365 Schicksalstage

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Die Lawinenkatastrophe 1954 in Vorarlberg

Der Schnee lässt im Winter 1953/​54 in Vorarlberg ungewöhnlich lange auf sich warten. Zu den Weihnachtsfeiertagen wirbeln zwar einige Flocken durch die Täler, von einer richtigen Winterlandschaft aber zeigt sich weit und breit keine Spur. Das ändert sich plötzlich am 9. Januar: Es beginnt in großen Flocken stark zu schneien. Die Schneehöhe wächst rasch, innerhalb von 24 Stunden fallen bei Temperaturen von minus fünf bis minus sieben Grad bis zu 1,7 Meter Neuschnee; der starke Wind führt oberhalb der Baumgrenze zu enormen Schneeverfrachtungen, dazu kommt, dass der lockere Neuschnee mit dem kompakt gefrorenen Altschnee keine Verbindung eingehen kann – die Lawinengefahr steigt im ganzen Land dramatisch.

In der Nacht vom 10. auf den 1. Januar schneit es noch immer, viele Verkehrsverbindungen sind bereits unterbrochen, zahlreiche Orte von der Außenwelt abgeschnitten und auch per Telefon nicht mehr erreichbar. Es beginnt eine unheimliche Serie schwerer Lawinenabgänge mit dem Zentrum Großes Walsertal: So verschüttet um sechs Uhr früh in Sonntag-Boden eine Lawine fünf Bauernhöfe und eine Sennerei, sechs Tote sind zu beklagen; kurz nach zehn Uhr zerstört im Gemeindegebiet von Blons eine Lawine, die sich vom Hohen Falv löst, 26 bäuerliche Anwesen, sechs Alphütten und drei Seilbahnstationen, 77 Menschen werden verschüttet, 27 können nur mehr tot geborgen werden. Um 12.45 Uhr fordert ein Lawinenabgang in Bartholomäberg-Lutt vier Tote, um 13.30 Uhr tötet eine Lawine in St. Gerold drei Menschen. Um 19 Uhr abends löst sich von den Hängen des Mont Calv eine Lawine und rast auf den Ortskern von Blons zu – zehn Bauernhöfe, vierzehn Ställe, eine Sennerei und drei Seilbahnstationen werden von ihr mitgerissen, darunter auch zwei Gebäude, in denen die Opfer der ersten Lawine des Tages versorgt worden sind. Von den 40 verschütteten Menschen sterben 21. Um 19.30 Uhr zerstört eine Lawine in Hittisau im Bregenzer Wald den Bauernhof der Familie Lipburger, sieben Menschen finden den Tod; um 20.45 Uhr fordert eine Lawine vom „Ruha Egg“ in Bartholomäberg 19 Menschenleben.

Erst am nächsten Tag wird das ganze Ausmaß der Zerstörungen sichtbar; es beginnt ein Großeinsatz der Hilfsorganisationen, zahlreiche Freiwillige aus dem In- und Ausland kommen in die Katastrophengebiete, wo die Überlebenden mit bloßen Händen nach ihren verschütteten Angehörigen suchen; erstmals werden auch Hubschrauber eingesetzt.

Die Vorarlberger Nachrichten klagen über das „ungeheure Leid“, das mit der Katastrophe über das Land gekommen ist: „Der weiße Tod hat uns heimgesucht, und die Heimstätten friedlicher Menschen, Haus und Hof mitgerissen und vielen Bewohnern ein kaltes Grab bereitet. … Wir neigen uns in Ehrfurcht vor den Bahren der bereits Geborgenen und beten um das Leben jener, die noch unter dem weißen Leichentuch begraben sind.“


Das Hofdekret über die Klosteraufhebungen

Es ist ein wahrer Paukenschlag im Rahmen der josephinischen Reformen. Ein kaiserliches Dekret verfügt die Aufhebung kontemplativer Ordenshäuser, der gesellschaftliche Nutzen wird dabei zum entscheidenden Kriterium: Wer sich nicht dem Unterricht in Schulen, der Krankenbetreuung und der praktischen Seelsorge widmet, hat in Josephs Augen keinen „Wert“ für den Staat und ist „unnütz“; dazu kommt, dass ihm die Klöster als „Quellen des Aberglaubens“ und des „religiösen Fanatismus“ gelten. Von 915 Klöstern, 780 Männer- und 135 Frauenklöstern, bleiben im deutschsprachigen Teil der Monarchie einschließlich Böhmen, Mähren und Galizien 388 erhalten. Die Dotation des „Religionsfonds“, in dem die Vermögen der Klöster zusammengeführt werden, steigt auf 35 Millionen Gulden; die Gebäude versucht man sinnvoll für die Allgemeinheit zu nützen.

Abgewickelt werden die Klosteraufhebungen von einer „Geistlichen Hofkommission“, zu deren umfangreichen Aufgaben auch die Gründung neuer Pfarren gehört – damit soll eine bessere seelsorgerliche Betreuung der Gläubigen gewährleistet sein. Die Kirche reagiert auf diese spektakuläre Aktion mit der Reise von Papst Pius VI. im Frühjahr 1782 nach Wien; in den Gesprächen mit dem Heiligen Vater bleibt Joseph II. allerdings im Wesentlichen bei seinen Entscheidungen. Das emotionslose Urteil des Kaisers: „Unsere Verhandlungen haben schließlich zu nichts geführt.“


Kaiser Joseph II. bleibt in den Gesprächen mit Pius VI. bei seinem Reformkurs: der Papst beim Besuch der Michaelerkirche in Wien. Gouache von Anton C. Kaliauer, 1782.


Das Josephinische Strafgesetz

Mit Patent vom 13. Januar 1787 wird von Joseph II. das Allgemeine Gesetzbuch über Verbrechen und derselben Bestrafung, ausgearbeitet von der „Kompilationshofkommission“ der Obersten Justizstelle, verkündet und tritt noch am selben Tag in Kraft. Das neue Strafgesetzbuch löst die umstrittene Constitutio Criminalis Theresiana aus dem Jahre 1768 ab und setzt zukunftsweisende Maßstäbe: Erstmals wird in den habsburgischen Erblanden die Todesstrafe im ordentlichen Strafverfahren abgeschafft, vorgesehen bleibt sie nur mehr für Verfahren vor dem Standgericht, also in der Militärgerichtsbarkeit. Endgültig abgeschafft sind nunmehr auch alle Verstümmelungsstrafen wie das Ohrenabschneiden, das man einst so gerne bei den widerspenstigen Bauern angewandt hatte. Ausdrücklich wird noch einmal die Folter als Instrument zur Wahrheitsfindung verworfen; „Ketzerei“, „Zauberei“ und „Hexerei“ sind keine Verbrechen mehr.

Joseph, der Nützlichkeitsfanatiker und aufgeklärte Despot, setzt auf Verurteilungen zu schwerer, der Allgemeinheit dienender Arbeit; eine dieser neuen Sonderstrafen, die als Äquivalent für die Todesstrafe dienen, ist die Verurteilung zum „Schiffsziehen“ im Osten des Reiches, einer Strafe von bizarrer Härte, die an die Galeeren alter Zeit erinnert. Das Ziehen der Schiffe entlang der Flüsse Save, Kulpa, Donau, Drau und Theiß kommt einem Todesurteil gleich: Nur wenige der Unglücklichen, die zu dieser qualvollen Sklavenarbeit auf den sumpfigen Treppelwegen verurteilt werden, überleben die unmenschlichen Bedingungen länger als zwei Jahre. Penibel wie immer überwacht Joseph genau die Durchführung seiner Anordnungen und zeigt sich taub gegen alle Vorhaltungen, die die Inhumanität dieser Strafe anprangern. Auch sonst bleibt so manches inhumane Element im Kanon der Strafen bestehen: das Brandmarken mit glühendem Eisen, das Stehen am Pranger und die Prügelstrafe sowie „langwierige“ Gefängnisstrafen bis zu hundert (!) Jahren. „Verbrecher“ erhalten ihren Status weiterhin in den Körper eingebrannt und eingebleut, werden so vor der Gesellschaft als „Ausgestoßene“ gebrandmarkt. Josephs Neffe Franz II./​I. wird mit dem „Kriminalpatent“ vom 2. Januar 1795 die Todesstrafe für das Delikt „Hochverrat“ wieder einführen.


Der Täufer Leonhard Schiemer

Seine Lehre birgt Explosivstoff und fordert weltliche und kirchliche Obrigkeit gleichermaßen heraus: Für jeden echten Christen, so verkündet der Täufer-Apostel Leonhard Schiemer, sei der Verzicht auf privates Eigentum selbstverständlich, ebenso der Verzicht auf Gewalt. Und nur der „innere Mensch“ sei fähig, das unmittelbare Wort Gottes zu hören, jenes Wort Gottes, das den Menschen zur opferbereiten Nachfolge Christi veranlasse. Das Leiden wird von ihm zur mystischen Erfahrung schlechthin erklärt und theologisch begründet: Christus selbst leide in den Gläubigen an dieser Welt.

Leonhard Schiemer, geboren in Vöcklabruck, das Geburtsdatum ist unbekannt, erlernt zunächst das Schneiderhandwerk, will dann Priester werden und tritt schließlich ins Barfüßerkloster in Judenburg ein, das er angeblich nach sechs Jahren „fluchtartig“ verlässt. Er geht nach Nürnberg, arbeitet wieder als Schneider und knüpft hier erstmals Kontakte zur Täuferbewegung, die ihn veranlassen, nach Nikolsburg (Mikulov) in Mähren zu ziehen. Hier lernt er die Täufergemeinde Balthasar Hubmaiers kennen, dann übersiedelt er nach Wien, wo er sich zu Pfingsten 1527 von Oswald Glait taufen lässt und als Mitglied der Wiener Täuferkirche von Hans Hut seine missionarische Tätigkeit beginnt. Im August 1527 nimmt Leonhard Schiemer an der Augsburger Märtyrersynode teil und wird von dort als „Sendbote“ nach Tirol gesandt; er wählt Rattenberg als Standort für seine Tätigkeit. Das kleine Städtchen, erst seit dem Kölner Schiedsspruch von 1504 bei Österreich, beherbergt eine kleine Täufergemeinde, die ihn sofort zu ihrem Bischof wählt.

Inzwischen hat jedoch Ferdinand I., der Bruder Karls V., bereits seinen „Kreuzzug“ gegen die verdambte Ketzerey begonnen, unablässig fordert der junge Habsburger von seinen Beamten hartes Durchgreifen, ja, er verlangt Todesurteile für die widertauffer, wo diese für Milde und Nachsicht stimmen. So sind auch Leonhard Schiemer nur wenige Wochen vergönnt, in denen er durch seine Predigten neue Anhänger gewinnen kann; er wird verhaftet und eingekerkert, während seiner Untersuchungshaft arbeitet er an der Abfassung neuer „Sendschreiben“ an die Gläubigen. Anfang Januar 1528 unternimmt er einen Fluchtversuch, der jedoch scheitert, er wird dem Scharfrichter übergeben und nach Folterungen am 14. Januar in Rattenberg enthauptet.

 

Einige der von einem mystischen Grundton getragenen Kirchenlieder Leonhard Schiemers haben bis heute im Liedgut der „Hutterischen Brüder“ überlebt; der Verfolgung und dem Martyrium der Täufer setzt er in einem berührenden Klagelied ein Denkmal. Darin heißt es:

Man hat sie an die bäum gehenkt,

erwürgt und zerhawen,

Heimlich und öffentlich ertrenckt,

vil Weiber und jungfrawn.

Die haben frey Ohn alle schew

Der warhait zeugnuss geben,

dass Jesus Christ die warhait ist (…)

Bis 1540 werden in Rattenberg weitere 70 Täuferinnen und Täufer für ihren Glauben sterben.


Der erste öffentliche Schwurgerichtsprozess

Der Verhandlungsbeginn ist für 9.30 Uhr angesetzt. Vor Gericht steht die 19-jährige, „nett“ gekleidete Dienstmagd Cäcilia Hunger, angeklagt wegen des „Verbrechens der Brandlegung sowie der Übertretung des Diebstahls und der Veruntreuung“. Am 28. September 1850 habe sie, so die Anklageschrift, im Hause ihres Dienstherren Daniel Oberbauer, Gumpendorf Nr. 532, gegen sieben Uhr abends mehrere brennende Zündhölzchen auf den Strohsack und die Kotzen eines Betts am Dachboden geworfen; in dem durch den Brand entstandenen Tumult habe sie dann die Brieftasche des Daniel Oberbauer mit 21 Gulden entwendet. Nach einer Anzeige ihres Dienstherrn beim Bezirkskommissariat Mariahilf sei sie arretiert und bis zum heutigen Tage „in Untersuchung“ gehalten worden. Das Feuer habe keinen großen Schaden angerichtet.

Ein alltäglicher Fall und dennoch ein Meilenstein in der Geschichte der Rechtsprechung in Österreich: Erstmals entscheiden Geschworene über „schuldig“ und „nicht schuldig“, ein Anlass, der viel Prominenz in den Gerichtssaal gelockt hat: Justizminister Anton von Schmerling und Unterstaatssekretär von Stelzhammer sind anwesend; der Präsident des Schwurgerichtshofes, Oberlandesgerichtsrat Dr. Josef Edler von Würth, leitet die Verhandlung. In seiner „würdevollen Ansprache“ betont von Würth, dass die Geschworenen dazu berufen seien, eines „der einflussreichsten Rechte des Staatsbürgers auszuüben“, es sei dies eine Reform, „in der sich die größte Achtung und Anerkennung der freien Persönlichkeit des Einzelnen wie die Gleichheit Aller vor dem Gesetze“ ausspreche, die Geschworenen – es sind nur Männer – ermahnt er zu „Besonnenheit, Unparteilichkeit und Mäßigung“.

Im Verhör, das der Vorsitzende mit Cäcilia Hunger dann anstellt, zeigt sich die Angeklagte reumütig, als Motiv für ihre Tat nennt sie die „Sehnsucht nach ihrer Heimat, um ihren Vater wieder zu sehen“; ihr Verteidiger, ein gewisser Dr. Dierl, weist darauf hin, dass die „Absicht der Angeklagten bloß auf Diebstahl und nicht auf Brandlegung“ gerichtet gewesen sei, laut Meinung der Sachverständigen sei es auch zu keinem „hellen Brande“ gekommen. Das offene Geständnis der jugendlichen „Verbrecherin“ hat im Publikum tiefen Eindruck gemacht, das Gericht formuliert nun vier Fragen an die Geschworenen, die sie zu beurteilen haben. Nach 45-minütiger Beratung beantworten die Geschworenen alle Fragen mit „schuldig“, bei Punkt 1, der Brandlegung, erkennen sie, in Überschreitung ihrer Kompetenz, wie der Vorsitzende kritisch anmerkt, auf „schuldig mit mildernden Umständen“ – im Bemessen des Strafausmaßes zeigen die honorigen Herren des Gerichts wenig Fingerspitzengefühl: Cäcilia Hunger wird zu drei Jahren (!) schwerem Kerker, dem vom Staatsanwalt geforderten Minimum, verurteilt; die Sitzung schließt um vier Uhr nachmittags.


Annemarie Moser-Prölls letzter Weltcupsieg

Wieder einmal ist die Elite des Damenskirennsports im kleinen Schweizer Ort Arosa in Graubünden zu Gast. Wenige Wochen vor den Olympischen Spielen in Lake Placid geht es für die Läuferinnen um letzte Standortbestimmungen – auch für die Königin des Weltcups im letzten Jahrzehnt, Annemarie Moser-Pröll. Zwölf Jahre sind seit ihrem denkwürdigen Debüt in der Weltcupabfahrt von Bad Gastein am 17. Januar 1968 vergangen, als das Mädchen vom Bergbauernhof auf vereister Piste nach Stürzen mit 30 Sekunden Rückstand auf ihre Teamkollegin Olga Pall 78. und Letzte geworden war; inzwischen stehen 61 Siege zu Buche und sechs Erfolge im Gesamtweltcup sowie vier Weltmeistertitel: Die Letzte von einst ist zur Größten geworden, daran hatte auch eine Unterbrechung ihrer Karriere vom März 1975 bis zum Dezember 1976 nichts ändern können.


Auf der Fahrt zum letzten großen Sieg: Annemarie Moser-Pröll gewinnt Gold in Lake Placid 1980.

Im ÖSV-Team ist „die Pröll“ die unumschränkte Nummer eins, es gibt niemanden, der ihr in diesem Weltcup- und Olympiawinter 1979/​80 auch nur annähernd Konkurrenz machen könnte. Auch im Riesentorlauf, der an diesem 16. Januar am Programm steht, ist sie noch immer stärkste Österreicherin, auch wenn ihr letzter Sieg in dieser Disziplin nun schon fast zwei Jahre zurückliegt – herausgefahren am 17. März 1978 in Arosa. Das Rennen wird geprägt vom Zweikampf Hanni Wenzels mit der Schweizerin Marie-Therese Nadig, in dem die Liechtensteinerin, die in dieser Saison auch den Gesamtweltcup für sich entscheiden wird, mit 29 Hundertsteln Vorsprung die Oberhand behält. Dritte am Siegespodest ist die Französin Perrine Pelen. Annemarie Moser-Pröll reicht ein solider Lauf für den siebenten Platz und ihren 62. und letzten Weltcupsieg: Sie gewinnt mit 10.61 Punkten klar die Kombinationswertung vor Hanni Wenzel (34.84) und Teamkollegin Ingrid Eberle (50.39).

Am 25. Januar wird die Skikönigin aus Kleinarl im Slalom von St. Gervais hinter Perrine Pelen Zweite und steht ein letzets Mal bei einem Weltcuprennen am Siegespodest; dann geht es zu den Olympischen Spielen nach Lake Placid. Ein allerletzter „herrlicher Sieg“ (Serge Lang) wartet hier am 17. Februar 1980 auf der Piste am Whiteface Mountain noch auf sie: die Goldmedaille in der Abfahrt.


Skandal im Theater an der Wien

Im Theater an der Wien steht eine Benefizvorstellung für den „beliebten Komiker und Bühnendichter, Hrn. Nestroy“ (Theaterzeitung) auf dem Programm. Angekündigt ist eine neue „Localposse mit Gesang“, der monströse Titel des Stücks, zu dem Adolf Müller die Musik beisteuert: Eine Wohnung ist zu vermieten in der Stadt, eine Wohnung ist zu verlassen in der Vorstadt, eine Wohnung mit Garten ist zu haben in Hietzing.


Provozierte sein Publikum: Johann Nestroy. Lithographie von August Prinzhofer, 1846.

Das Haus ist an diesem Abend „übervoll“, so dass manche Zuschauer im Parterre über die Schranken des Orchesters steigen müssen, um zu ihren Sperrsitzen zu gelangen. Nestroy selbst, der Beneficiant, spielt die Hauptrolle, den selbstgefälligen Herrn von Gundlhuber, einen Rentier; sein kongenialer Partner Wenzel Scholz (1787 – 1857) gibt den Hausmeister Cajetan Balsam. Das Stück basiert auf dem „komischen Gemälde in fünf Rahmen“ Wohnungen zu vermiethen! des Berliner Autors Louis Angely, was Nestroy in der Ankündigung jedoch verschweigt.

Die Stimmung im Publikum ist zu Beginn der Aufführung noch ausgezeichnet und der erste Akt entwickelt sich zunächst „in seinem Gange ungestört“, ja, man vernimmt sogar „Applaus und Vorrufe“, doch schon während des zweiten Akts setzt heftiges Zischen ein, schließlich werden die „Zeichen des Missfallens so laut und ununterbrochen, dass man von dem zweiten und dritten Akte nur Bruchstücke entnehmen konnte, und das Stück in eigentlicher Bedeutung gar nicht zu Ende gespielt ward. Somit ist denn auch kein Detail über den Inhalt zu erfassen gewesen.“ (Der Telegraph) Der Abend wird zu einem Fiasko, wie es Nestroy noch nicht erlebt hat; seine „ziemlich vorlaute Bemerkung“ am Schluss des Stückes, dass es „im Theater, wie in jedem Hause, Parteyen“ geben müsse, bringt die Kritiker erst recht gegen ihn auf. „Das Stück selbst hat keinen andern Fehler als den, dass es gegeben wurde“, ätzt Moritz Gottlieb Saphir im Humorist, die Wiener Zeitschrift für Kunst, Literatur, Theater und Mode spricht von einem „sinn- und witzlosen Machwerk“.

Die vernichtende Kritik bewirkt, dass das Stück nur mehr zweimal wiederholt wird und vom Spielplan verschwindet – die moderne Kritik sieht dagegen in dieser Posse Nestroys durchaus ein „Schlüsselstück des Nestroyschen Œuvres“ (W. E. Yates), sein scharfer satirischer Angriff auf das Wiener Spießbürgertum sei vom kleinbürgerlichen Publikum missverstanden worden.


Kaiserproklamation in Versailles

Es ist eine pompöse Inszenierung: Preußische Feldregimenter marschieren mit ihren Fahnen vor Schloss Versailles auf, Musikzüge, ein Altar ist im Spiegelsaal von Versailles errichtet worden – Preußens König Wilhelm I. wird zum „Deutschen Kaiser“ proklamiert. Österreich ist damit endgültig „draußen“ aus Deutschland, die „kleindeutsche Lösung“ fix, eine Realität, mit der viele Österreicher in der Folge nicht zurechtkommen. Entsprechend die Kommentare in den österreichischen Zeitungen: „Wir Österreicher“, so heißt es im Leitartikel der Neuen Freien Presse vom 20. Januar 1871, „sehen nicht ohne Schmerz der Erinnerung an vergangene Herrlichkeit den Triumph Preußens“; man fragt nach den Ursachen der „wunderbaren Expansionskraft“ Preußens und wie es nur kommen konnte, dass Österreich, das „mit seinem Leibe so oft Deutschland gedeckt, mit seiner Brust so oft die gegen Deutschland gerichteten Pfeile aufgefangen, so tausendfältig sein theuerstes Herzblut für Deutschland hingegeben“ habe, nun als der „ewige eigennützige Minderer Deutschlands“ hingestellt werde und der Hohenzollernstaat als dessen „einziger Schutz und Schirm“ erscheine.

Und es beginnt die Suche nach den Schuldigen und nach Argumenten, die zeigen sollen, dass „wir Österreicher“ doch die „besseren Deutschen“ sind: da ist die „deutschösterreichische Poesie“, da ist das Hofburgtheater, von Joseph II. als „deutsches Nationaltheater“ gegründet, und da sind österreichische Denker, die beigetragen haben zum „Tempel deutscher Geistesgröße“. Es entwickelt sich jenes Dilemma, das bis 1938 seine Wirkkraft entfalten wird: Als die preußisch-faschistische Staatsgewalt zum endgültigen Schlag gegen Österreich ausholt, weigert sich Bundeskanzler Kurt Schuschnigg, den Schießbefehl zu erteilen – er wolle das Blut der „deutschen Brüder“ nicht vergießen.


Der Triumph Preußens: die Proklamation des Deutschen Kaiserreiches. Gemälde von Anton von Werner, Friedrichsruh, Bismarck-Museum.


Das Begräbnis von Feldmarschall Radetzky

Kaiser Franz Joseph persönlich ist nach Kleinwetzdorf gekommen, um dem toten Helden die letzte Ehre zu erweisen. „Dem Willen des Allmächtigen hat es gefallen“, so sagte er in einem Armeebefehl am Vortag, „den ältesten Veteranen meiner Armee, ihren sieggekrönten Führer, meinen treuesten Diener, den Feldmarschall Grafen Radetzky aus diesem Leben abzuberufen.“ Dem prunkvollen Leichenzug durch die Wiener Innenstadt zum Stephansdom und der feierlichen Einsegnung des Leichnams folgt nun eine schlichte Zeremonie inmitten der sanften Kuppen des Weinviertels.

 

Das Grabmal Feldmarschall Radetzkys in der Gruft am Heldenberg.

Am Abend hat man den Sarg mit einem „Separattrain“ nach Stockerau gebracht und von hier weiter auf einem Wagen zur Kapelle von Schloss Kleinwetzdorf, seit 1832 die Residenz des Armeelieferanten Joseph Gottfried Pargfrieder (1787 – 1863). Reich geworden durch Lebensmittel-, Schuh- und Stofflieferungen an die kaiserliche Armee, lässt Pargfrieder 1849 im Schlosspark die „Gedenkstätte Heldenberg“ errichten, 1854 kann er mit dem Leichnam des Feldmarschalls Maximilian Freiherr von Wimpffen einen ersten „Helden“ in seiner Ruhmeshalle begrüßen. Pargfrieder, der sich gerne als illegitimer Sohn Kaiser Josephs II. ausgibt, ist Nutznießer eines kleinen Lasters der beiden tapferen Militärs: Er hat für Wimpffen und Radetzky die hohen Spielschulden beglichen und sich dafür die testamentarische Verfügung erbeten, sie nach Ableben auf dem Heldenberg bestatten zu dürfen.

Nur wenige Menschen folgen dem Sarg Radetzkys, auf dem sein Marschallstab und die Insignien des Goldnen Vlieses liegen: der Kaiser, die einzigen noch lebenden Kinder des Toten, Friederike und Theodor, und der Kammerdiener Karl. Entlang der „Heldenallee“ stehen „zu tausenden die Bauern“, zusammengeströmt aus der Umgebung, um einen Blick auf den 27-jährigen Monarchen zu erhaschen. Sie knien nieder, als der Trauerzug sie passiert; Pargfrieder selbst nimmt als „Hausherr“ die Leiche bei der Säulenhalle in Empfang; gemeinsam mit dem Kaiser begleitet er den Sarg über vierundzwanzig Stufen hinunter in die Gruft zu der Nische, in der Radetzky, der Sieger von Custozza und Novara, zur ewigen Ruhe gebettet wird – fünf Jahre später wird es Pargfrieder selbst sein, der im rotgeblümten seidenen Schlafrock seinen Einzug in die Gruft hält.


Die Wannseekonferenz

Berlin, Am Großen Wannsee 56 – 58. Das wenige Monate zuvor eröffnete Gästehaus der SS, verwaltet von der von Sicherheitspolizeichef SS-Obergruppenführer Reinhard Heydrich errichteten Stiftung „Nordhav“, bietet jeden Komfort: „vollkommen neu eingerichtete Besucherzimmer, Geselligkeitsräume wie Musikzimmer, Spielzimmer, große Halle und Wintergarten, Terrasse zum Wannsee, Zentralheizung und fl. Wasser“. Die Übernachtung einschließlich Frühstück ist in dem ehemals dem Kaufmann Friedrich Minoux gehörenden Haus für „auswärtige SS-Führer von Sicherheitspolizei und SD“ für fünf Reichsmark mehr als wohlfeil; wer nicht selbst mit dem Wagen ankommt, kann sich jederzeit vom Bahnhof Wannsee abholen lassen, ein Anruf unter der Nummer 80 57 60 genügt.

An diesem Januartag geht es im repräsentativen Esszimmer der Villa hoch her, auf Einladung von Reinhard Heydrich hat sich ein illustrer Kreis von fünfzehn Herren aus diversen Reichsministerien und SS-Dienststellen eingefunden, die alle etwas mitzureden haben, wenn es darum geht, wie auf der Einladung so präzise formuliert, die „Endlösung der Judenfrage“ zu erörtern. Den Vorsitz bei der für 12 Uhr angesetzten „Konferenz“, die ursprünglich schon am 9. Dezember 1941 hätte stattfinden sollen, führt Heydrich selbst, auch ein „Ostmärker“ sitzt mit am Tisch und lässt sich kein Wort von dem entgehen, was die Chefs so diskutieren – muss er doch das Protokoll führen: Adolf Eichmann, der Leiter des „für Juden- und Räumungsangelegenheiten“ zuständigen Referats IV B4 beim Reichssicherheitshauptamt, der auch die Vorlagen für die heutigen Wortmeldungen Heydrichs verfasst hat. Eichmann, Jahrgang 1906, aus Linz stammend und seit 1932 NSDAP- und SS-Mitglied, gilt im Kreis der SS-Führer als der Spezialist für alle „organisatorischen“ Abläufe in den „Judenangelegenheiten“; durchdrungen von einer unbedingten „Ideologie der Sachlichkeit“ (Julia Schulze Wessel), hat er sich im Herbst 1941 eingehend über die Möglichkeiten zum industriellen Massenmord informiert und das in Bau befindliche Vernichtungslager Bełżec ​sowie die „Gaswagenstation“ Chelmno (Kulm) besucht, Letztere während des laufenden „Vernichtungsbetriebes“, eine Inspektion im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau ist geplant. In seinem einleitenden Vortrag teilt Heydrich seine „Bestallung zum Beauftragten für die Vorbereitung der Endlösung der europäischen Judenfrage“ durch Hermann Göring mit und betont, dass nun an die Stelle der Auswanderung eine „weitere Lösungsmöglichkeit“ getreten sei, selbstverständlich nach „entsprechender vorheriger Genehmigung durch den Führer“: die Evakuierung nach Osten zum „Arbeitseinsatz“, wobei eine „natürliche Verminderung“ anfallen würde, der „allfällig endlich verbleibende Restbestand“ werde dann „entsprechend behandelt werden müssen“. Von dieser „Endlösung“ betroffen wären über elf Millionen Juden, darunter auch, wie eine dem Protokoll beigefügte Statistik ausweisen wird, immer noch 43.700 aus der „Ostmark“. Keinen Zweifel lässt Heydrich über seine Kompetenz in dieser Angelegenheit: Die „Federführung bei der Bearbeitung der Endlösung der Judenfrage“ liege „zentral“ beim Reichsführer-SS und dem Chef der Sicherheitspolizei, wichtig sei aber auch die „Parallelisierung der Linienführung“ mit den weiteren „Zentralinstanzen“. In „sehr unverblümten Worten“ wird dann „von Töten und Eliminieren und Vernichten“ (Adolf Eichmann) gesprochen, die Ordonnanzen der Herren reichen Kognak, die Stimmung ist entspannt und Reinhard Heydrich erreicht sein Besprechungsziel: Wilhelm Stuckart, der Staatssekretär des Innenministeriums, der für die Zwangssterilisierung aller Juden eintritt, und dessen Kollegen aus den anderen Ministerien geben „fröhlich“ ihre Zustimmung zu den geplanten „Lösungsmöglichkeiten“ und sagen entsprechende Unterstützung zu. „Jedermann“, so wird Eichmann später aussagen, „war froh, sich an der Endlösung der Judenfrage zu beteiligen.“


Am Großen Wannsee 56 – 58: Die „Endlösung“ ist beschlossene Sache.

Nach etwa eineinhalb Stunden ist die „Konferenz“ zu Ende; Heydrich, Eichmann und SS-Gruppenführer Heinrich Müller, der Chef der Gestapo, trinken am wärmenden Kamin des Nachbarraums noch einen Kognak, „nicht um zu fachsimpeln, sondern uns nach den langen, anstrengenden Stunden der Ruhe hinzugeben“, dann geht es zurück in die Stadt. Eichmann hat sein Büro in der Kurfürstenstraße 16; hier arbeitet er, penibel wie immer, sein fünfzehnseitiges Protokoll der Besprechung am Wannsee aus, das in 30 Ausfertigungen am 26. Februar 1942 den Teilnehmern zugesandt wird, um sie für die erste „Nachfolgebesprechung“ im Büro Eichmanns am 6. März 1942 zu instruieren – ein Dokument der Menschenverachtung, das seinesgleichen sucht.


Das Spatzenpatent

Auf den Haussperling (Passer domesticus L.) wurde seit jeher Jagd gemacht. Das kleine Tierchen gilt zwar nicht gerade als Leckerbissen, in den barocken Kochbüchern finden sich dennoch Rezepte für seine Zubereitung: Nimm ein höltzernes Fäßlein, darnach du viel Vögel hast, und legs voll an, saltz es, daß sie recht im Saltz seyn, leg ein wenig gestossene Wachholder-Beeren darzwischen, gieß ein mittelmäßigen Eßig daran, daß über die Vögel gehet, und vermach es.


Doch nun, beeinflusst vom „Nützlichkeitsdenken“ der Aufklärung, hält es Regentin Maria Theresia für an der Zeit, einen wahren „Vernichtungsfeldzug“ (Georg Wacha) gegen die „listigen, diebischen und gefräßigen Tiere“ zu beginnen. Da man ihnen die Schuld am Rückgang der Getreideernten zuschiebt – sie würden das Körnl mit dem Schnabel gleichsam ausdreschen und so die ganze Ähre leer machen –, erlässt sie 1749 nach preußischem Vorbild, wo die planmäßige Sperlingsbekämpfung bereits 1744 mit einem Edikt Friedrichs II. beginnt, erste Verordnungen betreffend den Kampf gegen die Spatzen. In einem kaiserlich-königlichen Patent vom 7. August 1749 für Niederösterreich verlangt sie eine genaue Prüfung der Modalitäten wegen Ausrottung deren Spatzen und bittet um entsprechende Vorschläge; wohl gestützt auf diese Erkenntnisse verfügt sie am 21. Januar 1750 für das Land Kärnten ein „Spatzenpatent“, mit dem sie im ganzen Land neun eigene Spatzen-Commissarii einsetzt. Die verantwortungsvolle Aufgabe der kaiserlichen Beamten: Sie müssen die Köpfe der getöteten Spatzen abliefern, wobei anhand einer amtlichen Liste überprüft wird, ob auch die vorgeschriebene Tötungsquote erreicht worden ist. Die Anzahl der zu tötenden Vögel richtet sich jeweils nach der Größe des Besitzes des Ablieferers; die Spatzenköpfe werden unter behördlicher Aufsicht verbrannt. Gelingt es einem Spatzen-Commissarius nicht, die vorgeschriebene Menge an Spatzenköpfen vorzuweisen, muss er eine Gebühr entrichten. Bis 1777 kann man diese Spatzen-Commissarii in Kärnten nachweisen.

Die Zahl der Vögel, die in den habsburgischen Ländern getötet werden, ist hoch; genaue Zahlen sind etwa aus dem Land ob der Enns überliefert, wo etwa in der Herrschaft Steyr im Jahr 1751 insgesamt 510 Spatzenköpfe abgeliefert werden.


Kaiser Franz II. proklamiert innere Erneuerung

Wenige Wochen nach Austerlitz (siehe 2. Dezember). Napoleon und seine Grande Armée sind abgezogen, Mitte Januar 1806 kehrt Kaiser Franz I. zusammen mit Johann Philipp Graf Stadion (1763 – 1824), seit Weihnachten neuer Leiter der Staatskanzlei, aus dem „Exil“ im ungarischen Holics zurück nach Wien. Nach der Unterzeichnung des bitteren Friedens von Pressburg am 26. Dezember 1805, der dem Habsburgerreich den Verlust von Tirol und Vorarlberg sowie von Vorderösterreich, Venetien, Istrien und Dalmatien gebracht hat, sind Reformen dringend notwendig. Kaiser Franz ist zwar nicht unbedingt ein Mann von großer Tatkraft, doch er hört auf seinen Kanzler, den Grafen Stadion. Und dieser rät ihm, sich mit einer Proklamation an das Volk zu wenden; Stadion arbeitet wohl auch am Text mit, der einige für Habsburg ungewohnte Töne anschlägt. In der Stunde der Not ist Franz auch bereit, „alle Volksklassen mitwirken“ zu lassen – was immer das auch heißen mag: