365 Schicksalstage

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Februar


Die „Mühlviertler Hasenjagd“

Das Thermometer in dieser Nacht vom 1. auf den 2. Februar 1945 zeigt acht Grad unter null. Im Block 20, dem „Todesblock“ des KZ Mauthausen, bereiten sich etwa 500 „K-Häftlinge“, vor allem kriegsgefangene Offiziere der Roten Armee, auf den Ausbruch vor. Alle wissen: Es besteht nur eine kleine Chance zu überleben – bleiben sie jedoch im Block, so ist ihnen der Tod gewiss; die Lebenserwartung hier beträgt nur wenige Wochen. Für den Angriff auf die zwei Wachtürme haben die Häftlinge Steine, Kohlenstücke, Holzschuhe und Feuerlöscher vorbereitet; mit feuchten Bettdecken und Kleidungsstücken der 75 kranken Mithäftlinge, die im Block zurückbleiben, wollen sie den elektrischen Zaun kurzschließen, der zusammen mit einer 2,5 Meter hohen Steinmauer den „Todesblock“ vom übrigen Lager trennt. Wenige Minuten vor dem Ausbruch hält ein russischer General eine Ansprache: „Im letzten Kampf werden viele von uns oder alle fallen.“

Um 1 Uhr früh beginnt die verzweifelte Aktion: Zunächst erdrosselt man den Blockältesten und seine Stubendienstleute, dann bildet man zwei Kampftrupps, der erste greift die Wachtürme an, der zweite sorgt für den Kurzschluss und das Ausgehen des Lichts im Lager. Tatsächlich gelingt es der ersten Gruppe, den östlichsten Wachturm zu erobern; mit dem hier befindlichen Maschinengewehr schalten sie auch den SS-Posten auf dem nächsten Turm aus. 419 Häftlinge können die Mauer und das Lagerareal überwinden und erreichen freies Gelände, vielen fehlt jedoch die Kraft, um weiter in die Wälder zu fliehen, sie werden rasch wieder aufgegriffen und so wie die Kranken im Block 20 sofort getötet. Eine Großfahndung nach „500 Schwerverbrechern“ wird eingeleitet; neben der SS beteiligen sich auch Einheiten der Wehrmacht, des Volkssturms und Hitlerjugendgruppen sowie zahlreiche Mühlviertler an der „Treibjagd“ auf die Geflohenen; der Befehl lautet: „Sie müssen sofort unschädlich gemacht werden. Niemand darf gefangen werden, alle sind sofort umzulegen!“

Johann Kohut, Kommandant des Gendarmeriepostens Schwertberg, vermerkt nach Kriegsende in seiner Chronik: „Ein großes Morden begann, ein richtiges Blutbad. Der Schneematsch färbte sich rot mit Blut der Erschossenen.“ Es sind wohl nur elf entflohene Häftlinge, die überleben, unter ihnen Michael Rjabschtinskij und sein Freund Nikolaj Zemkalo, die von der Familie Langthaler auf ihrem Bauernhof im Dorf Winden bei Schwertberg bis Kriegsende versteckt werden. Die Bäuerin Maria Langthaler, die selbst fünf Söhne bei der Wehrmacht hat, rechtfertigt später ihr Tun: „Der Herrgott ist für die ganze Welt, nicht nur für die Deutschen.“


Aufstand in Kärnten

Den Kärntner Bauern reicht es endgültig: Schon wieder will Kaiser Friedrich III. die Steuerlast erhöhen – für jeden „Agleier“ (= Pfennig aus Aquileia) Steuerschuld will sein Verwalter nun zwei neue Pfennige einheben, sie sind aber höchstens bereit, drey helbling, also drei Halbpfennige, für den „Agleier“ zu geben. Vorwand für die 1469 einsetzenden Erhöhungen der Abgabenlast sind die Türkeneinfälle – erstmals plündert und mordet eine türkische Streifschar im September 1473 in Kärnten – und gerade das schürt die Wut der Bauern, denn die für ihr gutes Geld angeworbenen Söldner schützen vielfach nur die Grundherren auf ihren Burgen. Da die vorgesehenen Sperren und Bollwerke nur unzureichend oder gar nicht mit Truppen besetzt werden, sind sie und ihre Familien schutzlos den „Rennern und Brennern“ ausgeliefert. So hat etwa der Kaiser im Kloster Millstatt mit großem Pomp eine „Filiale“ des St.-Georgs-Ritterordens ins Leben gerufen, die tapferen Ritter ziehen es aber vor, hinter den sicheren Klostermauern zu verweilen. Zu Maria Lichtmess 1476 beschließen die Bauern deshalb, zur Selbsthilfe zu greifen – der Chronist Jakob Unrest, ab 1466 Pfarrer in St. Martin am Techelsberg, berichtet in seiner Österreichischen Chronik über diese Vorkommnisse: Indem besambten (versammelten) sich die pawren an die 40 und machten ainen pundt. Und der obrist was ein pawr, genannt Peter Wunderlich. Derselb pundt wuechs in kuertz als ain klains wasser von ainem grossen Wolckhenpruch.


Bauern beim Schneiden des Korns mit der Sichel.

Friedrich III. hat zwar kayn gevallen an dem Aufstand, unternimmt jedoch wie gewohnt nichts und schickt nur einen Brief, in dem er bei Todesstrafe verbietet, diesem Bund beizutreten – die pawren verachten das schreyben gantz mit spottlichen worten. Peter Wunderlich, dem Anführer des „Bundes“, gelingt es, eine kleine Streitmacht von etwa 3.000 Bauern zu sammeln, mit der er am 25. Juni 1478 auf der „Goggauer Wiese“ bei Coccau in der Nähe von Tarvis einer türkischen Reiterschar entgegentritt. Der Großteil der Bauern verliert jedoch angesichts des bevorstehenden Kampfes den Mut und flieht, die verbleibenden, etwa 600 Mann, werden von Türken umzingelt und getötet oder gefangen genommen.

Die verheerende Niederlage auf der Goggauer Wiese bedeutet auch das Ende des Bundes; die obersten pundtleut fallen schließlich in die Hände der kaiserlichen Häscher und werden hingerichtet; Peter Wunderlich, der bei Gmünd gefangen genommen wird, findet ein schreckliches Ende: Er wird beim Schloss Litzlhof in Lendorf durch Vierteilen bei lebendigem Leib gerichtet.

Die Peter-Wunderlich-Straßen in Klagenfurt und Spittal erinnern heute noch an den unglücklichen Bauernführer.


Kapitulation in Stalingrad

Die letzten Einheiten des XI. Armeekorps der Wehrmacht stellen im Nordkessel den Kampf ein; um 8.40 Uhr wird ein letzter Funkspruch an General Hube bei der Heeresgruppe „Don“ abgesetzt: „XI. AK. hat mit seinen 6 Divisionen in schwerstem Kampf bis zum letzten Mann seine Pflicht getan. Es lebe der Führer! Es lebe Deutschland!“ Die Schlacht von Stalingrad, die seit dem 13. September 1942 tobte, ist zu Ende, die Wehrmacht hat eine katastrophale Niederlage erlitten, der Mythos ihrer Unbesiegbarkeit ist endgültig zerstört. Etwa 10.000 überlebende Soldaten der Wehrmacht und verbündeter Truppen geraten in Gefangenschaft, unter ihnen viele Österreicher. Von den ursprünglich etwa 230.000 Soldaten der Wehrmacht im Kessel sind 50.000 aus der „Ostmark“, die vor allem bei der 44. und der 297. Infanteriedivision sowie bei der 100. Jäger-Division für den „Führer“ kämpfen und sterben. Nur 1.200 österreichische Stalingrad-Kämpfer werden nach dem Krieg aus sowjetischer Gefangenschaft zurückkehren.

Bereits am 22. Jänner 1943 hatte Generaloberst Paulus in einem Funkspruch an Hitler um die Genehmigung zur Kapitulation gebeten. Darin hatte er kurz die verzweifelte Lage zusammengefasst: „44., 76., 100., 305., 384. Infanteriedivision vernichtet, Front infolge starker Einbrüche vielseitig aufgerissen. Stützpunkte und Deckungsmöglichkeiten nur noch im Stadtgebiet. Weitere Verteidigung sinnlos. Zusammenbruch unvermeidbar. Armee erbittet, um noch vorhandene Menschenleben zu retten, sofortige Kapitulationsgenehmigung.“ Das Leben seiner Soldaten ist jedoch für Hitler kein Argument – er lehnt ab: „Kapitulation ausgeschlossen! Die Armee erfüllt damit ihre historische Aufgabe, den Aufbau einer neuen Front beiderseits Rostow zu ermöglichen, Kampf bis zur letzten Patrone!“

Tag für Tag, Stunde für Stunde hatte sich sich die Lage im Kessel verschlimmert. Mit dem Aussetzen der Versorgungsflüge war die Verpflegung der Truppen völlig zusammengebrochen; jede Einheit lebte von ihren letzten eisernen Reserven. Es gab kein Verbandsmaterial und keine Medikamente mehr, in den als Notfeldlazarette eingerichteten Schulen, alle überfüllt mit Schwerverwundeten, fehlte es an Ärzten; die Toten wurden an den Außenseiten der Gebäude einfach aufgeschichtet. General Walther von Seydlitz-Kurzbach, Kommandeur des LI. Armeekorps, wird später in seinen Erinnerungen vermerken: „Unvorstellbar, was hier das Auge sah: Es war die Hölle auf Erden!“

Der 25. Jänner bringt noch einmal eine Kampfpause, doch am nächsten Tag macht die Rote Armee ernst: Geschütze fahren auf, belegen die Stellungen mit Trommelfeuer, Panzer und Infanterie greifen in breiter Front an; am 26. Jänner wird der Kessel in drei Teile zerschlagen. Tausende sterben täglich, doch Friedrich Paulus lehnt eine Gesamtkapitulation ab und überlässt es seinen Kommandeuren, den Kampf einzustellen – er will nun zumindest formal dem Durchhaltebefehl Hitlers gehorchen. Am 31. Jänner geht Paulus, von Hitler noch rasch zum Generalfeldmarschall ernannt, zusammen mit dem Armeestab in Gefangenschaft; vom Nordkessel, so Hitler in einem Funkspruch an das XI. Armeekorps am 1. Februar um 17.25 Uhr, erwarte er sich, dass er sich „bis zum Letzten“ halte – apokalyptischer Wahnsinn, so ganz nach dem Geschmack des „Führers“: Zwei Tage später, am 3. Februar, wird die zynische Verklärung des „Heldenkampfs“ um Stalingrad zum „größten Heldenlied der deutschen Geschichte“ beginnen, sinnloses Sterben wird umgedeutet zur „historisch europäischen Mission“.

Den Autoren österreichischer Schulbücher ist Stalingrad heute kaum mehr eine Erwähnung wert; in einigen dürren Zeilen wird über den Untergang der „deutschen“ 6. Armee berichtet, die Schlacht als angeblicher Wendepunkt des Krieges und Symbol der Niederlage herausgehoben. Vergessen und verdrängt wird, dass es vor allem auch österreichische Soldaten waren, die die Fehler Hitlers und seiner Generäle mit dem Leben bezahlen mussten. Das Sprechen über die Tragödie fällt offenbar schwer, ja, es scheint nicht opportun zu sein – zu groß ist die Angst, in bedenkliche alte „Erinnerungsmuster“ zu verfallen. Die Mythisierung Stalingrads durch das NS-Regime wirkt so noch immer nach.

 

Eine „eiskalte Wüste des Wahnsinns“ (Franz Dopf): Am 3. Februar 1943 meldet das Oberkommando der Wehrmacht: „Sie starben, damit wir leben.“


Das Rohrbomben-Attentat von Oberwart

Es ist knapp vor Mitternacht. Vier Männer der Oberwarter Romasiedlung, der 40-jährige Josef Simon und seine jüngeren Freunde Peter Sarközi (27) sowie Karl (22) und Erwin Horvath (18), befinden sich noch auf einem kleinen Rundgang. Da entdecken sie auf einer Kreuzung, etwa 250 Meter von der Siedlung entfernt, ein merkwürdiges „Ding“, etwas, das aussieht wie ein Verkehrszeichen. Als sie näher treten, erkennen sie, dass das vermeintliche Verkehrszeichen keines ist: Aus einem Kunststoffsockel ragt ein etwa 1,20 m hohes Rohr empor, an dem eine Tafel befestigt ist: „Roma zurück nach Indien“, steht da zu lesen. Eine rassistische Schmähung, die sie nicht dulden können – sie versuchen das Rohr mit dem Kunststoffsockel hochzuheben und von der Kreuzung zu entfernen. In diesem Moment löst ein Zündmechanismus aus, der im oberen Drittel des Rohres befindliche Sprengstoff – 150 Gramm gedämmtes Nitroglycerin – explodiert, die Splitter töten die vier Männer auf der Stelle. Der Knall der Explosion wird zwar von den Bewohnern der Romasiedlung gehört, die vier verstümmelten Leichen werden aber erst am Morgen gefunden. Das Entsetzen über die Morde ist im Lande groß.

Die polizeilichen Ermittlungen können bald einen Zusammenhang mit den Briefbomben herstellen, die seit 1993 von einer mysteriösen „Bajuwarischen Befreiungsarmee“ (BBA) verschickt werden, u. a. auch an den Wiener Bürgermeister Helmut Zilk, der am 5. Dezember 1993 an der linken Hand schwer verletzt wird: Es ist der gleiche Sprengstoff. Über den oder die Täter tappt die Polizei jedoch lange im Dunkeln, dann ist es eine Routinekontrolle, die endlich zur Festnahme eines Verdächtigen führt: Am 1. Oktober 1997 stoppen Gendarmeriebeamte den Wagen des aus Gralla in der Südsteiermark stammenden Franz Fuchs – anstatt seine Papiere zu zeigen, zündet Fuchs, der sich entlarvt glaubt, eine Rohrbombe, die Explosion reißt ihm beide Unterarme weg, zwei Beamte werden verletzt. Am 2. Februar 1999 beginnt am Grazer Landesgericht der Prozess gegen Franz Fuchs, der mit dem lauten Schreien von Hasstiraden gegen Staat, Justiz und „Ausländer“ auf sich aufmerksam machen will und daraufhin durch Richter Heinz Fuhrmann von den Verhandlungen ausgeschlossen wird. Weitere Indizien haben inzwischen seine Täterschaft beim Oberwarter Attentat erhärtet – so kann nachgewiesen werden, dass das beim Bombenbau verwendete Wasser aus der Gegend von Gralla stammt. Ein Geschworenensenat verurteilt ihn wegen vierfachen Mordes zu lebenslanger Haft und Einweisung in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher – am 26. Februar 2000 begeht Franz Fuchs in der Justizanstalt Graz-Karlau Selbstmord.

So wirr das Geschichts- und Weltbild des Franz Fuchs auch sein mögen – in manchen Versatzstücken spiegelt es in erschreckender Weise Gedankengut wider, das noch immer in manchen Köpfen präsent ist. Franz Fuchs mag als Einzeltäter gehandelt haben, seine Parolen sind leider so manchen Österreichern nicht völlig fremd …


Olympiagold für Franz Klammer

Die Situation im ÖSV-Abfahrtsteam vor den Olympischen Spielen in Innsbruck 1976 ist nicht einfach: Die Niederlage von Grenoble gegen Jean-Claude Killy und die „Schmach“ von Sapporo, bedingt durch den Ausschluss von Karl Schranz, sind noch in bester Erinnerung – die Last des Siegenmüssens liegt nun auf einem Mann: auf Franz Klammer, dem „Teufelsbuam“ aus Mooswald in Kärnten, der die letzten beiden Saisonen im Weltcup dominiert hat. Startzeit am Patscherkofel ist 12 : 30 Uhr und alle wollen dabei sein, wenn der Franz „es macht“. Titelverteidiger Bernhard Russi, der Sieger vom Mont Eniwa in Sapporo 1972, legt mit Startnummer 3 eine beinahe fehlerlose Fahrt hin: 1 : 46,06 lautet die neue Bestzeit, eine Marke, an der die nachfolgenden Läufer klar scheitern: Mit Nummer 12 startet Österreichs Nachwuchshoffnung Anton „Jimmy“ Steiner. Als für den 17-jährigen Draufgänger die beste Zwischenzeit gemeldet wird, scheint Russis Führung erstmals gefährdet – doch dann stürzt Steiner knapp vor dem Ziel, eine mögliche Medaille in Sichtweite. Auf den zweiten Platz schiebt sich der Südtiroler Herbert Plank, aber auch er liegt deutlich hinter Russi zurück.


Alle rot-weiß-roten Hoffnungen ruhen nun auf der Startnummer 15, Franz Klammer. Er kennt die Zeit von Russi und schwört sich, eine 1 : 45er-Zeit zu fahren. Gleich der erste Streckenabschnitt gelingt dem Kärntner jedoch nicht optimal und die erste Zwischenzeit weist dies auch unbarmherzig aus: 19 Hundertstel Rückstand auf Russi, 3 Hundertstel auf Herbert Plank: Die Zuschauer halten entsetzt den Atem an, als Klammer beim dritten Tor im „Ochsenschlag“, einem Rechtsschwung, zu direkt fährt und beim darauf folgenden Sprung nur mit wildem Rudern der Arme einen Sturz vermeiden kann. Er muss querstellen, verliert neuerlich Zeit. In diesem Moment scheint die Goldmedaille bereits verloren, doch Franz Klammer behält die Nerven: Er wählt im unteren Streckenabschnitt eine neue Linie, fährt zwei Kurven höher an und „sticht“ dann, das höhere Tempo perfekt mitnehmend, Richtung Ziel hinunter – ORF-Reporter Edi Finger zählt die Sekunden laut mit, es ist ein unbeschreiblicher Moment der Spannung, dann der erlösende Schrei: „1 : 42, 1 : 43, 1 : 44, 1 : 45 – jawohl! Bestzeit!“ Franz Klammer schaut nur ins Publikum, sieht die Menschen jubeln und weiß in diesem Augenblick, dass er gewonnen hat – mit ihm triumphieren „wir Österreicher“.


Deportation nach Riga

In den späten Abendstunden herrscht am Aspangbahnhof wieder einmal hektische Betriebsamkeit: Der „16. Transport“ wird verladen, Fahrziel des „Sonderzugs“ ist das „Reichsjudenghetto“ Riga. Die Gestapobeamten sorgen dafür, dass alles ruhig und konzentriert abläuft: 1.003 Menschen, alle aus Wien, besteigen die Waggons dritter Klasse, unter ihnen 23 Kinder, die unter zehn Jahre alt sind, die Frauen und drei Männer, die älter als achtzig sind, das Durchschnittsalter der Deportierten: 54 Jahre. Es ist nach den Zügen vom 3. Dezember 1941 (1.001 Deportierte) sowie vom 1. Januar (1.000 Deportierte) und 26. Januar 1942 (1.201 Deportierte) bereits der vierte „Transport“ von Wien nach Riga. Kommandiert wird der „Transport“ dieses Mal von Eichmanns Mitarbeiter Alois Brunner selbst, der besonders einen der deportierten Juden an Bord im Visier hat: den ehemaligen Bankier und Börsenspekulanten Siegmund Bosel, der es durch seine Verwicklung in den Postsparkassenskandal des Jahres 1926 zu zweifelhaftem Ruhm gebracht hat. Bosel, der inzwischen einen Großteil seines Vermögens verloren hat und 1938 ohnmächtig zusehen muss, wie die Nazis das Mobiliar seiner Villa in der Gloriettegasse 15 im Dorotheum zwangsversteigern, wird das Ziel der „Reise“ nicht erreichen: In der zweiten Nacht, der Zug befindet sich irgendwo in Polen, lässt ihn Brunner an den Einstiegsstufen des ersten Waggons, gleich nach der Lokomotive, anketten und beginnt, ihn „auf unflätige Weise“ zu beschimpfen, nach etwa einer Stunde erschießt Brunner den Wehrlosen. Zur „Ohrenzeugin“ des Mordes wird auch die 14-jährige Gertrude Hirschhorn, die zusammen mit ihrer 1-jährigen Schwester Rita und ihren Eltern in einem Abteil des ersten Waggons untergebracht ist …

Am 10. Februar erreicht der Zug die Station Skirotava in Riga, es herrscht klirrende Kälte – 42 Grad unter null. Das Ghetto, so erklärt ihnen der „zum Empfang“ angetretene SS-Obersturmführer Gerhard Maywald, sei sechs Kilometer entfernt, für alle, die nicht zu Fuß gehen möchten, habe man einige Autobusse bereitgestellt. Etwa 700 der aus Wien angekommenen Juden stellen sich daraufhin bei den Autobussen an, die anderen, darunter auch die Familie Hirschhorn, wählen den Fußmarsch zum, Ghetto. Ihre Leidensgenossen werden sie nie mehr sehen: Die 700 werden direkt zum Exekutionsplatz in den Bikernieki-Wald gefahren und dort erschossen; einer der „Autobusse“ ist ein Gaswagen, in dem die Opfer mit Auspuffgasen erstickt werden. „Wir hatten uns selbst selektiert“, wird Gertrude Hirschhorn, die zusammen mit ihrer Schwester und ihrer Mutter das Ghetto in Riga überlebt, in ihren Erinnerungen – sie erscheinen unter ihrem späteren Namen Gertrude Schneider – feststellen. Die Rote Armee befreit sie, die dem Tode nahe ist, aus einem Außenlager des KZ Stutthof bei Danzig; am 1. Juni 1945 kommen die drei Frauen am Südostbahnhof in Wien an – doch hier empfängt man sie keineswegs mit offenen Armen. – „Wegen der Behandlung, die uns in Wien zuteil wurde“, beschließen sie 1947, in die USA zu emigrieren.


Die Abschaffung der Todesstrafe

Plenarsitzung des Nationalrats im Parlament. Am Rednerpult steht der SPÖ-Abgeordnete Dr. Christian Broda (1916 – 1987), ehemals Justizminister im dritten Kabinett von Julius Raab und zukünftiger Justizminister in den Alleinregierungen Bruno Kreiskys. „Die Entfernung des überflüssigen Wortes, Todesstrafe‘ aus unserer Verfassung und Rechtsordnung“, sagt Broda, „ist ein Augenblick für innere Einkehr.“ Es ist zwar nur ein schlichter Satz, der vom Nationalrat beschlossen wird: „Der Artikel 85 des Bundes-Verfassungsgesetzes hat nunmehr zu lauten:, Die Todesstrafe ist abgeschafft‘“ – mit seiner Aufforderung zum Innehalten und Besinnen unterstreicht Broda, der schon 1965 eine entsprechende Gesetzesänderung vorgeschlagen hat, die Bedeutung dieses Beschlusses jedoch völlig zu Recht. Die Zweite Republik holt damit endlich nach, was sie schon längst hätte tun müssen. Die Todesstrafe, so das klare Bekenntnis, das hinter dem Artikel 85 B-VG steht, hat in der modernen österreichischen Demokratie nichts mehr verloren. Gelebte Praxis wird in Recht gegossen, liegt die letzte Verhängung und Vollstreckung der Todesstrafe nach österreichischem Recht doch schon 18 Jahre zurück: Am 24. März 1950 wurde im Wiener Landesgericht der zweifache Raubmörder Johann Trnka gehängt; wenig später, am 24. Mai 1950, schaffte der Nationalrat die Todesstrafe im ordentlichen Strafverfahren ab; es blieb allerdings die – sehr theoretische – Möglichkeit eines Todesurteils im standgerichtlichen Verfahren. 100 Todesurteile waren bis zu diesem Zeitpunkt in der Zweiten Republik ausgesprochen worden, 46 Menschen durch Hinrichtung gestorben, davon 30 nach Urteilen der Volksgerichte aufgrund des Kriegsverbrecher- und NS-Verbotsgesetzes.


Ein engagierter Gegner der Todesstrafe: Justizminister Christian Broda im Jahre 1963.

Gestützt auf diesen „Grundkonsens der Zweiten Republik“, engagiert sich Broda weiter: 1978 legt er der Justizministerkonferenz des Europarates ein Memorandum vor, in dem er vorschlägt, die Frage nach der Abschaffung der Todesstrafe in das Arbeitsprogramm des Europarates aufzunehmen – er stößt damit eine Entwicklung an, die im 6. Zusatzprotokoll zur Europäischen Menschenrechtskonvention, unterzeichnet am 28. April 1983 in Straßburg, ihren Abschluss findet. Der Artikel 1 des 6. Zusatzprotokolls lautet: „Die Todesstrafe ist abgeschafft. Niemand darf zu dieser Strafe verurteilt oder hingerichtet werden.“

 


Der Schranz-Rummel

Bei den Olympischen Winterspielen in Sapporo 1972 will Karl Schranz, Österreichs Schiheld dieser Jahre, der Gesamtweltcupsieger 1969 und 1970, endlich Abfahrtsgold holen. Doch da ist sein „Intimfeind“, der greise IOC-Präsident Avery Brundage, der auf den Amateurstatus der Olympia-Starter pocht. Nach seiner Ankunft in Tokyo gibt Schranz „schonungslose“ Interviews, Brundage, so seine Argumentation, habe die Entwicklungen im Spitzensport „einfach verschlafen“ – ein provokanter Ton, der im IOC auf wenig Verständnis stößt: Am 31. Januar 1972 wird Gold-Hoffnung Schranz durch die Vollversammlung des IOC mit 28 : 14 Stimmen wegen „Missachtung des Geistes der olympischen Tradition“ von den Spielen ausgeschlossen.


Großer Empfang für den „Ski-Märtyrer“: 52 Karl Schranz am Heldenplatz.

Heftige rot-weiß-rote Emotionen sind die Folge: Unterrichtsminister Fred Sinowatz schickt ein Telegramm nach Sapporo, in dem er das ÖOC auffordert, „schärfstens“ gegen den Ausschluss von Schranz zu protestieren, sollte dieser aufrecht bleiben, so empfehle er einen Rückzug der Alpinen von den Olympiabewerben. Aussichtsreiche Läuferinnen und Läufer wie die große Goldfavoritin Annemarie Pröll sind gegen eine Abreise; in einer Erklärung vom 1. Februar 1972 sagt Schranz schließlich: „Ich als Einzelperson möchte nicht der Anlass sein, dass Österreich als Skiland von diesen Spielen ausgeschlossen bleibt.“ Die Skikollegen bleiben daraufhin trotz dieser „Riesenschweinerei“ in Japan – Schranz packt jedoch die Koffer.

Zu Hause plant man für den „Ski-Märtyrer“ den großen Empfang. Bundeskanzler Bruno Kreisky sieht sich eins mit der wütenden Schination und dem ORF, der auf Anweisung von Generalintendant Gerd Bacher gekonnt Regie führt: Zehntausende sind am 8. Februar 1972 auf den Beinen, um ihren Ski-Volkshelden zu empfangen, die Fahrt im offenen Wagen vom Flughafen in Schwechat bis zum Bundeskanzleramt am Ballhausplatz wird zu einem einzigartigen Triumphzug, der am Balkon des Kanzleramts zu einem beinahe beängstigenden Finale kulminiert: „Wie hypnotisiert vom Anblick der Massen, fühl’ ich mich für einige Augenblicke geradezu wie ein Volkstribun, wie ein Imperator. Caesar mag es so ergangen sein, oder Nero“, wird Schranz später in seiner Autobiografie erzählen. Am 12. Februar 1972 verkündet er in einem offenen Brief an ÖSV-Präsident Karl-Heinz Klee seinen Rücktritt.


Franz Ziereis wird Lagerkommandant im KZ Mauthausen

Im KZ Mauthausen, seit August 1938 in Betrieb – die ersten 300 Häftlinge sind am 8. August aus dem KZ Dachau angekommen –, steht eine Änderung bevor: Lagerkommandant Albert Sauer, der ehemalige Tischler aus Misdroy in Pommern, soll wegen „Nachlässigkeit und zu großer Milde“ abgelöst werden. Der Nachfolger steht schon bereit: Es ist der Münchner Nazi SS-Obersturmführer Franz Ziereis, der Ausbildner der SS-Totenkopfstandarte III Thüringen. Theodor Eicke, der Inspekteur der Konzentrationslager, hält große Stücke auf den 1905 geborenen Ausbildner und Ziereis wird ihn nicht enttäuschen: Bis Ende 1938 sind über 1.000 Häftlinge nach Mauthausen eingewiesen worden, doch nun, im Frühjahr 1939, steigen die Häftlingszahlen rasch weiter. Es kommen die politischen Gegner der Nazis aus dem Sudetenland, dann erstmals auch als „asozial“ diskriminierte „Zigeuner“ aus dem Burgenland und erste jüdische Häftlinge. Und mit den Siegen Hitlers auf dem Kontinent ab dem Herbst 1939 wird Mauthausen zum Sammelbecken für Opfer des Nazi-Terrors aus ganz Europa: Polnische Intellektuelle und sowjetische Kriegsgefangene, republikanisch gesinnte Spanier und holländische Juden, Angehörige von insgesamt 30 Nationen, sehen sich Tag für Tag mit der Unmenschlichkeit, der Brutalität und dem Sadismus der Schergen Hitlers konfrontiert. In der Nazi-Bürokratie wird Mauthausen die Kategorie „Lagerstufe III“ zugewiesen, das heißt, hier werden Menschen in „Schutzhaft“ genommen, deren Rückkehr in die Gesellschaft „unerwünscht“ ist; offiziell sind dies „schwerbelastete, unverbesserliche, auch gleichzeitig kriminell vorbestrafte und asoziale, das heißt kaum noch erziehbare Schutzhäftlinge“, tatsächlich aber befinden sich 93 Prozent der Insassen auf Grund ihrer nationalen, rassischen, religiösen Zugehörigkeit oder ihrer politischen Orientierung im Lager.

Franz Ziereis, der 1942 auch Betriebsdirektor der Granitwerke Mauthausen wird und in der SS-Hierarchie bis zum SS-Standartenführer aufsteigt, verantwortet als Lagerkommandant von Mauthausen und seinen Nebenlagern die Ermordung von etwa 105.000 Menschen. Über seinem Schreibtisch hängt eingerahmt sein Wahlspruch:

Ein Pfui dem Mann,

der nicht schlagen kann. Noch lebt das Gebot: Schlag’ tot, schlag’ tot!

Zwei Tage vor der Befreiung Mauthausens, am 3. Mai 1945, flieht Ziereis mit seiner Frau zu einer Jagdhütte am Pyhrn; am 22. Mai wird er von US-Soldaten aufgestöbert und bei einem Fluchtversuch schwer verwundet: In seiner „Beichte“ am Totenbett spricht er von 4.000 Häftlingen, die er persönlich getötet hätte. Am 25. Mai 1945 erliegt Franz Ziereis seinen Verletzungen.


Hungerunruhen

Vielfach ist das Thema „Hunger“ bereits aus unserer Wahrnehmung verschwunden. Zu Unrecht, wenn man genauer hinblickt: So kommt es am Höhepunkt der Nahrungsmittelkrise nach dem Ersten Weltkrieg in ganz Österreich zu Plünderungen und Unruhen. So auch im steirischen Leoben, wo am 10. Februar 1920 Donawitzer Arbeiter in das Gebäude des „Bezirkswirtschaftsamtes“ eindringen und die zusätzliche Ausgabe von Mehl und Lebensmitteln fordern. Als die Beamten dieser Forderung nicht nachkommen und die Klagen der Arbeiter über die schlechte Ernährungslage nicht ernst nehmen, eskaliert die Situation:

Die Arbeiter erhalten Unterstützung von „kommunistischen“ Demonstranten; es kommt zu blutigen Zusammenstößen mit der Gendarmerie. Die erschreckende Bilanz: fünf Tote und 45 Verletzte.

Der Vorfall sorgt in der ganzen Steiermark für großes Aufsehen und heizt das Gemüt der ausgehungerten Bevölkerung weiter an. Offiziell werden – man ist versucht zu sagen: wie gewohnt – die Kommunisten als Schuldige angeprangert: „Von kommunistischen Elementen aufgehetzt, rotteten sich heute Nachmittag zahlreiche, vorwiegend aus der Umgebung der Stadt erschienene Personen, Männer, Frauen und halbwüchsige Burschen, in Leoben zusammen und zogen vor das Gebäude des Bezirkswirtschaftsamtes, dessen Eingang bereits von Gendarmerie bewacht war“, teilt der Steiermärkische Landespressedienst über den Vorfall mit.

Der Bürgermeister von Leoben versucht die Stimmung zu beruhigen: „Der Bürgermeister von Leoben erließ an die Bevölkerung von Leoben einen Aufruf, worin darauf hingewiesen wird, dass die Gemeindevertretung alles Menschenmögliche getan habe, um Lebensmittel herbeizuschaffen.

Sie werde auch fernerhin ihre Pflicht erfüllen und der Bürgermeister hoffe, dass die Bemühungen wenigstens insofern einen Erfolg haben werden, als es gelingen werde, der Bevölkerung über die schwere Zeit hinwegzuhelfen. Die Bevölkerung wird aufgefordert, alles zu unterlassen, was zu weiteren Ruhestörungen führen könnte“, zitiert ihn die Arbeiter-Zeitung am nächsten Tag. Sofort nach diesem Zwischenfall werden alle Funktionäre der großen Parteien und Gewerkschaften zu einer Versammlung gebeten, um die Lage zu besprechen und Lösungen zu finden.

Es brodelt jedoch nicht nur in der Steiermark zu dieser Zeit. Auch in Oberösterreich und Wien kommt es zu heftigen Hungerunruhen, die im Winter 1920/​1921 ihren Höhepunkt erreichen: Hotels, Restaurants und Cafés, in denen sich, wie man glaubt, vorwiegend die „Reichen“ aufhalten, werden geplündert und demoliert. Auch das berühmte Café Sacher bekommt die Auswirkungen der Hunger- und Teuerungsunruhen zu spüren: Fenster werden eingeschlagen, die „Randalierer“ können nur mit Mühe im Zaum gehalten werden.


Der Matrosenaufstand in Cattaro

Österreich-Ungarns Natur-Kriegshafen Cattaro (Kotor) an der Südspitze Dalmatiens, Stützpunkt der k. u. k. Kriegsmarine. Es ist 6 Uhr 50 am Morgen. An der Friedhofsmauer der Stadt stehen vier Männer: der Bootsmannmaat Franz Rasch von der Küstenflugstation Kumbor, der Deckmatrose 1. Klasse Anton Grabar vom Panzerkreuzer „SMS St. Georg“ und die beiden Geschützmeister Jerko Sisgoric von der „St. Georg“ und Mate Bernicevic von der „SMS Gäa“ – alle vier vom Standgericht des k. u. k. Kriegshafengerichts Cattaro des „Verbrechens der Empörung nach § 157 M. St. G.“ für schuldig befunden und zum Tode durch Erschießen verurteilt. Die vier sühnen als „Rädelsführer“ stellvertretend für ihre Kameraden: Etwa 6.000 Matrosen auf 40 Schiffen haben sich an der Meuterei vom 1. Februar beteiligt, ausgelöst durch unerträgliche Missstände auf den untätig in der Bucht liegenden Stahlkolossen: Die Matrosen hungerten, von den Offizieren um einen Teil ihrer Menage betrogen, gequält mit harten Strafen für jede kleinste Verfehlung; nur selten gab es die Erlaubnis zum Landgang oder gar Heimaturlaub. Die Nachrichten von den Aufständen der russischen Soldaten und Matrosen und dem Streik in den Wiener Neustädter Daimler-Motorenwerken hat auch sie, die „Gedemütigten und Getretenen“ (Julius Braunthal), zum Widerstand bewogen. Vor dem Standgericht beweist vor allem der aus dem mährischen Prerau (Přerov) stammende Arbeiter Franz Rasch Mut und bekennt sich offen zu seinem Tun: „Ich wüsste nicht, welche mildernde Umstände ich für mich geltend machen könnte. Ich wollte den Frieden, ich bereue es nicht. Ich wusste, dass es mich das Leben kosten würde. Aber schließlich sterbe ich dann für meine eigene und nicht für eine fremde Sache […]“ Ein Gnadengesuch, das der zivile Verteidiger der Verurteilten an Kaiser Karl richtet, bleibt unbeantwortet.