Das Mädchen mit dem Flammenhaar

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

Obwohl völlig erschöpft, gönnte ich mir keine Ruhe. Stattdessen stattete ich Woodrow einen Besuch ab, nicht nur um mich von seiner ordnungsgemäßen Verwahrung zu überzeugen. Von zwei Männern bewacht, hatte man ihn in einem Trakt des Gefängnisses untergebracht, indem er verborgen vor den Augen der anderen Häftlinge blieb. Niemand brauchte vorerst zu wissen, dass wir den Statthalter von Alebas als Gefangenen festhielten. Bei meinem Eintreffen zögerten die Wachen kaum merklich, bevor sie beiseitetraten.

„Haltet euch bereit!“, wies ich sie an, bevor ich die Tür hinter mir schloss.

Ich entdeckte Woodrow im Halbdunkel seiner Zelle. Er hockte auf einer Pritsche. Ein Teller mit unberührtem Essen und ein Krug Wasser standen in Reichweite.

„Will sich die Frau des Statthalters von Gullorway persönlich von der sicheren Unterbringung ihres Gefangenen überzeugen?“ Er warf mir einen spöttischen Blick zu. „Keine Angst, mit mir allein in einem Raum zu sein, Avery?“

„Wir sind nicht im selben Raum. Du bist hinter Gittern und in Ketten gelegt, Woodrow.“

„Dennoch fürchtest du mich.“ Trotz der misslichen Lage behielt er den arroganten Tonfall bei. „Warum sonst errichtest du einen Schutzwall?“

Mein Handeln war ihm also nicht verborgen geblieben.

„Aus welchem Grund hast du das getan, Woodrow? Ist dein Hass auf Skyler so groß?“, ging ich zum Gegenangriff über.

„Was wird mir denn zur Last gelegt?“

„Stell dich nicht dümmer als du bist. Du weißt genau, wessen man dich bezichtigt.“

„Spielst du dich jetzt auch als Richterin auf?“

Er sah zu mir herüber. Trotz der Einschränkung, die ihm die Ketten boten, gab er sich betont lässig.

„Es liegt mir fern, zu richten.“

„Stimmt. Du kannst dich ja magischer Mittel bedienen. Vielleicht warst du es am Ende selbst, die die Morde begangen hat? Fließt in deinen Adern nicht auch das Blut der dunklen Magier, Mädchen mit dem Flammenhaar?“

Seine Worte trafen mich bis ins Mark.

„Du wirst deine Fähigkeiten nicht ewig verbergen können. Selbst euren einfältigen Ratsmitgliedern dürfte nicht verborgen geblieben sein, dass ich mich ohne Widerstand entwaffnen ließ, wohingegen mir die Augen fast aus dem Kopf hervorquollen.“

Ich bemühte mich, Ruhe zu bewahren, obwohl mir das Herz bis zum Hals schlug.

„Die Sage von dem Mädchen mit dem Flammenhaar dürfte den Menschen wohl noch vertraut sein“, ließ ich mich hinreißen.

„Jeder legt sich die Geschichte zurecht, an die er glauben will, nicht wahr? Zumal sie noch in keinem Buch nachzulesen ist, oder täusche ich mich da?“

„Es wird wieder Bücher geben, so wahr ich hier stehe.“

„Ja, so wahr du dort stehst, mit dickem Bauch.“ Ein seltsamer Ausdruck trat in seine Augen. „Zwei Mädchen, eine jede die Kopie der anderen, ihr Antlitz den Göttern gleicht. Wenn sie erblicken das Licht der Welt, ein tödliches Tuch aus Staub und Sand der Menschheit Mantel ist“, rezitierte er den Sagentext.

Mir wurde die Kehle eng. Schwindel erfasste mich. Ich war nicht in der Lage, mich seinen Worten zu entziehen.

„Trägst du Zwillinge in deinem Bauch, Avery? Skylers Frucht? Dann Gnade der Menschheit, wenn Skyler als Esch zurückkehrt.“

Taumelnd verließ ich den Kerker, um seinen Worten zu entkommen. Sein boshaftes Lachen begleitete mich, als ich an den Wachen vorbei nach draußen stürmte. Erst vor Jodees Haus hatte ich mich wieder einigermaßen gefasst.

„Was ist los?“, fragte sie, kaum dass ich den Raum betrat.

Zum Glück traf ich sie allein an. Ich berichtete von der unfreiwilligen Ratssitzung, von Woodrows Erscheinen und meinem Verdacht, dass er die Morde angezettelt habe, wenn nicht gar selbst begangen.

„Hm. Wo ist er jetzt?“

„Im Stadtverlies. Ich … habe einen Schutzwall errichtet.“

„Sehr gut“, lobte Jodee und rieb die Handflächen aneinander. Ihre weißen Zähne blitzten anerkennend auf. „Und was ist mit seinen Waffen?“

„Habe ich ihm abnehmen lassen.“

„Ausgezeichnet.“ Sie nickte zustimmend. „Wo werden sie aufbewahrt?“

„Ich hatte den Wachen befohlen …“

„Geh sie holen! Wir nehmen sie sicherheitshalber hier unter Verschluss. Vor allem, den Stab, den Woodrow stets am Gürtel trägt, genau wie Skyler.“

Ich sah sie verständnislos an.

„Ich habe lange genug bei den Bowmen gelebt, um ihre Tricks zu kennen. Also?“

„Bin schon unterwegs.“

Es widerstrebte mir zwar, mich abermals zum Gefängnis zu begeben, doch vertraute ich Jodees Intuition. Überrascht sahen mich daher die Wachen an, als ich so kurz nach meinem Fortgehen erneut eintraf.

„Wo bewahrt ihr die Waffen des soeben eingelieferten Gefangenen auf?“, fragte ich ohne Umschweife.

„Wozu willst du das wissen?“, begehrte einer von ihnen auf.

„Bist du taub? Als die Frau des Statthalters frage ich dich: Wo sind seine Waffen?“

„In der Waffenkammer, wo sonst? Gleich die Ecke herum, aber …“

Er erhob sich, um mich am Weitergehen zu hindern.

„Danke, ich finde allein dorthin.“

Mit einem unguten Gefühl folgte ich seiner Beschreibung. Die Rüstkammer wurde nur von einer einzelnen Wache geführt. Schläfrig hockte er hinter dem Schreibtisch, den Kopf auf die Hände gestützt. Bei meinem Eintreten richtete er sich betont gelangweilt auf.

„Was gibt’s?“, fragte er träge und gähnte mich ungeniert an. Nachlässig glitt ihm der Umhang von den Schultern, als er die verspannten Glieder streckte.

„Weißt du, wer ich bin?“

„Natürlich. Du bist die Frau des Statthalters.“

Er grinste mich frech an.

„Und warum liegst du dann halb auf dem Tisch, anstatt dich zum Gruß zu erheben?“

Es missfiel mir zwar, derart herrisch aufzutreten, doch wenn ich ernstgenommen werden wollte, war dies unerlässlich.

„Ähm …“ Er straffte die Schultern. Zarte Röte überzog sein Gesicht. „Was kann ich denn für dich tun, Avery-Statthalterin?“ Skeptisch hob er eine Augenbraue in die Höhe.

„Gib mir die Waffen, die ihr dem Gefangenen abgenommen habt.“

Er runzelte die Stirn, als müsse er über diese schwierige Aufgabenstellung erst nachdenken.

„Wozu? Sie sind sicher verschlossen, wie alles andere auch“, gab er selbstgefällig zur Antwort.

„Ich frage kein zweites Mal!“

Drohend trat ich einen Schritt vor. Ich hatte Skyler oft genug in Situationen wie diesen beobachtet, um zu wissen, wie er sich Respekt verschaffte. Doch als Frau, noch dazu schwanger, schien es nicht dieselbe Wirkung zu haben. Blitzschnell griff ich in die Falten meines Kittels und brachte meinen Dolch YEMAHL zum Vorschein. Seit den vergangenen Ereignissen trug ich ihn stets bei mir. In einer fließenden Bewegung landete mein Wurfmesser nur knapp neben dem Ellbogen des Mannes in der Tischplatte. Erschrocken fuhr er aus dem Stuhl empor und wankte zurück.

„Kein Grund, mit dem Messer nach mir zu werfen“, stammelte er und griff nach dem Schlüsselring greifend. Er schloss das Gitter einer kleinen Kammer auf, wobei er mich wachsam im Auge behielt. Ich zog den Dolch aus der Holzpatte, ließ ihn wieder unter meinem Gewand verschwinden.

„Nun?“

„Das ist alles, was wir bei ihm gefunden haben.“

Er breitete ein wahres Arsenal auf dem Tisch aus, als wolle er es zum Verkauf feilbieten. Flüchtig warf ich einen Blick darauf. Etwas fehlte.

„Und der Stab?“

„Welcher Stab?“ Die Gesichtsfarbe wechselte zu Zinnoberrot. „Er sah nicht wie eine Waffe aus, da habe ich ihn hier eingeschlossen.“

Ich glaubte ihm kein Wort. Mit zitternden Fingern wählte er einen anderen Schlüssel aus, um die Schublade vor seinem Schreibtisch zu öffnen. Papier raschelte.

„Ist er das?“ Schweißperlen standen ihm auf der Stirn.

Ungeduldig entriss ich ihm den Stab aus den Fingern. Unfreiwillig kam ich ihm dabei so nah, dass ich seinen fauligen Atem roch. Würgend drehte ich mich fort.

„In diesem besonderen Fall nehme ich die Waffen an mich.“

„Das kannst du nicht …“, widersetzte er sich.

„Sagt jemand, der sich das beste Stück daraus beiseitelegt? Wie lautet dein Name, Wachmann?“

Ohne Eile rollte ich die Waffen samt Stab in seinem Umhang ein. Es brauchte niemand zu sehen, dass ich sie besaß.

„Mein Name? Ähm“, er leckte sich nervös über die Lippen. „Momen.“

„Den Mantel lasse ich dir später zurückbringen – und, ich behalte dich im Auge, Momen.“

Raschen Schrittes verließ ich den Raum. Als ich draußen war, lehnte ich mit rasendem Herzen und schweißgebadet an der Mauer des Kerkers. Der Nachmittagssturm zerrte mir an Kleider und Haaren. Gierig nach Sauerstoff pumpte ich meine Lungen voll, bis ich glaubte, mich mit meiner Last fortbewegen zu können, ohne einzuknicken.

„Du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen. Setzt dich erst mal, Avery.“

Jodee musterte mich besorgt.

„Was schleppst du da überhaupt unter deinem Arm mit dir herum?“

„Woodrows Waffen. Den Stab habe ich auch.“ Ich grinste.

„Und bei den Göttern, iss etwas! Wenn Skyler erfährt, dass ich dich den ganzen Tag ohne Essen herumlaufen lasse, macht er mich einen Kopf kürzer.“

„Dann bleibt ja nicht mehr viel“, versuchte ich mich an einem lahmen Witz.

„Eben.“

Sie stellte eine Schale vor mir hin, füllte sie mit einer sämigen Fischsuppe, die mir das Wasser im Munde zusammenlaufen ließ. Hungrig fiel ich über die Suppe her.

„Noch einen Teller?“

Belustigt über meinen Appetit hielt sie die Schöpfkelle in der Hand.

„Ja, bitte. Es schmeckt köstlich.“

„Einen gesegneten Appetit hast du jedenfalls. Ich habe noch eine Portion für Annie übrigbehalten, die ich ihr gleich vorbeibringen wollte.“

„Das kann ich doch erledigen.“

„Du ruhst dich aus“, bemühte sie sich, streng zu klingen. „Aber zuvor erklärst du mir, was jetzt schon wieder vorgefallen ist.“

Genussvoll wischte ich mit einem Kanten Brot den Teller aus und lehnte mich gesättigt zurück. Erst dann sah ich mich in der Lage, die Geschehnisse wiederzugeben.

 

„Ich kann das nicht mehr, Jodee“, schloss ich meinen Bericht nach dem Vorfall mit den Wachen im Gefängnis ab. „Ich kann Skyler nicht längere vertreten. Ich bin nur seine Frau.“

„Und künftige Guhlant!“

„Noch bin ich es nicht.“

„Doch, das bist du.“

„Nein, Jodee.“ Ich schüttelte resigniert den Kopf. „Heilerin, vielleicht. Aber eine Herrscherin? Niemals. Ich kann mir nur Respekt verschaffen, indem ich zu magischen Hilfsmitteln greife, und das ist gefährlich.“

„Es kann nicht schaden, den Menschen von Kandalar deine Stärke zu zeigen, solange du es nicht übertreibst.“ Sie tätschelte beruhigend meine Hand.

„Jodee, es schmeckt mir nicht von der Macht zu kosten, wie Skyler es zu gefallen scheint.“

„Du wirst dir doch jetzt wohl nicht Woodrows Worte zu Herzen nehmen?“

„Nein, natürlich nicht“, log ich. „Aber gewisse Bedenken sind nicht von der Hand zu weisen. Was, wenn die Sage sich erfüllt wie auch alles andere darin?“

„Als da wären?“

„Du weißt, wovon ich spreche, was geschehen wird, wenn unsere Zwillinge das Licht der Welt erblicken.“ Gequält sah ich sie an. „Jodee, ich habe Angst vor der Geburt.“

„Es ist völlig normal, dass du dich davor ängstigst. Schließlich ist es das erste Mal für dich“, bemühte sie sich um Zuversicht.

„Das allein ist es nicht. Was, wenn wirklich ein Unglück geschieht, nachdem sie geboren wurden?“

Ich wollte nicht die Schuld daran tragen, dass die Geburt unserer Mädchen anderen Menschen schaden konnte.

„Avery, wie sollen zwei unbefleckte Säuglinge ein Unglück heraufbeschwören?“, bemühte sie sich, meine Bedenken zu zerstreuen.

„Weil in ihnen nicht nur Skylers und mein Blut fließt, sondern auch das der dunklen Magier.“

Es war mir nicht entgangen, dass sie kaum merklich zögerte. Was wusste sie?

„Avery, du bist das Mädchen aus der Sage. Durch dich wurden die Menschen von Kandalar von der Knechtschaft der Herren von Kandalar befreit.“

„Nicht durch mich. Es war Skyler, der gegen sie antrat.“

„Nicht so bescheiden. Hätten die Götter etwas anderes für dich und Skyler vorgesehen, stünde dies in deinem Lesestein.“

„Du weißt davon?“, fragte ich sie überrascht.

„Natürlich. Als du bei den Bowmen warst und Skyler von Woodrow den Stein verlangte, fragte er mich nach dessen Bedeutung, obwohl er es längst wusste.“ Sie kicherte verschmitzt. „Wie auch immer. Ihr seid füreinander bestimmt, das Volk von Kandalar zu führen.“

„Warum gabst du mir dann die Kapseln, um mich vor einer Schwangerschaft zu schützen?“

„Weil du Skylers Kinder austragen solltest – niemands sonst.“ Ihre Stimme klang ganz ruhig, während sie mich beobachtete.

„Und wenn ihm jemand zuvorgekommen wäre?“

„Hätte, wäre, wenn … Dafür hat er dir doch eine andere Kapsel gegeben, nicht wahr?“

„Du wusstest, dass sie mich an ihn bindet?“

„Ja.“

Ihre offene Antwort traf mich wie ein Pfeil.

„Welche Geheimnisse teilt ihr sonst noch miteinander, von denen ich nichts weiß?“

In meinem Herzen drohte sich ein Eisklumpen zu bilden, der unaufhörlich wuchs. Sie war meine Freundin, oder etwa nicht?

„Natürlich bin ich das.“

Und dennoch las sie in meinen Gedanken, wenn ich sie nicht abschirmte.

Jodees Geschichte

Von schwarzer Hautfarbe zu sein galt von jeher als exotisch. Etwas, was die Männer fernab der Küste und der Grenzen Kandalars nicht kannten und daher besitzen wollten. Männer wie die Herren von Kandalar und die Bowmen gleichermaßen. Darüber hinaus über heilende Kräfte zu verfügen, Dinge zu sehen, die den meisten verwehrt blieben, ließen Jodee und ihren Clan der Jaggesam zu Verfolgten einer aussterbenden Rasse werden. Sie lernte früh, ihre Fähigkeiten für sich zu behalten, nicht aufzufallen, wo allein ihr Äußeres markant genug war. Ihre Haut, schwarz wie Ebenholz. Von kleinwüchsiger Statur, fragil, mit Augen, die vor Energie nur so sprühten und einen verborgenen Humor dahinter vermuten ließen. Sie lachte zu laut und zu oft. Es war ihre Art, sich zu schützen, wenn sich all das Leid vor ihrem inneren Auge abspulte – vergangenes und bevorstehendes.

In Nerang aufgewachsen, an der nördlichsten Grenze zu Kandalar gelegen, war sie die Älteste von fünf Geschwistern. Mit elf übernahm sie unfreiwillig die Rolle ihrer Eltern, die von den Häschern der Herren von Kandalar in die undurchdringlichen Nebelwälder von Sobso getrieben wurden und die sie daraufhin nie wieder zu Gesicht bekam. Fortan lebte sie mit ihren Brüdern und Schwestern ständig auf der Flucht vor den Sklavenjägern der fernen Inseln und der Herren von Kandalar – als einzige Überlebende der Jaggesam. Das Dorf war niedergebrannt, die Felder verwüstet, jeglicher Lebensgrundlagen beraubt. Man wollte sie aushungern, weichklopfen, um sich ihrer Fähigkeiten zu bemächtigen. Um sie zu diskreditieren, wurden Lügenmärchen verbreitet. Ungeheuerliche Gräueltaten schrieb man ihr und ihren Geschwistern zu, obwohl sie nur Kinder waren, die ums nackte Überleben kämpften.

Letztendlich waren die Verräter wohl unter den wenigen Vertrauten auszumachen, die ihnen noch blieben. Als Jodee dreizehn Jahre zählte, musste sie, ohnmächtig vor Wut, mitansehen, wie ihre Brüder und Schwestern verschleppt, versklavt, am Ende gar getötet wurden. Ob man sie aus Angst, Schwäche oder reinem Egoismus verriet, vermochte sie nicht zu sagen, sooft sie auch darüber nachgrübelte. Am Ende blieb nur sie zurück.

Halb irre vor Hunger und Verzweiflung schlug sie sich durch die Wälder nach Kandalar. Allein ihrem inneren Antrieb verdankte sie es, dass der Tod sie nicht bezwang. Einer Stimme, die ihr befahl, nach Gullorway aufzubrechen und ihre schützende Hand über ein rothaariges Mädchen zu halten, dass einst Kandalar retten sollte.

Abgemagert bis auf die Knochen, nur noch ein Schatten ihrer selbst erreichte sie den Mukonor. Völlig entkräftet gelangte sie ans gegenüberliegende Ufer. Starr vor Dreck, die Kleidung in Lumpen um die mageren Glieder schlotternd. Das Haar verfilzt, in einer unbändigen Mähne wie ein übergroßes Vogelnest auf dem Kopf sitzend, kauerte sie am Ufer, wartete auf den Tod, der unweigerlich folgen musste.

Ihr Leben verdankte sie nicht zuletzt spielenden Kindern, die sie eher durch Zufall fanden und die Eltern zu Hilfe holten. Diese fragten nicht nach dem wie und warum für ihr unverhofftes Auftauchen. Stattdessen trugen sie Jodee ins Dorf Gullorway. Sie war am Ziel.

Dehydriert, unterernährt und stinkend wie eine Jauchegrube gab man ihr zuerst ein wenig zu trinken. Helfende Hände flößten ihr ein paar Löffel ungewürzten Eintopf zwischen die aufgesprungenen Lippen ein. Anstatt sie mit Fragen zu bestürmen, steckte man sie in einen wohltuenden Bottich lauwarmen Wassers, der nach Kräutern duftete, bis sie dem Äußeren nach halbwegs wieder einem Menschen glich. Sie trugen Kleidungsstücke ihrer Töchter zusammen und gaben sie ihr anstandslos, verbrannten die ihren dagegen in einer Tonne. Man schor ihr den Kopf und trösteten sie, es seien doch nur Haare, die bald wieder nachwuchsen.

Zu schwach, um sich der Prozedur zu widersetzen, ließ Jodee all dies über sich ergehen. Ohne ein einziges Wort. Es würde schon seine Richtigkeit haben, sprach sie sich Mut zu. Warum sonst führte sie das Schicksal ausgerechnet zu jenem abgelegenen Ort?

Mit der Zeit kam sie wieder zu Kräften und mit der Genesung kamen die Fragen. Erst langsam, dann fordernd. Niemand vermochte sich einen Reim darauf zu machen, wozu ein Mädchen in ihrem Alter von einem fernen Land allein den Weg zu ihnen nach Gullorway auf sich nahm. Jodee schwieg beharrlich. Schließlich befanden die Dorfältesten, dass sie keinerlei Gefahr für die Bewohner Gullorways darstellte. Sie war nur ein Kind, das offenbar Schreckliches erlebt hatte.

Jodee fand ein neues Heim bei einem kinderlosen Paar, das sie als Geschenk der Götter betrachtete, hatten sie diese doch vergebens um eigene Kinder gebeten.

Obwohl Jodee reserviert blieb, selten mit anderen Kindern spielte, erwarb sie sich allmählich den Respekt der Dorfbewohner. Sie scheute keine harte Arbeit, trotz ihrer zierlichen Statur. Hilfsbereit unterstützte sie die Bauern auf den mageren Feldern, gab ihnen Tipps, wie sich diese oder jene Pflanze besser anbauen ließ.

Aufgrund ihrer Herkunft verfügte Jodee nicht nur über ein unerschöpfliches Wissen über Heilkräuter. Allein ihre Nähe wirkte sich beruhigend und heilsam auf die Bewohner aus. Bald schon fragte man sie um Rat, zu der einen oder anderen Krankheit. Dabei galten ihr Kräuter und Tinkturen in Wahrheit oft nur als Beiwerk, um davon abzulenken, dass sie auch ohne diese Hilfsmittel zu heilen vermochte.

Mit den Jahren glaubte sie nicht mehr daran, jenes Mädchen mit den roten Haaren in Gullorway zu finden. Der Hunger ließ sie wohl damals an der der Schwelle zum Tode die unbekannte Stimme hören.

In manchen Nächten jedoch, wenn dunkle Träume sie heimsuchten, wachte sie schweißgebadet auf. Irgendetwas warnte sie. Von einer inneren Angst getrieben, weckte sie sogar eines Nachts ihre Stiefeltern auf. Jodee wusste keine Erklärung dafür. Nur, dass die gefürchteten Herren von Kandalar auf dem Weg nach Gullorway waren. Meist fielen sie in großer Zahl in Dörfer und Städte ein auf der Suche nach verbotenen Büchern oder Schriften. Allein ihnen war es erlaubt, solche zu besitzen. Sie trieben Steuern ein, kidnappten Frauen im gebärfähigen Alter oder plünderten und brandschatzten aus purer Lust daran.

So galt es allein Jodees Verdienst, dass die Dorfältesten Gullorways Vorkehrungen für das Eintreffen der tyrannischen Herrscherboten trafen. Auf ihr Anraten hin versteckte man Frauen und Kinder in dem unterirdischen Stollen eines ehemaligen Bergwerks am Ortsausgang. Den Zugang verbarg man hinter Gestrüpp und morschen Bäumen. Die weisen Männer des Dorfes ließen die Jäger Mahilo-Eschs im Unklaren, was die Abwesenheit der übrigen Dorfbewohner betraf. Wütend darüber, unverrichteter Dinge kehrtmachen zu müssen, brannten sie einen Schuppen mit Saatgut nieder. In ihrer Raserei knüppelten einen alten Mann zu Tode, der es wagte, sie als grausame Tyrannen zu beschimpfen. In Wahrheit opferte er sich in dem Wissen, dass eine Krankheit ihn sowieso in Kürze dahinraffte. Er gab sein Leben für das vieler unschuldiger Frauen und Kinder.

Diese und ähnliche Überfälle, die in unregelmäßigen Abständen nicht nur Gullorway heimsuchten, ließen die Siedler nie vergessen, wer die Macht im Land besaß. Die Herren von Kandalar. Sie stahlen ihnen Frauen und Kinder, weil sie selbst mit den Jahren zeugungsunfähig geworden waren. Eine Nebenwirkung ihrer Vorstellung davon, willenlose Geschöpfe wie Gelblinge zu erschaffen.

So dankbar Jodees Warnungen und Ratschläge angenommen wurden, so sehr wuchsen allmählich Misstrauen und Zweifel. Woran mochte es denn liegen, dass sich die Besuche der Herren von Kandalar häuften, seit sie unter ihnen weilte? Wie war es zu erklären, dass nur sie von den bevorstehenden Überfällen wusste, wo sie doch angeblich keinen Kontakt zu den Herrschenden besaß? Stets gelang es ihren Stiefeltern und den Dorfältesten, die Zweifel und Ängste der Bewohner zu zerstreuen. Doch wie lange noch?

Als Jodee das achtzehnte Lebensjahr zählte, richtete sich das Interesse der Dorfbewohner einem neuen Erdenbürger. Einem rothaarigen Mädchen mit Namen Charise, der Tochter des Dorfältesten Aris. Rotes Haar war so unwahrscheinlich wie Schnee im Sommer. Es weckte die Erinnerung an eine uralte Sage, die von einem Mädchen mit Flammenhaar erzählte, das die Menschen von der Schreckensherrschaft, der Herren von Kandalar, befreien würde. Hoffnung breitete sich unter den Bewohnern aus.

Dennoch verspürte Jodee nicht den Drang, ihre geheime Aufgabe dahingehend zu erfüllen, dieses Kind zu schützen. Obwohl der Säugling rotes Haar besaß, dünn und spärlich auf dem runden Schädel verteilt, spürte sie nichts von seiner besonderen Aura. In den Visionen, die sie in letzter Zeit immer häufiger heimsuchten, war es nie dieses Kind, das ihren Schutz bedurfte. Stattdessen schob sich ein sanftmütigeres Wesen, mit flammend rotem Haar und weichen Locken in ihren Kopf. Doch, wo sollte sie nach diesem Kind suchen, wenn es nicht Charise war? Jodee teilte ihre Bedenken und Gefühle mit niemandem, aus Angst, erneut in den Fokus der Bewohner zu geraten. So beobachtete sie nur stillschweigend.

Im Laufe der Jahre zu einer jungen Frau gereift, fand Jodee sich damit ab, Heilerin zu sein. Die Bemühungen ihrer Zieheltern, einen geeigneten Heiratskandidaten zu finden, wies sie mit dem ihr eigenen Humor unter der Begründung zurück, für so etwas keine Zeit zu haben.

Als Charise zwei Jahre zählte, sollte sie einen Bruder bekommen. Jodee wusste es, längst bevor sich die Nachricht einer erneuten Schwangerschaft von Aris‘ Frau herumsprach. Und sie besaß auch Kenntnis darüber, dass Aris bei einer Reise nach Perges eine Affäre mit einer Frau einging, die ebenfalls sein Kind erwartete.

 

Die Monate vergingen. Als Jodee von Aris zu dessen Haus gerufen wurde, weil seine Frau viel zu früh in den Wehen lag, überraschte es sie nicht sonderlich, dass er statt die Hebamme nach ihr rief. Sie war die Heilerin des Ortes, der man außerordentliche Fähigkeiten zugestand und diese Geburt versprach problematisch zu werden. Sie half der Frau, derweil Aris unter dem Vorwand verschwand, in einer dringenden Angelegenheit als Dorfältester unabkömmlich zu sein. Als er zurückkehrte, wirkte er verändert und um Jahre gealtert. Er konnte Jodee nicht in die Augen sehen und wusste, dass sie den wahren Grund dafür kannte. Sie las die Qual und Verzweiflung über das Unvorstellbare darin. Eine unbekannte Macht die ihm befahl, den soeben zur Welt gekommenen Sohn, schwach und nicht lebensfähig, gegen das Neugeborene seiner Mätresse einzutauschen und als den seinen anzunehmen.

Mit zitternden Händen nahm er seiner völlig entkräfteten Frau den toten Sohn aus den schlaffen Armen und verschwand mit ihm in die Dunkelheit hinaus. Wenig später kehrte er zurück. Lehm und Blattreste klebten noch an seinen Schuhen, für die er nicht einmal die Zeit fand, um sie zu reinigen. Stattdessen trug er einen Weidenkorb mit dem in Decken gehüllten Kuckuckskind. Hastig bemühte er sich, die verräterische blaue Feder darin – das Symbol der dunklen Magier – an sich zu nehmen. Nicht schnell genug für Jodees flinke Augen.

Ihre Blicke trafen sich. In seinem lag ein unausgesprochenes Flehen, ihn nicht zu verraten. In ihrem las er stumme Anklage, ob der unglaublichen Tat. Einen Moment war sie versucht, das rosige Bündel aus dem Korb ins Jenseits zu befördern. Doch was konnte ein Kind für die Wurzeln seiner Mutter?

Es war ein winziges Mädchen. Unschuldig reckte es ihr die dünnen Ärmchen im Schlaf entgegen. Obschon älter als einen Monat wirkte sie, als wäre sie eben erst zur Welt gekommen. Avery, so der Name des Mädchens, kam eindeutig zu früh zur Welt. Ihre Ankunft, vorherbestimmt und von langer Hand geplant, durch die Ränkeschmiede einer dunklen Magierin.

Letztendlich überzeugten Jodee nicht nur die verschwitzten roten Löckchen, die an ihrem Kopf klebten, sondern die besondere Aura, die sie bereits jetzt umgab. Die Erkenntnis, dass sie das Mädchen fand, dessen Leben es zu schützen galt, brach wie ein Gewitter über sie herein. Also fantasierte sie nicht, als sie vor vielen Jahren die Stimme hörte, die ihr befahl, nach Gullorway zu gehen.

Aris beschwor Jodee, Stillschweigen über die wahre Herkunft des Kindes zu bewahren, um Kandalars Willen und sie gab ihm ihr Wort.

In den folgenden Wochen wich Jodee kaum von Averys Seite. Selbst die Mutter glaubte bald daran, statt eines Sohnes eine Tochter zur Welt gebracht zu haben – wenn Jodee dazu auch einige Korrekturen in ihrem Gedächtnis vornahm.

Die Mädchen wuchsen heran. Charise zu einem störrischen, eifersüchtigen Wesen, Avery zu einem wissbegierigen Kind, das vor nichts zurückschreckte.

Zu dieser Zeit häuften sich die Besuche der Herren von Kandalar wieder. Gerüchte über die Existenz rothaariger Mädchen waren ihnen zu Ohren gekommen. Man musste ihrer habhaft werden, bevor sie Unheil anrichteten. Fortan trugen Charise und Avery Kopfbedeckungen und wurden bei der geringsten Gefahr in Sicherheit gebracht.

Während Charise darunter litt, ihr Haar unter einer Haube verbergen zu müssen, so stumpf und glanzlos es auch war, trug Avery es mit Fassung. Die dicken Locken, kupferfarben, mit rötlichem Gold durchzogen, verloren sich unter der Kopfbedeckung in einem kaum zu bändigenden Wirrwarr, der zu ihrem ungestümen Wesen passte. Jodee hatte das zierliche Mädchen inzwischen liebgewonnen.

Dann kam der Tag, an dem Jodee sich allein in den nahegelegenen Wald auf die Suche nach Kräutern und Wurzeln begab. Ein Spähtrupp des Eschs wurde auf sie aufmerksam, ohne dass ihre Sinne sie warnten.

„So allein im Wald, schönes Kind?“

Sie wusste es in dem Moment, als sie die Stimme des Reiters hörte. Ihr Leben war in Gefahr! Drei Männer in schwarzen Roben, mit den Insignien der Herren von Kandalar auf ihren Schwertern hielten auf sie zu. Jodee flüchtete in den Wald hinein. Dabei Haken schlagend wie ein Hase, verfluchte sie ihre viel zu kurzen Beine, die es ihr nicht erlaubten, große Sprünge zu bewirken. Die Männer machten sich einen Spaß daraus, sie durch den Wald ans gegenüberliegende Ufer des Mukonors zu hetzen, bis sie vor Erschöpfung zusammenbrach.

„Was für ein hübsches Ding. Schaut euch nur ihre Haut an, so zart, so andersartig.“

„Sie hat zwar keine roten Haare, wie Mahilo-Esch es verlangt, aber sie sieht mir nach einer Jaggesam aus“, meldete sich ein zweiter Mann zu Wort und schwang sich elegant vom Pferderücken. „Hätte nicht gedacht, dass es noch jemandem von dieser Rasse gibt. Noch dazu eine Zuchtstute.“

„Für eine einwandfreie Linie ist sie ein wenig klein geraten, findest du nicht?“, fragte der erste Sprecher und glitt ebenfalls aus dem Sattel, um Jodee aus der Nähe zu begutachten.

„Größe spielt keine Rolle. Sie hat genau das richtige Alter“, urteilte der zweite Redner und glotzte ihr unverhohlen auf die viel zu großen Brüste.

Jodees Blick huschte ängstlich zu dem dritten Mann im Bunde, der bisher überhaupt noch nichts gesagt hatte. Instinktiv wusste sie, dass er der Schlimmste von ihnen war. Er trieb sein Pferd auf sie zu, wobei die Hufe des Tieres ihr gefährlich nahekamen. Ein wenig unbeholfen, stieg er aus dem Sattel und schritt humpelnd auf sie zu. Mit undurchdringlicher Miene sah er auf sie herab.

„Wenn sie das ist, wonach sie aussieht, kann sie uns eine Weile nützlich sein. Steh auf, Weib!“

Mit unglaublicher Brutalität zog er sie an den Haaren empor. Sie wagte nicht, in seinen Gedanken zu lesen, aus Angst, dass er es bemerkte.

„Wenn dir dein Leben lieb ist, sorge dafür, dass mein Bein wiederhergestellt wird!“

Er zog sie an ihrem Haarschopf so dicht zu sich heran, dass Speichel Tröpfchen auf ihre Wange spritzten, die er bei seiner zischenden Aussprache von sich gab. Blitze explodierten vor ihren Augen, als ihre Füße den Kontakt zum Boden verloren.

„Du bist doch Heilerin, Jaggesam, oder?“

Sein Atem wehte ihr entgegen wie der Schlund eines Grabes. Ihr Grab, wenn sie nicht tat, was er von ihr verlangte. Vor Schmerzen konnte sie kaum einen klaren Gedanken fassen.

„Oder?“, fragte er mit Nachdruck und rammte ihr ein Knie in den Unterleib.

„Ja!“, schrie sie gequält.

Er lächelte zufrieden.

„G-u-t“, sagte er gedehnt, in der schleppenden Sprechweise der Herren von Kandalar. Mit einem diabolischen Grinsen ließ er sie los.

„W-was soll ich t-tun?“

Jodee brachte vor Angst kaum ein vernünftiges Wort heraus.

„Hörst du nicht zu?“ Eine schallende Ohrfeige ließ ihren Kopf zur Seite schnellen. „Heile mein Bein!“

„Du musst ihr auch das richtige Bein zeigen!“, forderte ihn der erste Sprecher mit einer obszönen Geste auf und nestelte bereits an seinem Hosenbund herum.

„Halt dich gefälligst zurück, bis ich mit ihr fertig bin! Dann könnt ihr sie meinetwegen haben.“

Er schälte sich umständlich aus der Hose heraus. Starr vor Entsetzen fiel Jodees Blick auf das zerfetzte Bein, welches von zwei stümperhaften Schienen zusammengehalten wurde, wo Haut und Sehnen zu einer verklumpten Masse verschmolzen. Übelkeit bahnte sich ihren Rachen empor. Nur mit Mühe unterdrückte sie den Impuls, sich vor seinen Füßen zu erbrechen.

„Du sollst mir nicht auf die Eier starren, sondern das Bein zusammenflicken.“

Er zwang Jodee auf die Knie.

„Wird’s bald?“

Unter hämischem Gelächter der Männer befolgte Jodee seinen Befehl. Zitternd wie Espenlaub erspürten ihre Hände die Verletzung, ohne ihn jedoch zu berühren. Verdammt sollte er sein für das, was er ihr und ihresgleichen antat. Ja, sein Bein würde heilen. Vorerst. Und binnen Wochen würde es von den Zehen an aufwärts zu verfaulen beginnen, bis sein gesamter Körper nur noch ein einziger fauliger Klumpen war.

„Braves Mädchen.“ Breitbeinig stand er vor ihr, ohne sich seine Hose wieder überzustreifen. „Zeig mir, wozu du sonst noch taugst.“

To koniec darmowego fragmentu. Czy chcesz czytać dalej?