Elfenzeit 6: Zeiterbe

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Z serii: Elfenzeit #6
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4.
Kobolde auf Abwegen

Irland, einige Kilometer von Newgrange entfernt

»Komm schon, alter Mann, wir müssen weiter!«, plärrte Pirx ungeduldig und hüpfte auf und ab.

»Irgendwann sind auch die Kräfte des besten Kobolds einmal verbraucht«, gab der Grogoch schnaufend zurück.

Seit dem Kampf am Zeitgrab waren sie ununterbrochen unterwegs. Ohne Schlaf und ohne etwas Ordentliches zu essen. Dabei liebte Pirx eine gute Mahlzeit und einen vollen Magen.

Was er nicht liebte, war die Dunkle Königin, und dennoch waren er und Grog auf der Suche nach ihr. Sie folgten der magischen Spur, die sie und ihre Schattenlandarmee auf der Flucht hinterlassen hatten. Unsichtbar für die Menschen, aber unverkennbar deutlich abzulesen für jene aus der Anderswelt, die noch alle ihre Sinne beieinanderhatten.

Seit zwei Tagen folgten sie dem dunklen Signum nach Südwesten und langsam dämmerte Pirx, wohin Königin Bandorchu wollte. Auch, wenn sie es nun nach so langer Zeit geschafft hatte, das Schattenland zu verlassen, brauchte sie dennoch Energie. Und die gab es in der Menschenwelt mittels Ley-Linien.

Die Dunkle Königin war offensichtlich zu einer solchen Strömung unterwegs. Vielleicht sogar zu einem Knoten, wie sie in Paris oder am Ätna bereits mit Hilfe der gesetzten Stäbe angezapft wurden. Soweit Pirx wusste, gab es weit und breit nur einen einzigen Ort, der dafür in Frage kam: Die Hügel von Tara.

»Sie wollen zum Sitz der Hochkönige«, sprach Pirx seine Vermutung laut aus.

Der Grogoch brummte sichtlich missmutig. Ob nun wegen des ewigen Marsches oder der schauderhaften Erkenntnis, blieb unklar. Wenn die Dunkle Königin auf so einem geschichtsträchtigen wie magischen Platz ihren neuen Wohnsitz errichten würde, hatten sie wahrhaft Übles zu befürchten.

Die Ruinen dort waren nicht nur irgendein Domizil der einstigen Herrscher gewesen. Von dort aus hatten sie Feldzüge befohlen und losgeschickt. Selbst Götter wie Nuada mit der silbernen Hand und Lugh hatten an diesem Ort geherrscht und ihre Macht vergrößert.

Pirx wusste, dass es Dutzende mehr gegeben haben musste, die auf Tara über die Epochen hinweg geherrscht hatten. Davon zeugten die vielen Kultstätten, Steinkreise und Ruinen, die sich auch heute noch in der Umgebung finden ließen.

Die Gegend war nur wenig besiedelt. Zu viel Energie pulsierte unter der Erde und bereitete den Menschen und dem Vieh allzu oft Kopfschmerzen. Auch Kobolde konnten die Ströme fühlen, die tief im Boden wie Lavaströme pulsierten. So stark, dass die Empfindung die eigentliche Spur von Bandorchu und ihrem Gefolge immer mehr überdeckte.

Kurz vor dem nächsten Dorf blieb Pirx alarmiert stehen. »Spürst du’s noch?«, fragte er seinen Koboldfreund.

»Was denn?«, fragte Grog.

»Die dunkle Spur.«

Der Grogoch hielt inne, lauschte, schnupperte und riss die Augen auf. »Da ist nichts mehr. Gar nichts.«

Pirx presste die Lippen zusammen und eilte vor und zurück, mal nach links und dann wieder nach rechts. Die Spur der Dunklen Königen war weg. Einfach fort!

Ratlos hockte sich Pirx auf den Boden, zog sich die rote Kappe vom Kopf und biss immer wieder hinein, um seinem Ärger Luft zu machen.

»Das bringt doch nichts«, sagte der Grogoch und kratzte sich ratlos den haarigen Bauch.

So saßen sie da. Eine ganze Weile lang. Bis der Bauch des kleinen Pixie so laut knurrte, dass es selbst die Krähen in den Bäumen gehört haben mussten. »Die perfekte Zeit für eine Einkehr«, versuchte Pirx sich die Sache schönzureden. Schließlich konnte man nie wissen, wohin einen eine aussichtslose Situation führen mochte.

Tara war nicht mehr weit, also machten sich die beiden Kobolde auf den Weg, um im nächsten Gasthof nachzusehen, was sie dort stibitzen konnten.

Der Ort wirkte wie von der Zeit vergessen. Eine kleine Ansammlung von verstreut liegenden Bauernhäusern. Ein verwahrloster Sportplatz, eine Tankstelle, Pferdekoppeln und ein Pub war alles, was sich auf den ersten Blick finden ließ.

Unsichtbar für die Menschen schlichen sich die Kobolde zur Tür des Pubs hinein, huschten unter den Tischen entlang und mopsten sich ein paar Chips hier, ein Würstchen dort. So lange, bis sie nichts mehr in ihre Bäuche hineinbekamen und kugelrund gefüttert unter einer Bank ein Päuschen machten.

»Das war verdammt lecker«, sagte Pirx und rülpste ungeniert.

Der Grogoch stieß ihn an, mahnte mit erhobenem Zeigefinger, leiser zu sein und brummte dann. »Es war in der Tat ein Festschmaus. Viel zu lecker.«

Pirx verdrehte die Augen. »Wenn’s mal nichts zu meckern gibt, meckert man eben über das, was gut war, wie?«

»Wir sollten uns besser wieder auf die Suche machen, statt hier fett und faul herum zu hocken«, gab Grog mit schuldbewusster Miene zurück.

Aber Pirx ließ sich sein Verdauungspäuschen nicht so einfach verderben. »Wir suchen doch! Vielleicht hat einer der Menschen etwas bemerkt.«

»Du meinst, denen ist die Armee aus fiesen Gestalten, die von einer wunderschönen, aber tödlichen Dame angeführt wird, aufgefallen? Die übersehen doch sonst immer alles, was nicht in ihr Weltbild passt.« Der Grogoch schmatzte skeptisch und rieb sich den vollen Bauch.

»Die Menschen mögen allgemein stumpfsinnig und ignorant sein, aber hin und wieder gibt’s eben doch Ausnahmen«, erwiderte Pirx und rückte sich sein Mützchen zurecht. »Vielleicht hat einer was gewittert. So rein gefühlsmäßig. Hat ne Erscheinung gehabt oder sowas. Das kommt in den besten Geschichten vor!«

»Wir sind hier aber nicht in einer Geschichte«, hielt Grog stoisch dagegen.

»Das kann man nie wissen. Schließlich könnten wir Helden werden, wenn wir die Dunkle Königin aufspüren. Und Helden werden immer zu Legenden.« Pirx rappelte sich auf die Beine und spähte unter der Bank hervor, die Nase schnuppernd erhoben.

Der Grogoch hingegen brummte nur. Vielleicht, weil es ihm doch ganz recht wäre, in einer Geschichte genannt zu werden. Oder aber, weil ihn das Stück Hühnchen drückte, das er sich am Ende genehmigt hatte.

Pirx hingegen roch etwas, das ihn neugierig machte. Allerdings war es bei all den Gerüchen, die sich in dem Gasthof versammelt hatten, nicht einfach, dem Odeur eine Richtung zuzuordnen.

»Hast du schon wieder Hunger?«, fragte Grog.

»Iwo!«, sagte Pirx.

»Was schnupperst du dann?«

Der kleine Pixie schüttelte sich und machte einen Schritt unter der Bank hervor und unter den Tisch. Geradewegs zwischen die schweren Stiefel von ein paar Bauern, die sich zu einem späten Frühschoppen zusammengefunden hatten. »Da liegt was in der Luft, das nicht von dieser Welt ist. So ein Hauch von Fäulnis und Grausamkeit, der geradewegs durchs Zimmer geweht ist.«

»Dann sind wir auf der richtigen Spur«, entgegnete der Grogoch und mühte sich ebenfalls zurück auf die Beine. Er musste einem Paar Schuhe ausweichen, als einer der Bauern seine Beine unversehens ausstreckte und übereinanderschlug.

Pirx pirschte sich unterdessen am Tischbein vorbei in den Gang hinaus. Die Kellnerin war damit beschäftigt, einige übervolle Teller auf ein Tablett zu laden. So leise wie möglich wuselten die beiden Kobolde gemeinsam Richtung Ausgang.

Gerade als Pirx zu einem großen Satz ansetzte, um die Klinke zu packen und herunter zu drücken, schwang die Tür nach innen auf und schleuderte den Pixie mit einem dumpfen Klatscher gegen den breiten Rücken eines Gastes.

»Was’n hier los! Wer will Streit?«, polterte der Kerl, sprang auf und fuhr herum; sein Gesicht rot vom Wein und der hochkochenden Wut.

Der schmächtige junge Mann im Eingang wusste gar nicht, wie ihm geschah. Schließlich konnte die Tür den Kerl rein logisch betrachtet bei dem Abstand gar nicht berührt haben. Aber Wein und Wut schlugen seit je her die Argumente von Sinn und Verstand. Also baute sich der Angerempelte vor dem vermeintlich Schuldigen auf, die Hände in die Hüften gestemmt, das Kinn zornig vorgereckt, wenn auch etwas wackelig in seiner Standfestigkeit. »Der kleine Pepe natürlich wieder«, lallte er angetrunken.

Pirx hatte sich nach dem unfreiwilligen Flugmanöver erstmal unter den Stuhl gerettet und rieb sich den Rücken.

»Alles in Ordnung?«, wisperte Grog und gesellte sich zu ihm.

»Geht so«, gab der Igelpixie zurück, weil es tatsächlich ganz schön wehtat.

Der junge Mann mit Namen Pepe blinzelte und schickte sich an, seinen Widersacher zu umrunden, um in die Wirtsstube zu gelangen. Doch so einfach ließ sich der Wuthannes nicht abspeisen.

»Weissde wohl nich, wassich gehört, hm?«, grantelte er mit schwerer Zunge. »Dann muss ich dir halt Maniern beibringn.«

Um den Gehalt seiner Drohung zu unterstreichen, wollte er Pepe am Kragen packen. Doch das schmächtige Bürschchen duckte sich unter der Hand weg und marschierte weiter, als wäre nichts.

Pirx staunte nicht schlecht. Und dann roch er es wieder. Diese verräterische Spur. Sie haftete an dem Schmächtigen, als hätte man ihn darin gebadet. Als wäre er durch einen Strahl aus Bosheit gelaufen und würde immer noch eine Fahne des Geruchs hinter sich herziehen.

Vielleicht hatte er den Pfad der Dunklen Königin gekreuzt, als sie hier vorbeigekommen war. Vielleicht hatte er direkten Kontakt gehabt. So genau ließ sich das nicht sagen. Flink eilten Pirx und der Grogoch Pepe hinterher, während der Raufbold, vor seinem Stuhl stehengelassen, immer noch schnaubte und sich schließlich setzte.

Pepe hingegen ging ohne einen Gruß oder sonst eine Regung am Tresen vorbei, in die Küche und weiter in einen Raum, der ganz offenbar die Vorratskammer darstellte. Kisten, Säcke und Frischware stapelten sich auf dem Boden und in den Regalen.

 

Von der Decke baumelte ein riesiger Schinken, der nach Rauch und Holzofen roch. Pirx lief schon wieder das Wasser im Mund zusammen. Vielleicht konnten sie später noch einmal vorbeischauen, um sich ein Stück davon einzupacken.

»Was sucht er bloß?«, wisperte Grog dicht an seinem Ohr.

Unbehelligt von den Angestellten kramte der schlaksige Kerl in den Stapeln herum, bis er schließlich fündig wurde. »Zahnstocher«, stand auf der Seite des Kartons geschrieben, den er nun packte und hinaustrug.

Pirx schob die Hand unter die Mütze und kratzte sich ratlos zwischen den Stacheln. »Was will man mit tausenden von kleinen Holzstöckchen?«

»Ich habe gesehen, wie ein Kind daraus den Eifelturm gebaut hat«, sagte der Grogoch und schubberte sich mit dem Rücken an einem der massiven Regale.

»Aber ich hab’s doch gerochen! Diese faulige, stinkige Signatur war eindeutig nicht von der Menschenwelt!«, beharrte Pirx.

»Vielleicht ist der Dunklen Königin langweilig?«, versuchte es Grog noch einmal.

»Papperlapapp! Wir gehen der Sache nach«, entschied der Pixie und sauste Pepe nach, gefolgt von Grog. Die Tür nach draußen schwang hinter ihnen zu.

Pepe hatte bereits einen gehörigen Vorsprung und eilte in schnellen Schritten in nördliche Richtung. Doch statt auf der Straße zu bleiben, bog er nach den letzten Häusern auf eine der Weidewiesen ab und marschierte querfeldein weiter. Ohne sich umzusehen oder sonst wie zu orientieren.

»Seltsam«, bemerkte der Grogoch, während er schnaufend versuchte, mit Pirx Schritt zu halten. »Als würde er schlafwandeln.«

Da war etwas Wahres dran. Pepe wirkte wie ferngesteuert. Ein willenloser Bote, der …

»Waaah! Wo ist er hin?«, rief Pirx und blieb stehen.

Eben noch hatte sich Pepe kaum fünfzig Schritt vor ihnen in Sichtweite befunden. Quasi direkt vor ihnen. Nun war er verschwunden. Von einer Sekunde auf die andere.

»Vielleicht ist er hingefallen«, mutmaßte der Grogoch. »Oder in ein Loch gesprungen.«

»Quatsch. Totaler Quatsch mit Soße!«, verkündete Pirx und eilte an genau die Stelle, an der er Pepe zuletzt gesehen hatte. Doch angekommen, waren dort weder Pepe noch ein Loch oder sonst etwas. Nur Wiese und dieses seltsam kribblige Gefühl.

5.
Das Schloss der Dunklen Königin

Hügel von Tara

Bandorchus Schritte hallten durch den Gang. Sie fühlte ihre Macht ihr neues Reich in einer Welt ohne erdrückende Grenzen und Albträume. Doch Freude darüber konnte sie nicht empfinden. So sehr das Schattenland ihr auch Gefängnis gewesen war, Qual und Folter, so war es doch mit der Zeit zur Heimat gewachsen, zu ihrem ureigenen Ort des schmerzvollen Glücks und der großen Pläne.

Es hatte etwas überraschend Enttäuschendes, frei zu sein. Keine Zwänge mehr, kein Bann, der ihre Gefühle wie Fesseln um sie schlang. Hier in der Menschenwelt konnte sie alles sein, alles tun und alles erreichen, von dem sie je geträumt hatte. Bis hinüber in das Reich der Sidhe Crain. Fanmórs Territorium. Es war fast schon zu leicht, um einen angemessenes Wettkampf abzugeben.

Bandorchu lenkte ihre Schritte den neu errichteten Kreuzgang entlang und setzte ihren Weg durch den offenliegenden Teil ihres neuen Schlosses fort. Ein uneinnehmbares Bollwerk würde es am Ende sein. Ein Zentrum der Kraft und Mittelpunkt von zwei Welten, sobald alles an seinem Platz war. Wenn jeder Spieler seinen Zug wie vorgesehen gemacht und jedes Puzzleteil sich eingefügt hatte.

»Herrin«, wagte ein Diener sie anzusprechen, als sie die roh gehauene Steintreppe betrat, die in den zukünftigen Hauptturm führen würde. »Herrin, der Weg ist noch nicht sicher. Die Stufen führen ins Leere. Ihr könntet hinabfallen, wenn …« Er verstummte mitten im Satz, als Bandorchu sich langsam umdrehte und ihren Blick in seinen senkte.

Spöttisch sah sie auf den Elfen hinab. Ein einstmals unsterbliches, stolzes Wesen, das weder Alter noch Verfall gekannt hatte. Doch die Zeit hatte ihn und alle anderen etwas Neues gelehrt: Die Furcht vor dem Tod.

»Das wird nicht meine Sorge sein«, sagte die Dunkle Königin mit ruhiger melodischer Stimme, während sie seinen Blick in ihrem gebannt hielt. »Es wird deine sein, dass ich nicht falle. Für jede Schramme werde ich mir etwas von deiner Haut abschälen, für jeden gebrochenen Knochen einen heilen aus deinem Leib reißen und für jeden Blutstropfen einen Eimer voll deines Lebenssaftes nehmen.«

Der Elf wurde grau vor Schreck. Das Licht seines Geistes flackerte wie ein Tier in der Falle auf der Rückwand seiner Augen, bei den Bildern, die ihre Worte heraufbeschworen. Nackte Panik stand ihm ins Gesicht geschrieben. Und doch würde er nicht fliehen, sondern sich seinem Schicksal ergeben, sollte sie ihre Worte wahrmachen. Denn er hatte ihr wie alle anderen bedingungslose Treue geschworen.

Die Königin verzog ihren Mund zu einem süffisanten Lächeln und beugte sich vor. Mit den Fingernägeln der linken Hand strich sie dem schmächtigen Elfenmann die Schläfe entlang und zeichnete gleichsam blutige Linien in seine aschefarbene Haut. »Geh und mach dich bereit, mich aufzufangen, sollte ich geruhen, mein Gleichgewicht zu verlieren«, raunte sie ihm dunkel, in verführerischem Timbre zu.

Dann stieß sie ihn von sich und setzte den Fuß auf die nächste Stufe. Grob behauener Stein, der in Spiralform hinaufführte. Gehalten von einem Gerüst aus Holz und Hanfseilen. Ein Hilfsmittel neben all der Magie, die hier am Werk war. Bandorchu trieb ihre Diener an. Ließ sie auch den letzten Tropfen Ley-Energie, den sie aus dem Boden saugten, für diesen Zweck nutzen.

Stufe um Stufe stieg die Dunkle Königin höher in den offenen Raum. Wind fing sich in ihrem langen, blonden Haar und hob es an, ließ es flattern. Als sie das Ende der Treppe erreicht hatte, breitete sie die Arme aus und sah hinab zu dem kleinen schmächtigen Elf, der unten schlotternd vor Angst auf sie wartete. Bereit, sie mit seinem eigenen Leib aufzufangen, ohne Rücksicht auf sein Leben.

Von hier oben konnte Bandorchu weit in das Land hinausblicken, konnte die Menschen sehen, die in der Umgebung unterwegs waren und blind blieben für das, was um sie herum geschah.

Genau wie der Getreue in Newgrange hatte auch sie einen magischen Schutzwall um den Hügel von Tara gewirkt und das Gebiet ein wenig entrückt – so, als hätte sie es aus der einen Realität gehoben und ein Stück daneben wieder abgestellt.

Nur die besonders Empfindsamen, die von Magie berührt worden waren oder jene, die unwissentlich einen Schluck Elfenblut in sich trugen, vermochten die Verschiebung vielleicht als Kribbeln oder feine Vibration wahrzunehmen, dort wo sich die Energieebenen der Welten aneinander rieben. Vielleicht mochten einige sogar einen Hauch verspüren, einen sonderbaren Geruch wahrnehmen oder leise murmelnde Stimmen hören. Für alle anderen war Bandorchus neues Heim und alles, was sich innerhalb des Walls befand, unsichtbar und gleichzeitig durchlässig wie Luft.

So wie die Menschen auch für die Magie der Megalithen, Steinkreise und Kammern, die als Ruinen auf dem Hügel über die Epochen hinweg überdauert hatten, taub und blind waren.

Touristenscharen trampelten auf den Zeugnissen der Geschichte herum, in ihren bunten Kleidern und reflektierenden Sonnenbrillen. Jeder eines dieser Geräte vor der Nase, um den Moment darin als Bild oder Video festzuhalten für die Zeit nach der Heimkehr. Doch Erinnerungen waren wertlos ohne das dazu passende Gefühl.

Auch in Bandorchus Welt war es an der Zeit, dass jemand trotz seiner unverzeihlichen Verfehlung endlich nach Hause kam. Jemand, der ihre geballte Wut zu spüren bekommen würde. Der Getreue hatte sich ihr widersetzt. Widersetzte sich immer noch! Dafür würde er büßen.

Sie hatte ihrem treuesten aller Diener in der Vergangenheit zu viel Leine gelassen. Ihm zu viele Kapriolen und Sonderbehandlungen zugestanden. Weil er im Gegensatz zu so vielen anderen nicht versagte, egal welchen Auftrag sie ihm gab. Egal wie unmöglich das Geforderte erschien oder wie groß die Opfer sein mochten, die damit verbunden waren. Der Getreue war seinem Namen immer gerecht geworden. Auf seine Weise.

Doch diesmal nicht. Sie hatte nach dieser Halbelfe verlangt. Wollte sie um jeden Preis, vor allem, da sie das besondere Kind in sich trug. Nadja Oreso war die Waffe, mit der die Königin alle Welten endgültig in die Knie zwingen konnte.

Noch immer starben sie. Sie alle. Jeden Tag ein bisschen mehr. Auch Bandorchu. Doch das hatte sie längst in ihre Pläne mit einkalkuliert. Und auch ihr dunkelster Diener würde sich am Ende beugen müssen. Freiwillig oder nicht.

Bevor sie sich allerdings um den Getreuen kümmern konnte, musste sie ihre Macht nähren. Seit sie mit ihren Anhängern in Tara angekommen war und über dem historischen Machtzentrum – von dem aus Götter und Feldherren die Welt erobert hatten – den ersten Grundstein gelegt hatte, erhielt sie zusätzliche Energie und war nicht mehr auf Menschenseelen angewiesen.

»Erst die Arbeit, dann das Vergnügen«, säuselte die Dunkle Königin gegen den Wind und blickte ein letztes Mal über ihr neues Reich hinweg. Dann machte sie einen Schritt nach vorn über die letzte Treppenstufe hinweg und ließ sich ohne Vorankündigung in die Tiefe fallen.

6.
Verfolger im Nacken

London – Freitag, 26. April 1715

Der zu Boden geschlagene Edmond Halley zuckte unter dem Schuss zusammen, in der festen Überzeugung, im nächsten Moment jenen Schmerz zu spüren, der einem unausweichlichen Tod vorausging. Doch er fühlte weder den Treffer noch Wunde oder Blut, das sich warm und verräterisch auf ihm ausbreitete. Stattdessen erklangen Rufe.

»Stehenbleiben! Im Namen des Gesetzes, bleiben Sie stehen!«

Schatten im fahlen Licht der Laterne. Wasser, das aus Pfützen spritzte. Schritte, die sich schnell entfernten. Von wie vielen Personen konnte Edmond nicht ausmachen. Die Geräusche vermischten sich in seinem Kopf zu einem chaotischen Missklang.

Zusammengekrümmt, die Augen geschlossen lag er da und wartete auf den nächsten Schlag. Doch es kam keiner. Ohne noch ein Gefühl für die Zeit zu haben, öffnete er die Lider. Doch die Welt zeigte sich schief und dunkel wie ein Höllenloch.

Verzweifelt suchte er nach einem Anker, einem Haltepunkt für seinen Verstand. Wo war seine Kladde? Nachdem er sie trotz des vernebelten Blicks kaum einen Meter entfernt auszumachen glaubte, streckte er einen Arm aus, um sie zu sich zu ziehen. Doch der Abstand war zu groß. Mühsam robbte er auf der Seite liegend vorwärts. Näher und immer näher heran, bis seine Fingerspitzen das durchweichte Leder berührten.

In dem Moment erklangen erneut Schritte. Zügig kamen sie heran. Edmond kniff die Augen zusammen, um sich totzustellen und weiteren Schlägen zu entgehen. Blind vernahm er, wie das Klacken der Schuhsohlen langsamer wurde und schließlich nah bei ihm verstummte. Jemand stand zwischen ihm und der Laterne und warf seinen Schatten. Edmond konnte die Präsenz des Fremden fast schon körperlich spüren, als er sich über ihn beugte.

»Mister? Hören Sie mich?« Eine Hand griff nach Edmonds immer noch ausgestrecktem Arm und rüttelte ihn leicht. »Mein Name ist Constable Donald Leonard Johnson. Können Sie mich verstehen?«

Edmond schlug die Augen auf und wollte antworten. Doch es kam nur ein unartikulierter Laut aus seiner Kehle. Mühsam drehte er den Kopf und versuchte sich aufzurichten. Scharfer Schmerz brannte in seiner Magengrube und strahlte bis hoch in die Brust aus.

»Halley«, brachte er schließlich immer noch atemlos hervor. »Ich heiße Edmond Halley.«

»Halley, der Astronom und Mathematiker?« Die Stimme des Constable klang überrascht und fast schon ehrerbietig. Offensichtlich gab es doch noch Männer in London, die die Wissenschaft dem Aberglauben vorzogen.

»Genau der«, gab Edmond zurück. Ein Hustenanfall trieb ihm die Tränen in die Augen. Doch soweit er in seinem Schockzustand beurteilen konnte, war er ohne größere körperliche Schäden davongekommen. Lediglich der Schmerz in Leibesmitte erschwerte ihm das Atmen.

Als er endlich saß, zog er sich mit zusammengebissenen Zähnen das Hemd aus der Hose nach oben. Im trüben Licht sah seine Bauchdecke rot, mit einem ins Violette gehenden Schimmer aus. Bei einer massiven Einblutung hätte sich das Bindegewebe wohl schon dunkelschwarz verfärbt.

»Benötigen Sie einen Arzt?«, fragte Johnson.

Edmond winkte ab und streckte ihm anschließend seine Hand entgegen. »Helfen Sie mir lieber auf. Aber langsam.«

Der Constable packte zu und zog Edmond vorsichtig auf die Beine. »Eigentlich war ich auf dem Nachhauseweg und hatte von der Straßenecke Pendelton verdächtige Geräusche gehört.«

 

»Das war mein Glück«, stellte Edmond immer noch etwas gepresst fest. Vorsichtig richtete er sich in seiner Gänze auf und atmete sacht einmal durch. Dann sah er sich erneut nach seiner Kladde um.

»Leider sind mir die Burschen entwischt. Nach meinem Warnschuss haben die sich sofort davongemacht. Heutzutage ist man nirgends mehr sicher vor diesen Räuberbanden«, merkte Johnson an und hob für Edmond die Tasche auf.

»Oder vor religiösen Fanatikern«, fügte Edmond hinzu.

Der Constable nickte andeutungsweise. Da er Edmond am Namen erkannt hatte, konnte er sich den Rest gewiss denken. »Möchten Sie Anzeige erstatten?«, fragte Johnson nach einer Pause.

Edmond strich seine Kleidung notdürftig glatt. Was würde Isaac ihm raten? Es auf sich beruhen lassen? Keinen weiteren Staub aufwirbeln? Oder in die Offensive gehen? Den Gegnern die Stirn bieten?

Kämpferisch geht der Stier zugrunde, hieß es in einem der Gedichtbände, die sie gemeinsam gelesen hatten. Edmond wollte ein Stier sein. Für die Sache, für die Wissenschaft und für das Ego. Ob das klug war, würde sich später herausstellen.

»Das will ich«, antwortete Edmond ernst.

Der Constable sah wenig erfreut aus. Kein Wunder. Er war ja nicht einmal im Dienst. Wahrscheinlich hielt ihn die ganze Sache vom Abendessen mit der Familie ab. Aber darauf konnte Edmond jetzt keine Rücksicht nehmen. Es gab Kämpfe, die man durch Schweigen und Stillhalten gewann. Durch seine Ausdauer und bloße Anwesenheit. Aber dieser hier brauchte Standfestigkeit und laute Widerworte.

»Ja, ich will Anzeige erstatten«, wiederholte Edmond mit fester Stimme und erhobener Hand. »Das hier war mehr als nur eine Lappalie. Es ging ihnen nicht darum, mir ein paar Schillinge aus der Tasche zu rauben. Sie wollten mich verletzen, ja vielleicht sogar umbringen!«

Constable Donald Leonard Johnson nickte knapp und kramte in seiner Manteltasche. »Natürlich, Sir. Das ist Ihr gutes Recht.«

Edmond verfolgte, wie der Wachmann nun in seiner Innentasche herumsuchte, doch er schien nicht fündig zu werden. Stattdessen ließ er die Hände sinken und sah Edmond das erste Mal direkt an. »In Anbetracht der fortgeschrittenen Uhrzeit und Ihres Zustandes, werden wir die Befragung besser morgen früh durchführen. Wäre Ihnen acht Uhr genehm?«

»Nichts zu schreiben dabei?«, fragte Edmond und drückte die Kladde dabei an seine Brust.

»So ist es«, gab der Constable zu.

»Kann passieren«, kommentierte Edmond und hob müde lächelnd einen Mundwinkel. Ihm gefiel Johnsons Art, nicht um den heißen Brei herum zu reden. Kein langes Geschwafel oder anbiederndes Gerede, um ja nichts Falsches zu sagen oder um sich aus der Verantwortung zu ziehen.

»Acht Uhr also«, erbat der Constable nochmals die Bestätigung. »Ist das hier Ihre Wohnadresse?« Er deutete auf die Eingangstür des Hauses.

»Ich wohne mit meiner Familie in Islington. Dies hier ist nur mein Arbeitsdomizil. Erster Stock. Meine Vermieterin, Mistress Delainy, wird Ihnen aufmachen und den Weg weisen«, sagte Edmond.

Trotz seines von Wut gespeisten Tatendrangs war er genau genommen froh, die Befragungsprozedur nicht noch heute Abend durchstehen zu müssen. Denn mit der wiedergewonnenen Klarheit wurden auch die Schmerzen immer deutlicher spürbar.

Das schien auch Johnson zu bemerken. Er drehte sich zum Gehen, zögerte und wandte sich nochmals um. »Wirklich alles in Ordnung, Sir? Ich kann Sie noch bis zur Schwelle begleiten. Es ist keine Schande, etwas wacklig auf den Beinen zu sein, nach so einer Attacke. Das kann selbst den stärksten Mann aus dem Tritt bringen.«

Edmond besah ihn sich genauer. Der Constable hatte klare helle Augen, die selbst im Halbdunkel der Straßenlaternen blau schimmerten. Der Nasenrücken war ein wenig schief. Vielleicht die Folge eines Kampfes oder anderweitigen Scharmützels im Dienst. Er war mittleren Alters, soweit sich das sagen ließ. Doch seine Haut war die eines Jugendlichen. Kaum Spuren eines Bartes. Und das, obwohl der Tag gewiss lang gewesen war und man in seinem Beruf gewiss keinen gesteigerten Wert darauf legte, sich zum Fünf-Uhr-Tee noch frisch rasiert zu zeigen.

Er war keiner dieser Schnösel, die zu sehr in ihr eigenes Spiegelbild verliebt waren. Einer, der sich unbequemen Situationen stellte, anstatt aus Bequemlichkeit wegzusehen oder gar die Hand aufzuhalten. Das war in diesen Zeiten nicht selbstverständlich. Schließlich wurden die Constables mehr schlecht als recht bezahlt.

Edmond beschloss, Donald Leonard Johnson zu mögen. Daher lächelte er ehrlich und schüttelte dann den Kopf. »Danke, Constable. Sie haben bereits genug getan. Mehr, als ich erwarten durfte. Ich danke Ihnen und wünsche einen guten Heimweg. Wir sehen uns morgen. Tee oder Kaffee?«

»Selbstverständlich Tee. Mit viel Milch«, erwiderte Johnson und deutete einen Salut an.

Nachdem Edmond sich ins Haus geschleppt hatte, fing ihn Mistress Delainy im Treppenaufgang ab. »Wer waren diese Männer?«, polterte sie in gewohnt forscher Art. War es denn wirklich zu viel verlangt, erst einmal nach seinem Befinden zu fragen?

»Irgendwelche Diebe und Rumtreiber«, antwortete Edmond, weil er keine Energie mehr hatte, sich näher zu erklären.

»Das sah mir aber eher nach etwas Persönlichem aus!«, insistierte die Hausherrin unnachgiebig.

Edmond stöhnte innerlich auf. Aber er musste sich zusammenreißen. Seine Professur machte ihn nicht gerade reich. Und mit der Hetze, die ihn in den letzten Wochen ungut in den Mittelpunkt rückte, würde er in nächster Zeit wohl kaum eine andere Bleibe finden. Vor allem nicht in so einer Lage. Das Arbeitszimmer war sein Rückzugsort und der einzige Platz, an dem er sein konnte, wie er wirklich war.

»Der Constable war ja da und wird die Angelegenheit klären«, versuchte er die zu erwartende Diskussion abzukürzen.

»Dass mir das nicht noch einmal vorkommt. Nicht vor meinem Haus«, sagte Mistress Delainy mit pikiert hochgerecktem Kinn.

»Natürlich, Madam.« Edmond Halley verbeugte sich schicksalsergeben vor der Matriarchin des Hauses und schickte sich an, die Treppe zu seinem Zimmer hinauf zu gehen.

»Und bluten Sie mir ja nicht die Möbel voll! Sowas geht nie wieder raus aus den Stoffen!«, rief Mistress Delainy ihm hinterher.

Edmond verzichtete auf eine Antwort, sperrte oben angekommen die Tür hinter sich zu und schleppte sich zum Bett, wo er sich angezogen in die Kissen sinken ließ.

Der nächste Morgen brachte Schmerzen und weitere blaue Flecken mit sich. Nicht nur auf seiner Bauchdecke, sondern auch am Rücken, den Schultern, der Brust und den Oberarmen. Er würde etwas Laudanum zu sich nehmen müssen, um sich auf den Beinen halten zu können. Immerhin war sein Gesicht verschont geblieben.

Punkt acht Uhr erschien Constable Donald Leonard Johnson zusammen mit Mistress Delainy, die ihnen wie erwartet Tee servierte. Mit einem extra Kännchen Milch für den Constable und etwas englischem Toast mit Butter und Honig.

»Nur zu, setzen Sie sich«, sagte Edmond und bot ihm den Sessel an, den er an den Arbeitstisch herangerückt hatte. Er war genau genommen keinen Besuch gewohnt. Nicht nur, weil seine Vermieterin es nicht gern sah, sondern weil er selbst seine Privatsphäre zu schätzen wusste. Selbst Isaac war erst ein einziges Mal hier gewesen, um ihn zu einem Konzertbesuch abzuholen. Eine Ausnahme, ihm zuliebe. Weil sein Freund neugierig gewesen war, wie er ohne Frau und Kinder hauste. Aber das war eine andere Geschichte, die hier nicht hergehörte.

Auch Edmond nahm Platz und schenkte Tee ein, während sich der Constable den Hut, den er heute dabeihatte, abzog und in Ermangelung eines Ablageplatzes schließlich auf das Fenstersims deponierte.