Elfenzeit 6: Zeiterbe

Tekst
Z serii: Elfenzeit #6
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

9.
Der magische Wall

Hügel von Tara

»Ich habe sie gehabt! Die Spur! Eben war sie noch da. Ganz frisch! Und dann wieder nicht mehr«, sagte Pirx und sprang aufgeregt über die Straße und in Feld hinein. »Vielleicht war die Dunkle Königin gar nicht vor uns, sondern hinter uns.«

»Wohl kaum«, antwortete der Grogoch und schmatzte unwillig.

Der alte Kobold war für Pirx’ Geschmack viel zu ruhig und gelassen. Es kam einfach nicht in Frage, dass sie Bandorchu verloren hatten. Vielleicht mal kurz verlegt, aber nie gänzlich verloren! Sowas durfte es nicht geben!

»Jetzt ist auch noch der Kerl einfach verschwunden. Wusch und weg!«, zeterte der Pixie fassungslos und biss sich vor Aufregung und Wut in seine rote Kappe.

»Erinnert mich an das Zeitgrab«, sagte Grog und schmatzte erneut. »Es ist nicht nur die Spur, die einfach abbricht. Es liegt etwas Magisches in der Luft. Schon die ganze Zeit.«

Pirx hielt inne und schnüffelte. Da hing so einiges in der Luft. Bier, Schnaps, Schweiß und Schafkacke überall. Aber jetzt, da sein Freund ihn darauf hingewiesen hatte, roch er es auch. Diesen Andershauch.

»Du denkst, sie haben nen Wall errichtet? Mitten auf den Feldern?« Pirx kratzte sich die Stacheln und schob die Kappe wieder auf den Kopf.

»Es muss ein gewaltig großer sein, wenn sie alle darin untergekommen sind«, sagte Grog und rieb sich grüblerisch das haarige Kinn.

»Gigantisch groß sogar! Schließlich wird die Königin nicht in einem Campingzelt wohnen wollen«, setzte Pirx die Überlegungen fort. »Aber wie sollen wir die Grenze finden?«

»Wir werden abwarten, bis wieder jemand die Stadt in derselben Richtung verlässt.«

Die Worte des Grogoch klangen einleuchtend. Also legten sie sich am Straßenrand auf die Lauer. Es dauerte mehrere Stunden, doch kurz bevor Pirx soweit war, die Sache abzublasen und sich etwas Essbares zu besorgen, sah er einen alten Tattergreis auf einem Wagen den Weg in ihre Richtung einschlagen.

»Vielleicht will er ins nächste Dorf«, meckerte Pirx, als der Grogoch ihn anschob, um an dem Gefährt dran zu bleiben.

»Schau doch, was er geladen hat«, hielt Grog dagegen. »Sieht aus, als wäre es für ein Picknick bestimmt, nur eben ein wirklich großes.«

Tatsächlich hatte der Alte Essen, Bier und Decken womöglich für ein ganzes Heerlager dabei. Pirx nahm seine Beinchen in die Hand, um zusammen mit dem schwerfälligen, aber nicht minderschnellen Grogoch die Verfolgung aufzunehmen.

»Irgendwann wird er auf die Wiese abbiegen«, prophezeite Grog. Und genauso kam es.

Ungefähr auf der gleichen Höhe wie zuvor, als sie den Jungen in den Feldern verloren hatten, lenkte der Fuhrmann sein Pferd von der Straße und auf die Wiese.

Der bis zum Bersten beladene Karren schwankte gefährlich bei der Aktion und Pirx musste einem Fässchen ausweichen, das sich aus der Seilverankerung gelöst hatte, über ein paar Kisten abwärts rollte und dann – durch einen letzten Schlag – in hohem Bogen auf die unsichtbaren Verfolger zuflog.

Mit hörbarem Krachen kam das Fässchen auf dem Boden auf, polterte gegen einen der zahlreichen Findlinge zwischen den Grashalmen und zerbarst. Roter Wein spritzte in alle Richtungen und besudelte Pirx.

»Pass doch auf, du Holzkopf!«, schimpfte der Pixie und hielt sich sofort den Mund zu.

»Kssssssh«, machte der Grogoch. »Du verrätst uns ja!«

Zu spät, zu spät. Doch die Kobolde schienen unverschämtes Glück zu haben, denn der Alte auf dem Kutschbock rührte sich nicht, blickte nicht zurück und machte auch sonst nicht den Eindruck, als hätte er etwas gehört. Nicht einmal das berstende Fässchen.

Pirx war beinahe froh darüber, dass die Dunkle Königin so gut darin war, den Menschen die Köpfe zu verdrehen und die Sinne zu rauben. Aber nur beinahe, denn er wusste, dass so etwas bei Bandorchu selten ohne Qual vonstattenging. Alles, was sie anfasste, hatte früher oder später Schmerzen zu erleiden.

Bei dem Gedanken erschauderte Pirx und hätte um ein Haar erneut den Augenblick verpasst, als der Alte samt Karren mir nichts dir nichts direkt vor seiner Nase verschwand.

»Potztausend«, murmelte der Grogoch.

Zusammen liefen sie zu der Stelle, zogen sicherheitshalber mit den Füßen ein paar Markierungen in den Boden und begannen dann, das vermeintliche Nichts mit Händen und allen zur Verfügung stehenden Sinnen abzutasten.

»Ich glaub, ich spür da was«, sagte Grog und sah aus, als würde er ein riesiges unsichtbares Ei begrabschen. »Knifflige Sache. Ganz knifflige Sache.«

Pirx gesellte sich zu ihm. Doch er musste sich mächtig anstrengen, um endlich ebenfalls den Strom der Energie ertasten zu können, der hier wie eine Fontäne aus der Erde zu kommen schien, um sich dann über dem Land als gigantischer Fächer auszubreiten.

»Sie zapft die Ley-Linien an«, bestätigte er nach genauerer Untersuchung. »Direkt aus dem Boden. Das muss ein mächtiger Strang sein. Oder sogar mehrere, die an einem Ort zusammenfließen.«

Grog nickte andächtig. »Klug von ihr. Sie hat sich ein Energiezentrum als neue Heimat ausgesucht.«

»Bestimmt ne alte Kultstätte! Eine dieser Steinwälle oder Hügelgräber, die es hier überall gibt. Megalithenzeug und sowas«, mutmaßte Pirx.

»Die Frage ist, wie wir da jetzt reinkommen«, brachte Grog das Problem auf den Punkt.

Ein Thema, auf das Pirx keine Antwort hatte. Noch nicht. Aber jetzt, da sie Bandorchu erneut auf der Spur waren, würden sie einen Weg durch die magische Barriere finden. Kostete es, was es wollte!

10.
Die letzte Drohung

London – Samstag, 27. April 1715

Edmond Halley hastete, den Brief seiner Vermieterin in Händen haltend, nach Hause. Die Nachricht klang dringlich und Edmond schwante Übles.

Hatte man sie an seiner statt überfallen? War man in seine Wohnung eingebrochen und hatte sie verwüstet? Seine Unterlagen zerstört oder gestohlen? Hatten die Eindringlinge vielleicht sogar seinen Notgroschen entdeckt, den er unter einer lockeren Bodendiele versteckt hatte? Er musste sich beeilen und nachsehen.

Im Laufschritt schaffte Edmond es bis zur Abzweigung der Dartmouth Street. Von hier aus konnte er die eng aneinander geschmiegten Häuser bereits sehen.

Mistress Delainy legte keinerlei Wert auf Prunk. Nur auf Sauberkeit und Ruhe. Die Menschentraube, die sich am Eingang versammelt hatte, versprach daher zweierlei: Eine unschöne Geschichte und eine übellaunige Vermieterin noch dazu. Hauptsache, dass es ihr gut ging.

Edmond holte Atem, straffte sich und trabte das letzte Stück in möglichst angemessener Haltung. Im Grunde lief ein Gentleman nicht. Niemals. Nicht einmal, wenn es um seine Forschung ging. Aber Edmonds Sorge war zu groß. Die Regularien der Royal Society waren in vielerlei Hinsicht alt und verstaubt. Das hatte er bereits mehrfach aufgrund seines vergleichsweise modernen Forschungsfeldes zu spüren bekommen.

Als hätten die Alteingesessenen Honoratioren Angst, die Weltordnung könnte einstürzen, wenn man Anstandsregeln und wissenschaftliche Konzepte auch einmal in Frage stellte oder erweitern wollte. Dabei war dies doch der Kern allen Strebens und Lernens! Sich ewiglich neu zu entdecken, neu zu erfinden und Dinge in Zusammenhänge zu bringen, die vorher undenkbar erschienen waren.

»Da sind Sie ja!«, begrüßte Mistress Delainy ihn mit schreckensbleicher Miene und zum Himmel gereckten Armen. Sie war eindeutig am Leben.

»Ihr Bote hat mich gerade erst erreicht«, entschuldigte sich Edmond und hob, der Etikette folgend, den Hut zu einem knappen Gruß, bevor er sie nach dem Grund der Nachricht fragte.

»Sehen Sie selbst«, sagte Mistress Delainy und deutete in einer übertrieben theatralischen Geste zur Eingangstür, während sie die andere Hand mit einem ebenso meisterlich inszenierten Stöhnen an die Stirn legte.

Edmond kannte seine Vermieterin gut genug, um zu erkennen, dass sie durchaus echauffiert, aber gewiss nicht völlig außer sich war. Für gewöhnlich beschränkten sich ernsthaft schockierte Menschen darauf, nur noch zu schreien, statt einen Auftritt wie fürs Theater hinzulegen.

Ein leichtes Schmunzeln auf den Lippen folgte Edmond dem Fingerzeig. Doch seine Miene gefror, als er erkannte, um was es ging.

Das, was alle anderen Schaulustigen mit vorgehaltener Hand anstarrten, und was der Parish Constable mit seinen Leuten akribisch untersuchte, war eine Katze. Eine tote, schwarze Katze, die jemand wie eine Trophäe an die Tür genagelt hatte.

Edmond musste nicht lange überlegen, wer so etwas Grauenvolles getan haben konnte. Oder warum. Erst der Drohbrief. Dann der Mann, der ihn verfolgt hatte. Und nun die Katze – schlechtes Omen, Teufelsbotin und Wiedergängerin zwischen den Welten des Diesseits und Jenseits. Die Anhänger von Blut und Wasser Christi wollten überdeutlich seinen Tod. Und bewiesen mit dieser Gräueltat, dass es auch für ihn nicht nur eine leere Drohung bleiben würde, wenn er weiter in London bleiben und die Sonnenfinsternis nicht widerrufen würde.

Glaube rührte in den Herzen der Menschen so viel mehr an als die Logik. Der kühle Kopf schien dem wütenden Herz im Zweifelsfall haushoch unterlegen. Gefühle beschworen unkontrollierbares Verhalten herauf. Chaos war einer der wenigen Mechanismen, die die Ordnung in der Welt mit einem einzigen Wimpernschlag zu Fall bringen konnten. Weil Angst mächtiger war als der Verstand. Das hatte die Geschichte bereits mehrfach bewiesen.

Edmond starrte das arme Tier an. Das Fell räudig und zerzaust. Das Maul im Todeskampf aufgerissen und erstarrt. Die Zunge hing schlaff zur Seite heraus. Auf dem Boden hatten sich kleine Blutlachen unter den in den Leib gerammten Nägeln gebildet. Doch sie waren dunkel verfärbt und angetrocknet. Der Kadaver war bereits steif. Die Totenstarre war ein Vorgang, der ein Lebewesen zu einem Ding werden ließ. Wie ein Stein, ein Holzblock oder Ziegel. Nur eben mit schwarzem, räudigem Fell drumherum.

 

»Es tut mir leid«, flüsterte Edmond und presste die Lippen aufeinander.

»Das sollte es auch!«, kam die prompte Antwort von der Seite. Mistress Delainy kräuselte sichtlich angeekelt die Nase. »Es ist ja wohl eindeutig, dass dieser widerwärtige Anschlag Ihnen gilt. Nicht nur, dass ich darunter leide, dass man in der ganzen Stadt diese schrecklichen Schmähungen über Sie findet, jetzt wird auch noch mein Haus Ziel dieser Anschläge. So kann das nicht weitergehen.«

Edmond kniff die Augen zusammen und wünschte sich weit fort. Warum nur war er Wissenschaftler geworden? Warum dürstete er danach, den Menschen Wissen zu bringen, wenn die meisten es weder wollten noch verdienten?

»Wenn Sie nicht fähig sind, dieses Unglück zu stoppen, sehe ich mich gezwungen, Ihnen ab Montag die Wohnung aufzukündigen. Zu Ihrem und zu meinem Wohl wohlgemerkt. Wer weiß denn schon, was diesen Fanatikern als nächstes einfällt.«

Er hatte es kommen sehen, es in ihren Augen gelesen in den letzten Tagen, vielleicht auch schon Wochen davor. Schon da hatte sie mit dem Gedanken gespielt, ihn vor die Tür zu setzen, um sich den Ärger, den er neuerdings magisch anzog, vom Leib zu halten.

Aber sie hatte es bis jetzt nicht getan. Nicht ausgesprochen. Und das zeigte ihm, dass sie unter ihrem mit Schultertuch hochgeschlossenen schmucklosen Hauskleid sehr wohl ein weiches, liebenswürdiges Herz hatte.

Die Herzen sind Hüter unserer größten Schätze und gleichzeitig Erschaffer der ärgsten Gräuel, dachte Edmond bei sich. Es würde nichts helfen, mit Mistress Delainy zu diskutieren. Zu versuchen, es ihr auszureden. Wenn er die Wohnung behalten wollte – und das wollte er gewiss –, dann musste er sofort eine Entscheidung treffen.

»Ich werde mich an den Rat des Constable Johnson halten und die Stadt für ein paar Tage oder Wochen verlassen. Eine Reise nach Frankreich. Die Bretagne soll zu dieser Jahreszeit in geradezu magisches Licht getaucht sein. Der ideale Ort, um sich etwas Ruhe zu verschaffen und den Kopf frei für neue Ideen zu bekommen.«

Bei diesem Nachsatz zuckten die Mundwinkel der Vermieterin nach unten. Doch sie zwang sich zu einem Lächeln, als sie überaus freundlich fragte: »Ich wusste gar nicht, dass Sie dort Verwandte haben?«

Oh du Schlange! Habe ich dich eben noch liebenswürdig genannt? Berechnend bist du und unverschämt!, schoss es Edmond durch den Kopf, bevor er ebenso unverbindlich freundlich erwiderte: »Ein Kollege hat dort ein hübsches Anwesen und mich bereits vor einigen Tagen eingeladen, ihm dort über den Sommer Gesellschaft zu leisten und einige wissenschaftliche Dispute zu erörtern.«

»Der gute Sir Isaac Newton?«, wagte Mistress Delainy sich weiter vor. »Wie wunderbar. Ich habe gleich bei seinem ersten Besuch gemerkt, wie gut Sie sich miteinander verstehen. Nehmen Sie die Familie mit?«

Jetzt war es Wut, die alle anderen Gefühle in Edmond verdrängte. Er presste die Lippen aufeinander, unfähig, noch etwas Angemessenes zu erwidern. Stattdessen nickte er knapp und ging auf die Tür zu. Einfach nur, um dem Gespräch zu entfliehen, bevor er die Beherrschung verlor. Doch offenbar deutete Constable Donald Leonard Johnson die Annäherung als Interessenbekundung an dem eigentlichen Subjekt des allgemeinen Anstoßes.

»Straßenkater«, sagte er, während er weitere Notizen niederkritzelte. Und als Edmond nichts erwiderte: »War wohl schon tot, als man ihn dran genagelt hat. Zu wenig Blut.« Er deutete auf die kleinen Flecken am Boden. »Wahrscheinlich vorher erschlagen. So wie’s die Leute draußen auf dem Land tun, wenn die Mäuseräuber zu faul werden. Einfach an den Beinen packen und …«

»Constable, bitte!« Edmond schloss die Augen. Er war ein Tierfreund. Für ihn hatte jedes Lebewesen eine Daseinsberechtigung. Die Vorstellung, dass man es wie ein Stück nasse Wäsche gegen etwas schlagen könnte, ließ ihn innerlich erzittern. Die Menschheit war eine Bestie, schlimmer als jedes Raubtier, das in Büchern verzeichnet war.

»Verzeihen Sie, Sir«, sagte Johnson und mühte sich im nächsten Moment um besonders eifrige Pflichterfüllung. Er zählte die symbolischen Bedeutungen einer toten Katze auf und zog am Ende dieselben Schlüsse wie Mistress Delainy zuvor. »Solange die Sache mit der Sonnenfinsternis noch offen ist, erscheint es mir äußerst ratsam für Sie, unterzutauchen.«

Edmond rieb sich über sein Gesicht, drehte sich zur Straße und blickte über die vielen Menschen, die dicht gedrängt am Zaun hingen und gafften. »Ich verreise«, sagte er schließlich. »Mit dem Schiff. Gleich morgen früh werde ich mich erkundigen, wann das nächste Passagierschiff nach Frankreich ausläuft.«

Johnson hatte aufgehört, zu schreiben und stellte sich neben ihn. »Ist nicht leicht, die Speerspitze zu sein. Verstehen Sie, was ich meine? Sie stehen mit Ihrer Forschung ganz vorn in der ersten Reihe. Da trifft’s einen am härtesten. Da bekommt man sowohl die Kugeln ab, als auch die Bajonette. Die Ersten sind die mit der größten Leidenschaft. Weil sie sehenden Auges gegen den Feind anstürmen und sich für alle, die nach ihnen kommen, opfern. Aber manchmal ist es selbst in der ersten Reihe klug, innezuhalten und in Deckung zu gehen.«

Edmond spürte, wie der Constable ihm die Hand auf die Schulter legte und sie einmal kräftig drückte. Seine Worte waren auf so vielfältige Weise wahr. Und sie waren so tiefsinnig, dass sich Edmond fragte, wie ein Mann mit einem geradezu poetischen und wachen Geist ausgerechnet zu so einem Beruf kam. Er hatte ganz eindeutig mehr zu bieten als man ihm auf den ersten Blick ansah. Und vielleicht auch mehr zu verheimlichen.

Edmond wagte nicht, dem Constable in die Augen zu sehen. Aus Angst, sich selbst zu entblößen. Die Andeutungen von Mistress Delainy hatten deutlich gemacht, dass es in der Londoner Gesellschaft bereits genug Gerüchte um ihn und seinen besten Freund gab.

Verbrüderung im Geiste war das eine, eine körperliche etwas ganz anders. Und genau daran dachten sie alle, wenn es um solch abgenutzte Worte wie Liebe ging. Dabei gab es so viel mehr. Nuancen der Anziehung, Freundschaft, Zuneigung. Ganz ohne, dass dies in aufgewühlten Kissen und Decken enden musste. Erfüllung ließ sich auf so viele Arten erreichen. Selbst über die Distanz hinweg. Trotz all des Fortschritts dieser Tage, gab es andererseits noch so vieles, das steinzeitlich und festverwurzelt war.

Es dauerte eine weitere quälend lange Stunde, bis der Constable schließlich genug mögliche Indizien und Spuren aufgenommen hatte und die Katze endlich abgehängt werden konnte. Langsam aber sicher zerstreute sich das Publikum. Edmond wollte gerade ins Haus gehen, als er in einem Hauseingang schräg gegenüber eine Gestalt in Kutte und Kapuze zu sehen glaubte.

Sein Puls schnellte in die Höhe. Sollte er Johnson von den anderen Vorkommnissen erzählen? Unschlüssig blickte er zwischen dem Constable und dem Häusereingang hin und her. Doch auf den zweiten Blick war der Hauseingang dunkel und leer.

Edmond hielt vor Anspannung die Luft an und ging ohne weitere Abschiedsworte auf sein Zimmer, um seine Koffer zu packen.

11.
Salziger Nebel

London – Sonntag, 28. April 1715

Am Morgen wartete Edmond sicherheitshalber ab, bis der aufkommende Tag das Dunkelgrau in den Straßen vertrieben hatte. Dann holte er den alten Mantel mit dem Notgroschen in der Tasche aus dem Schrank, entstaubte ihn, schlang sich zusätzlich einen vergilbten Seidenschal um den Hals und zog sich den Hut tief in die Stirn.

Das Frühstück von Mistress Delainey stand unberührt auf dem Schreibtisch. Die Erlebnisse und Bilder des gestrigen Abends hatten ihm auf den Magen geschlagen. Bis in seine Träume hatten ihn die Unholde und Schattengestalten verfolgt. Immer noch glaubte er, das dissonante Schreien von Katzen zu hören, die ihn in Scharen von den Hausdächern herab anstarrten. Schwarze Ungetüme mit leuchtend gelben Augen und spitzen Zähnen.

Auf dem Weg zum Hafen achtete er darauf, so gut wie möglich in der Menge unterzutauchen. Immer wieder blickte er über die Schulter, lauschte auf verräterische Schritte hinter sich. Doch er konnte nichts Auffälliges entdecken.

Bis zum berechneten Termin für die Sonnenfinsternis blieben ihm noch ganze fünf Tage. Er würde also doppeltes Glück brauchen, um ein Schiff zu finden und zudem genug Wind auf der Überfahrt zu haben, damit sie die Strecke im besten Fall in zwei oder drei Tagen schaffen konnten. Im schlechtesten würde es bis zu einer Woche dauern. Doch daran wollte er gar nicht erst denken.

Einige Zeit irrte er an den Anlegestellen entlang und fragte bei den Schiffen nach, wohin sie führen, bis er endlich Glück hatte.

»Im Morgengrauen legen wir nach Saint-Malo ab«, informierte der Quartiermeister unerwartet freundlich. »Sie haben besonderes Glück, denn wie Sie sehen, ist die Santa Cruise das neueste Modell, äußerst windschnittig und wendig. Die meisten setzen ja mehr auf Gediegenheit, aber wenn Sie es wagen wollen, bekommen Sie einen Vorzugspreis.«

Ja, Edmond hatte schon von diesem schnellen neuen Typ namens Schoner gehört, der zum ersten Mal in Amerika vom Stapel gelaufen war, und auch, dass einige gekentert waren. Als ehemaliger Kommandant eines Kriegsschiffs während einer Expedition war er bedeutend stärkere Schiffswände und einen robusteren Aufbau gewöhnt, aber da er Neuem gegenüber stets aufgeschlossen war, wollte er das Risiko eingehen.

Die frühe Passage bedeutete, dass er im Dunkeln durch die Straßen zum Hafen würde laufen müssen. Nicht gerade das, was er sich unter den gegebenen Umständen wünschte. Doch mit etwas Glück würde der Notgroschen für die Überfahrt und zusätzlich für eine Droschke reichen. So hoffte er zumindest.

»Dann werde ich es wagen«, sagte er, auch wenn ihm ein wenig mulmig dabei war. Andererseits – die ständige Gefahr, in der er sich befand, war weitaus lebensbedrohlicher.

Am liebsten hätte er sich gleich auf dem Schiff einquartiert, aber das wurde rundheraus abgelehnt, weil noch eine Menge vor dem Ablegen zu erledigen sei, und da würden Landratten nur stören.

So sehr man also darauf erpicht war, Passagiere anzulocken, so zuvorkommend war man denn doch nicht mehr, sobald die Koje belegt war. Edmond grinste schief, stellte den Irrtum, dass er keine Landratte war, nicht klar, und machte sich auf den Heimweg.

Der nächste Morgen versprach, ungemütlich zu werden. Von der Sonne war längst noch nichts zu sehen, als Edmond, in seinen Mantel gehüllt, die Reisetasche in der Hand, nach draußen trat.

In den Straßen hing der typische Londoner Nebel. Der Himmel war bedeckt und sternenlos. Irgendwo in der Nachbarschaft bellte ein Hund. Ein Scheppern erklang. Dann war es wieder still.

Edmond hatte sein Kleingeld am Abend genau gezählt und einsehen müssen, dass es nicht genug war, um sich ein wenig mehr Komfort und Sicherheit zu kaufen. Das Geld auf der Bank würde er für solch eine Angelegenheit nicht anrühren. Schließlich hatte er trotz allem eine Familie zu versorgen. Also schloss er den Mantel, packte seine Tasche fest und lief in schnellem Schritt die Straße entlang Richtung Hafen.

Er achtete darauf, in der Mitte der Gassen zu laufen, solange er keinem Karren ausweichen musste. In einigen Hauseingängen und Hinterhöfen standen Gestalten herum oder kauerten am Boden. Streuner und Landstreicher. Aber keiner schien sich sonderlich für ihn zu interessieren.

Noch schliefen die Stadt und die Heimatlosen, die zu ihren Füßen hausten und sich von Abfällen und hingeworfenen Almosen ernährten.

Das Geräusch von Schuhsohlen auf dem Straßenpflaster ließ seine Gedanken abrupt ins Hier und Jetzt zurückkehren. Schweiß brach ihm aus. Angst kroch ihm das Rückgrat hinauf und ließ Gänsehaut auf seinen Armen wachsen. Er wagte nicht, sich umzudrehen oder anzuhalten. Stattdessen beschleunigte er seinen Gang, lief beinahe. Etwas, das zu einer unschönen Angewohnheit wurde.

Doch auch die verfolgenden Schritte beschleunigten. Dissonant diesmal. Waren es zwei Personen? Oder drei? Gehetzt blickte Edmond nach vorn. Die reglosen Gestalten in den Hauseingängen schienen gespannt den Atem anzuhalten und ihn zu beobachten. Eine Ratte huschte direkt vor ihm über die Straße. Das Fell ölig-glänzend grau.

Edmonds Gedanken überschlugen sich. Wie konnte er sich schützen?

 

Kaum zu Ende gedacht, mischte sich hinter ihm das Klappern von beschlagenen Pferdehufen in die Geräuschkulisse. Zügel schnalzten. Die Tiere steuerten im schnellen Trab auf ihn zu. Und endlich wagte Edmond es, sich umzudrehen – gerade noch rechtzeitig, um mit einem Satz zur Seite zu springen und der Kutsche auszuweichen! Das heitere Lachen und Kichern aus dem Inneren ließ auf Amouröses schließen. Also kein Anschlag. Alles nur Einbildung. Oder?

Edmond blieb stehen und lauschte. Das Pferdegetrappel entfernte sich rasant und war bereits kaum mehr zu hören. Stattdessen waren da wieder Schritte, die fest auf das Pflaster traten, wie bei jemandem, der es eilig hatte und zielstrebig auf etwas zusteuerte.

Und diesmal sah er sie. Zwei dunkel gekleidete Männer mit Dreispitz und Mantel, die links an der Häuserwand entlang auf ihn zukamen. Edmond dreht sich panisch um und lief los. Bis zum Hafen war es nicht mehr weit. Vielleicht würden sie ihn verschonen, wenn es zu viele Zuschauer gab. Tagelöhner, die die Schiffe beluden, oder Fischer, die für den ersten Fang des Tages ihr Boot fertigmachten.

Doch bevor er die Anlegestellen erreichen konnte, tauchte vor ihm eine vermummte Gestalt in grauem Umhang und Kapuze auf. Sie hatten ihn in der Zange!

Ohne nachzudenken, schlug sich Edmond in eine schmale Seitengasse, drängte sich durch die noch geschlossenen und verbarrikadierten Stände der Straßenhändler und setzte seinen Weg in einem kopflosen Zickzackkurs fort, bis er wie durch ein Wunder unbescholten doch noch weiter östlich die Kaimauer erreichte.

Während er lief, wich die Schwärze der Nacht allmählich einem schmutzigen Blaugrau. Der Nebel zog sich übers Wasser zurück. Die Schatten wurden kleiner. Öllampen tauchten die Kisten und Säcke, die an den Entladestegen warteten, in vereinzelte Kegel aus Licht. Je näher Edmond den Schiffen kam, umso mehr Menschen waren unterwegs.

Matrosen hingen in den Wanten der Schiffe, kümmerten sich um die Ladung oder schrubbten die Decks. Das Schwappen der Wellen an die Piers, die ersten Schreie der Möwen und die Kommandos der Offiziere übertönten Edmonds Panik.

Keuchend und nassgeschwitzt hielt er inne und wagte erneut einen Blick zurück. Niemand war zu sehen. Keine Verfolger. Am Bootssteg saß ein Bootsmann auf einem Fass. Edmond nannte seinen Namen und erklärte ihm, dass er eine Passage gekauft habe, und der Mann winkte ihn schweigend durch.

Edmond atmete durch. Endlich in Sicherheit. Mit der freien Hand griff er das Haltetau, um über den Steg an Bord zu gehen. Auf dem Schiff roch es nach nassem Holz, Seife und Salz. Der Wind wehte in einer kräftigen Brise von Nordost und ließ die englische Flagge auf der Spitze des Frontmastes flattern.

Der Quartiermeister wartete oben, nahm das verabredete Geld in Empfang und deutete ihm mit einem Fingerzeig den Weg zu seiner Kabine.

Edmond hatte es nicht eilig, dorthin zu kommen. Er fühlte jetzt, da er in Sicherheit war, die Aufregung, die einen beschlich, wenn man zu einer Reise aufbrach. Dieser Kitzel des Abenteuers. Die Möglichkeit, etwas Neues zu entdecken und seinen Horizont zu erweitern.

Ein Lächeln stahl sich auf seine Lippen, trotz des ganzen Verdrusses. Er würde zu Isaac fahren! An einen Ort, wo sie für sich sein konnten. Sich geben konnten, wie sie wirklich waren, ohne auf die Augen und Ohren anderer achten zu müssen.

Die Sonne blinzelte über den Horizont, als die Santa Cruise ablegte. Ein langer Pfiff ertönte, der Steuermann bellte den Matrosen Befehle zu und sofort griffen die eingespielten Rädchen ineinander. Zwei junge Burschen stemmten sich gegen die Holme der großen Winde, um den Anker einzuholen. Die Seemänner zogen den Steg ein und lösten die Leinen, während der Rest in den Wanten hing, bereit, die Segel zu setzen.

Unter den aktuellen Windverhältnissen würde die Überfahrt höchstens drei Tage dauern. Genug Zeit also, um rechtzeitig vor Ort bei Isaac zu sein, um gemeinsam die Sonnenfinsternis zumindest am Rande noch miterleben zu können.

Der elegante Schoner glitt die Themse entlang und nahm gemächlich Fahrt auf. Edmond blickte ein letztes Mal zurück zur Anlegestelle. Die anderen Schiffe wurden weiterhin emsig beladen. Erste Straßenhändler boten ihre Waren an. Und mitten in diesem Gewusel sah Edmond erneut die verhüllte Gestalt stehen. Eine schmale graue Silhouette mit Kapuze, die dort an jenem Dock reglos verharrte, von dem aus sie abgelegt hatten. Wie ein Versprechen. Eine stumme Botschaft. Ich sehe dich. Du entkommst mir nicht. Wir sind dir auf den Fersen.

Edmond fröstelte. Schlagartig sank seine gute Reiselaune. Für die nächsten drei Tage war er mit gut drei Dutzend Menschen auf diesem Schiff eingesperrt. Hier würde es kein Entkommen geben. Keinen sicheren Ort. Außer vielleicht seine Kabine. Und auch das war nicht gewiss.