekenntnissen von rechtskonservativen Populisten wie dem dampftwitternden Norbert Bolz distanzieren, verfielen dabei in die Muster ihrer Gegner und behaupteten etwa, Liberalkonservative seien per se bestrebt, ihren unverdienten wirtschaftlichen Erfolg gegen Kritik zu immunisieren. Selbstverständlich fand ich auch Godwin’s Law bestätigt: je länger ein Twitter-Thread, desto wahrscheinlicher Hitler- und Nazi-Vergleiche.

 

Und wie ich mich da so beobachtete, und mich beim Beobachten meiner Beobachtungen beobachtete, konnte kein Zweifel bestehen: Ich war zum Identitätspolitiker geworden.

2.Anliegen des Essays: Wut zur Differenzierung

In der Medienöffentlichkeit, vor allem in Meinungsbeiträgen, Kommentarspalten und Posts in den sozialen Netzwerken, ist Identitätspolitik ein Reizthema, ein Feld voller strategischer Missverständnisse. Aktivistische und analytische Ansätze werden munter vermischt oder es werden aufmerksamkeitsökonomische Debatten inszeniert, in denen viel geklickt wird und es wenig Klick macht. Die einen werfen den anderen vor, die Menschheit vor lauter Identitäten nicht mehr zu sehen; die anderen den einen, sie sähen die Identitäten vor lauter Menschheit nicht. Für Humanisten gibt Identitätspolitik das Verbindende der Menschheit preis, für die Verfechter postmoderner Identitätspolitik besteht dieses Verbindende traditionell aus luftigen Ideen statt belastbarem Klebstoff. Rechte werfen Linken Identitätspolitik vor, Linke werfen Rechten Identitätspolitik vor. Beide haben recht, dass die jeweils andere Seite Identitätspolitik betreibt, und verstehen doch jeweils etwas anderes unter dem Reizwort. Für Rechte ist das eigene Volk die unterdrückte, gefährdete Minderheit, für Linke unterdrückt ebenjenes Volk Minderheiten diesseits und jenseits der Landesgrenzen. Aber auch innerhalb der beiden Lager besteht Dissens. Materialistische Linke sehen in Identitätspolitik eine Schrulle postmoderner Kulturlinker – anstatt mit angeblichen Marginalisierten Opferolympiaden zu veranstalten, solle man sich besser auf die breite ökonomische Basis besinnen! Postmoderne Kulturlinke hingegen werfen materialistischen Linken ein einseitiges Weltbild vor: Materielle Ungleichheit kann durch die kulturelle Abwertung von Identitäten verursacht werden! Neue Rechte verspotten derweil traditionalistische Rechtskonservative für ihre angeblich biederen Identitätsvorstellungen, traditionalistische Rechtskonservative wiederum können mit den aggressiven popkulturellen Inszenierungen der Neuen Rechten wenig anfangen. Konsumkritiker erkennen in Identitätspolitik ein Werkzeug des Neoliberalismus, der an einer Pluralisierung von Konsumentengruppen interessiert ist und frohlockt, wenn wieder mal eine neue Gender-Kategorie auftaucht. Konsumapologeten sehen in Identitätspolitik eine Möglichkeit, endlich maßgeschneiderte Angebote für die „Gesellschaft der Singularitäten“ (Andreas Reckwitz) machen zu können – als Antidot zum Universalismus des Henry Ford zugeschriebenen Werbeslogans für Autolackierungen: „You can have any color you like, as long as it’s black.“

In diesen Schaukämpfen geht es selten darum, Stärken und Schwächen von Identitätspolitik nüchtern und verantwortungsvoll zu analysieren, sondern darum, Identitätspolitik im Sinne der eigenen, nun ja: Identität zu instrumentalisieren. Es ist durchaus amüsant, dass fast jede Art der Ablehnung von Identitätspolitik wiederum die Identitätspolitik bestätigt: Die Gründe, diese oder jene Form von Identitätspolitik abzulehnen, speisen sich jeweils aus einer bestimmten Identitätsvorstellung, die – oft unausgesprochen – gegen eine andere Identitätsvorstellung verteidigt wird. In der Lebenswelt aber ist dieses Spiel nicht amüsant, sondern zynisch. Wird etwa eine weiße Deutsche Opfer eines Gewaltverbrechens, lechzen weiße deutsche Rassisten nach der Meldung: Der Täter ist ein Ausländer, besser noch ein Flüchtling! Wird ein eingewanderter Imam in Deutschland Opfer eines Gewaltverbrechens, wie es 2020 im württembergischen Ebersbach der Fall war, gehen Kritiker angeblicher Islamfeindlichkeit davon aus, dass „Islamophobie“ das Motiv war.4 So wunderte sich die Journalistin Ferda Ataman kurz nach Bekanntwerden des Verbrechens, „dass das kein @tagesschau-Thema sein soll …“5 Zu diesem Zeitpunkt liefen die Ermittlungen noch und es wäre fahrlässig gewesen, den Fall zu einem Politikum zu machen. Wenig später standen der Bruder und die Lebensgefährtin des Getöteten unter schwerem Tatverdacht.

Medien suggerieren mit klickbeuterischen Überschriften und überdrehten Leads, man müsse sich entscheiden: Ist Identitätspolitik gut oder schlecht? Sollte man sich ihren Befürwortern anschließen oder ihren Gegnern? Der Lead zu einer Polemik des Schriftstellers Maxim Biller stellt fest: „Linke Identitätspolitik begreift Menschen nur als Mitglieder von Opfergruppen.“6 Die Migrationsforscherin Sandra Kostner meint, „es“ gehe darum, „der Gesellschaft ein identitäres Weltbild aufzuzwingen“7. In der Neuen Zürcher Zeitung prangt über einem Artikel des Politikwissenschaftlers Mark Lilla die Überschrift „Identitätspolitik ist keine Politik“.8 In der Washington Post hingegen will der Philosoph Kwame Anthony Appiah herausgefunden haben, dass „alle Politik Identitätspolitik“ sei – zumindest behauptet das der Lead.9 Wenn aber alle Politik Identitätspolitik ist, dann ist der Begriff redundant. Auch der Lead zu einer teils fundierten Kritik des (klassisch) linken Regisseurs Bernd Stegemann an Identitätspolitik im Spiegel hält klipp und klar fest: „Identitätspolitik ist für die Linke ein Irrweg.“10

Typisch für derlei pauschale Feststellungen und empörungsfixierte Framings sind Kollektivsingulare, bei denen nie klar ist, wer eigentlich gemeint ist – „die“ Menschen, „die“ Identitätspolitik, „die“ Gesellschaft, „die“ Linken, „die“ Rechten, „die“ Frauen, „die“ Schwarzen, „die“ Weißen. Auch beziehen sich die Autoren meist nicht auf Primärquellen, sondern auf Aussagen über Aussagen über Aussagen. Anstelle präziser Analyse und Empirie tritt Raunen – ein Raunen, das Einwände erschweren soll, da es nie gänzlich abwegig und nie gänzlich zutreffend ist. Etwas wird schon dran sein! Ganz falsch werden sie schon nicht liegen! Wo Rauch ist, ist auch Feuer! Doch Feuer können auch von Brandstiftern stammen.

Die zitierten Überschriften und Leads sind wie Ohrfeigen, die man Menschen als freundliche Aufforderung verpasst, ein vernünftiges Gespräch zu führen. In der Netzöffentlichkeit kommentiert und diskutiert werden genau diese Zuspitzungen – und das wissen die verantwortlichen Verlage und Redaktionen sehr genau. Die oft viel differenzierteren Texte unter den Überschriften und Leads degenerieren zu Nebenschauplätzen.

Aktivisten wiederum pflegen aus nachvollziehbaren Gründen keine sachliche, nüchterne, abwägende, sondern eine instrumentelle Sicht der Dinge. So schrieb der Antirassismus-Aktivist Stephan Anpalagan 2020 auf Twitter, „es“ gehe „immer“ nur darum, „den islamistischen Terror allen Muslimen dieser Welt zuzuschreiben …“ Muslime würden „pauschal für ihre Religion“ diskriminiert.11 Sachlich ist das falsch, ein strategisches Missverständnis – so differenzierte etwa Emmanuel Macron in seiner Separatismus-Rede 2020 eindeutig zwischen Muslimen und Islamisten, mehr noch, er führte die Spannungen in Frankreich auch auf das „Versagen der Republik“ zurück.12 Im Grunde können die Aussagen Anpalagans noch nicht einmal verifiziert werden, da der Autor nicht angab, wer gemeint ist. Er betrieb Identitätspolitik der raunenden Sorte, wie man sie auch im gegnerischen Lager, etwa beim jungliberalen Twitter-Rambo Ben Brechtken, findet: Die Welt wird in zwei diffuse Gruppen aufgeteilt und eine davon ist böse. Zeitangaben wie „immer“ und Kollektivsingulare, verpackt in Formulierungen à la „es geht nur darum“, verunmöglichen ein sinnvolles Gespräch. Ihre Funktion ist es, die eigenen Behauptungen gegen Einwände zu imprägnieren. Unabhängig von der jeweiligen politischen Haltung operiert eine solche instrumentelle Redeweise mit „Provokation und Allusion“, um ein „Double-Bind“ zu erschaffen: „… eine Situation, in der jede Handlung mit einer negativen Sanktion verbunden ist. Egal, was man tut, man kann nur verlieren. Oder zumindest lässt es der Double-Bind so aussehen. So wird der populistische Denker in jedem Fall bestätigt.“13

Ziel dieses Essays ist es, die Debatten über Identitätspolitik auf eine nüchterne Basis zu stellen. Er vernünftelt bisweilen, ist von einem unheroischen Hang zum Kompromisslerischen durchzogen, gibt sich, selbst wenn er polemisch wird, versöhnlich – Konterrevolutionsverdacht! Die Polemik gilt dabei spezifischen Formen der Identitätspolitik, nicht dem Phantasma einer homogenen Identitätspolitik als solcher.

Keine steilen Thesen, stattdessen Suche nach Konsens. Keine klientelistische Zuspitzung, stattdessen Abwägung. Keine ideologische Projektion, sondern möglichst genaues Hinschauen. Kein kulturkämpferisches Bashing von linker Political Correctness oder, umgekehrt, von rechtem Konservatismus, stattdessen Differenzierung und kritischer Pragmatismus. Und doch ist auch dieser Text von einer starken Emotion getragen, nämlich von Wut – von Wut auf Vulgarisierung, Ideologisierung, Polarisierung, Scheuklappendenken in unserer hybriden Medienlandschaft. Allein, es ist eine Wut zur Differenzierung.

Ich möchte einen liberalen Zugang zur Identitätspolitik skizzieren; einen Zugang, der sich zwischen die Fronten begibt, anstatt sich in die Schützengräben zu ducken. Wenn es heute, neben materieller Ungleichheit, asymmetrischen Machtverhältnissen und kulturellen Hegemonien, eine echte Gefahr für die offene Gesellschaft gibt, dann ist es, wie der Journalist Rafael Behr richtig diagnostiziert, das „Verschwinden eines gemeinsamen öffentlichen Bezugssystems, in dem Ideen auf vernünftige Weise diskutiert werden können“14. Voraussetzung für ein solches Bezugssystem ist es, Identitäten nicht als geschlossene Systeme zu begreifen und Aussagen von Menschen nicht vorschnell auf unterstellte Identitätsinteressen zu reduzieren. Stattdessen sollte man auch nach Verbindendem und nach doppelten Böden suchen. Die Frage „Was unterscheidet die Erfahrungen eines prekär lebenden, schwarzen alten Mannes in Deutschland von den Erfahrungen einer reichen, weißen jungen Frau in Deutschland?“ ist zwar wichtig. Aber ebenso wichtig ist die Frage, was die beiden – und sei es nur potenziell – verbindet. Von einem bin ich überzeugt: Menschen tauschen sich nicht in einer prästabilierten „gemeinsamen Welt“ aus. Die gemeinsame Welt entsteht vielmehr erst durch Austausch.

Menschen sind keine heiligen Texte, vermittels derer eine transzendente Macht eine unmissverständliche, nicht interpretationsbedürftige Botschaft sendet. Wenn man einen echten Zugang zu echten Menschen finden möchte, sollte man keinem Offenbarungsglauben anhängen. Vielmehr ist es ratsam, sich der historisch-kritischen Methode zu bedienen – so wird man, von Extremisten einmal abgesehen, unweigerlich auf Vielschichtigkeiten, Ambivalenzen, Widersprüche und damit auf Verbindungspunkte zwischen unterschiedlichen Haltungen und Lebenswegen stoßen. Der Literaturkritiker Ijoma Mangold bemerkte dazu 2018 in einer Fernsehsendung: „Es ist sehr schwer, über einen Menschen den Stab zu brechen, von dem Sie etwas wissen. So wie der Mensch anonym oder kollektiviert ist, können wir die härtesten Urteile über ihn aussprechen. Haben wir einmal mit ihm ein Bier getrunken, ist das schon sehr sehr viel schwieriger.“15 In der Gruppenidentität als Fremdzuschreibung, aber teils auch in der Selbstzuschreibung, passiert genau das: Ein Individuum wird kollektiviert und anonymisiert, es verschwindet hinter einem Begriff.

Wer nun, von latenter Endgegnersehnsucht getrieben, einwendet: „Aber Hitler! Stalin! RAF! NSU! Rote Brigaden! Breivik! Wie könnte man da ambivalent bleiben! Da hilft doch wohl kein ‚Bier trinken‘!“, dem sei zweierlei entgegnet. Erstens gilt mit einer rechtswissenschaftlichen Maxime: „hard cases make bad law“. Gegen das ultimativ Böse zu sein, ist die leichteste Übung und dient primär der Selbstbeweihräucherung. In den Worten des Politologen Andreas Püttmann gilt für die ungleich herausforderndere Praxis: „1. Prävention bei Gefährdeten. 2. Bei ‚Angefixten‘ im Frühstadium: diskutieren, um jede Seele kämpfen. 3. Bei gefestigt Verhetzten: Trennen, Ausgrenzen.“16 Zweitens waren es gerade von monumentalen Ideen besoffene Menschen wie Hitler und Stalin, die Vielschichtigkeiten, Ambivalenzen, Widersprüche mit ihren mörderischen, kollektivistischen Identitätspolitiken zerstören wollten. Kein liberaler, menschenfreundlicher Geist sollte sich ihnen anverwandeln.

 

Während ich dies schreibe, muss ich an Fritz Bauer denken, diesen wunderbar eigensinnigen, vom Geist der Liberalität – nicht des Liberalismus! – durchdrungenen Generalstaatsanwalt, der im Deutschland der Nachkriegszeit maßgeblich zur Festnahme Adolf Eichmanns und zur Durchführung der Auschwitz-Prozesse beitrug. Bauer hatte ein feines Gespür dafür, wer an konstruktiven Lösungen interessiert war und wer Zwietracht säen wollte, um selbst an die Macht zu kommen. So blickte er in seinem Vortrag Die Wurzeln faschistischen und nationalsozialistischen Handelns (1960) auf die Weimarer Republik zurück und stellte fest: „Die Parteien auf der äußersten Linken und Rechten – die Kommunisten und die Nazisten – wuchsen ständig, waren aber zu einem positiven und konstruktiven Mitwirken nicht bereit. Sie verstärkten mit Absicht das Chaos, um im Trüben zu fischen.“17 Hätte er dies heute auf Facebook geschrieben, hätte ihn mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Schwarm identitärer Empörter als Hufeisentheoretiker, als Fürsprecher einer Gleichsetzung von Rechts- und Linksextremisten, diffamiert. Man hätte die Aussage einer Identität zugeordnet – „die Hufeisentheorie ist ein rechtes Narrativ!“ –, um sie zu disqualifizieren.

Auch Bauers Differenzierung zwischen Nazismus (größtes Übel) und Faschismus (kleineres großes Übel) wäre dem Facebookschwarm wie eine Relativierung vorgekommen. Aber Bauers Punkt war ein anderer. Man könnte ihn wie folgt umreißen: Es gibt Menschen, die wollen Lösungen im Sinne dessen, was der Philosoph John Rawls in seiner Theorie der Gerechtigkeit (1971) „überlappenden Konsens“ nannte. Sie streben nach Gerechtigkeit in einer pluralen, offenen Gesellschaft, nicht nach Rache oder Genugtuung, nicht nach Durchsetzung ihrer partikularen Weltsicht, nicht nach Bestätigung einer Theorie oder Ideologie. Sie verabsolutieren ihre Haltungen und Erfahrungen nicht, sondern können und wollen sie mit den Erfahrungen anderer relationieren. Mit solchen Menschen lässt sich ein Staat machen. Und es gibt Menschen, die kämpfen gegen das aus ihrer Sicht Böse nur deshalb, weil sie ihre eigene Sicht und ihre eigene Version des Guten bestätigt sehen wollen. Mit diesen Menschen lässt sich zwar auch ein Staat machen. Allein, nur ein autoritärer.

Vielsagend ist, dass man meinen liberalen Ansatz wiederum identitätspolitisch – also zirkulär – begründen könnte, nämlich als Spiegelbild meines Werdegangs. Wenn man so will, lebe ich ein Sowohl-als-auch-Leben zwischen den Schützengräben. Ich bin Wissenschaftler, Journalist, Kraftsportler, Musiker, Fitnesstrainer, Professor, Freiberufler, Schwabe, Wahlschweizer, Teilzeitpole, liberal, sozial, progressiv, konservativ. Die Kategorien „links“ und „rechts“ lehne ich für mich ab, weil sie zum einen eine simplistische binäre Ordnung des Politischen suggerieren und in der Realität nie in Reinform, sondern immer nur in Mischverhältnissen auftreten. Zum anderen, weil es eurozentrische, aus der Ära der französischen Revolution stammende Kategorien sind, für die es in vielen Weltgegenden keine Entsprechung gibt. Auch sollte nicht vergessen werden, dass es nach der französischen Revolution Jahrzehnte dauerte, bis Frankreich zur Demokratie wurde. Wer das Links-Rechts-Schema für unverzichtbar hält, kann ebensogut versuchen, sich von Dinosaurierfleisch zu ernähren.

Konfliktlinien verlaufen nicht einfach zwischen „rechts“ und „links“. Sie verlaufen zwischen denen, die bereit sind, Grausamkeit und Ungerechtigkeit hinzunehmen, und denen, die nicht dazu bereit sind. Gerechtigkeit, und insbesondere Verfahrensgerechtigkeit, transzendiert die politischen Lager. Diese Haltung scheint Taiwans Digitalministerin Audrey Tang zu vertreten, wenn sie über ihre Vision für ihr Land sagt: „Jedes Jahr wächst Taiwan zweieinhalb Zentimeter in den Himmel. Wir sitzen nämlich auf der Trennlinie zwischen der eurasischen und der philippinischen Erdplatte, die ständig aufeinanderstoßen. Diese Spannung, dieser Druck, der dort aufgebaut wird, erleichtert uns die Vorstellung, dass Innovation etwas ist, das Widerstand überwindet. Und wir bewegen uns dabei nicht nach links oder rechts, sondern nach oben. Taiwan wächst also in den Himmel – seit ein paar Millionen Jahren.“18

Ungeachtet meiner Ablehnung des Rechts-Links-Schemas, habe ich in manchen Belangen Überzeugungen, die man als links bezeichnen könnte. Ich bin links, weil Gesellschaft und Staat geburtslotteriebedingte Ungerechtigkeiten auszugleichen haben. Ich bin progressiv, weil ich weiß, dass das Gute und Gerechte nur überdauern kann, wenn es sich wandelt. Ich bin konservativ, weil ich ungern auf Trends aufspringe, gerne etwas zu verlieren habe, langfristig denke und es nicht mag, Menschen, Dinge, Ereignisse zu konsumieren und zu verbrauchen wie Süchtige Drogen. Mit politisch rechts Stehenden habe ich nie etwas anfangen können, allenfalls könnte man mir einen Hang zu Kraft, Härte, Disziplin attestieren – indes, Härte mir selbst, nicht anderen gegenüber. Ich bin aber vor allem liberal, weil ohne das Korrektiv der Freiheitsliebe weder Konservatismus noch Progressismus noch Sozialismus noch Demokratie menschenfreundliche Verhältnisse schaffen können. All das passt in keine „Identität“, die sich auf einen Begriff bringen ließe. Also muss man Sätze bilden.

Fasziniert haben mich stets ambivalente Menschen, nicht solche, die immer schon wissen, wo es langgeht, und sich selbst auf der Seite der Guten verorten. In meinem kurzen Leben habe ich tolle Feministinnen, venerable Konservative, freisinnige Linke, soziale Liberale, schwule Katholiken, sinnenfrohe Protestanten, sensible Metaller, feingeistige Bodybuilder und progressive Patriarchen kennengelernt. Die meisten in den Medien und in aktivistischen Kampfslogans kolportierten Identitätsklischees finde ich in meinem Umfeld nicht wieder. Wohl aufgrund dieser Erfahrungen tauge ich nicht zum Kulturkämpfer. Die Lebensrealität ist unseren engen Begriffen und Theorien oft voraus. Der Wirtschaftswissenschaftler und Nobelpreisträger Amartya Sen hat es auf den Punkt, genauer gesagt auf viele Punkte gebracht: „Eine Person kann gänzlich widerspruchsfrei amerikanische Bürgerin, von karibischer Herkunft, mit afrikanischen Vorfahren, Christin, Liberale, Frau, Vegetarierin, Langstreckenläuferin, Historikerin, Lehrerin, Romanautorin, Feministin, Heterosexuelle, Verfechterin der Rechte von Schwulen und Lesben, Theaterliebhaberin, Umweltschützerin, Tennisfan, Jazzmusikerin und der tiefen Überzeugung sein, dass es im All intelligente Wesen gibt, mit denen man sich ganz dringend verständigen muss (vorzugsweise auf Englisch).“19

Damit wird keiner müden „Mitte“, wie sie der Politikwissenschaftler Jan-Werner Müller beschreibt, das Wort geredet: „Die Vorstellung jedoch, die Mitte sei unter allen Umständen golden, ist insofern irreführend, als man sich damit offensichtlich von der Positionierung anderer abhängig macht. Ein gesundes Maß Skepsis gegenüber den eigenen Überzeugungen und praktischen Ideen ist sicher lobenswert. Sie ersetzt aber kein politisches Programm, das überhaupt erst einmal Orientierung schafft.“20 Zu diesem Programm gelangt man jedoch nur, indem man sich mit verschiedenen Angeboten vertraut macht, sie vergleicht, sie prüft, sich erst dann entscheidet. Deshalb ist es an der Zeit, die Mitte nicht als Wellness-Zone, sondern als ein Spannungsfeld zu begreifen, das durch die Überschneidungen verschiedener Haltungen und Erkenntnisse gebildet wird. Die so verstandene Mitte ist relational, nicht relativistisch; sie ist Metal-Moshpit, nicht Opernloge. Hier bekommt man die eigenen Grenzen aufgezeigt und muss sich mit Gegnern auseinandersetzen, anstatt sich aus sicherer Distanz im Besitz des Guten, Edlen und Wahrhaftigen zu wähnen. Mäßigung ist dahingehend das immer nur vorläufige Ergebnis intensiver Auseinandersetzungen und schmerzhafter Konfrontationen – nicht der Versuch, solche Auseinandersetzungen und Konfrontationen gar nicht erst aufkommen zu lassen. Die Mitte ist somit ein Ort, an dem es ziemlich ungemütlich werden kann, wie der Philosoph Gerald Raunig nahelegt: „Die Mitte ist reißend, weil in ihr die Dinge Geschwindigkeit aufnehmen, ein Strom, der in alle Richtungen überfließt, das Gegenteil von reguliertem Mainstream, Mittelmaß und Vermittlung.“21

Manche Kommentatoren kokettieren hingegen mit der Rolle puristischer Revolutionäre und insinuieren, Differenzierung und Abwägung seien so etwas wie konterrevolutionäre Akte. Wer differenziert, kollaboriert! So unkte der Literaturwissenschaftler Johannes Franzen 2019 auf Twitter: „Um den Riss in unserer Gesellschaft zu kitten, haben wir eine App entwickelt, die automatisch unter politische Tweets einen Aufruf zur Mäßigung und Differenzierung kommentiert. Jetzt brauchen wir eure Unterstützung, Spendenziel sind 870.000 Euro.“22 Aus Franzens Zeilen spricht ein alter bourgeoiser Habitus, der sich seit den bürgerlichen Bürgerkritikern à la Gustave Flaubert im Berufsdenkertum etabliert hat. Bürgerkinder greifen vom Schreibtisch aus bürgerliche Ikonen an, um selbst zur bürgerlichen Ikone zu werden; sie kritisieren das Bürgerliche aus zutiefst bürgerlicher Position: „Der Abscheu vor dem Bürger ist bürgerlich“, notierte Jules Renard (1864–1910) in sein Tagebuch.