Elfenzeit 6: Zeiterbe

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Z serii: Elfenzeit #6
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Und der Getreue hatte sich gar nicht erst daran beteiligt, sondern war mit Nadja verschwunden. Vielleicht gehört ihre Entführung zu einem viel größeren Plan, den sie alle nur noch nicht durchschaut hatten. Möglicherweise war es eine Finte, um sie abzulenken. Fortzulocken und blind für die im Hintergrund ablaufenden Geschehnisse zu machen. Aber welche mochten das sein?

David knurrte vor Ärger so laut auf, dass Philippe am Steuer zusammenfuhr und David sich einen bösen Blick seiner Schwester einfing.

»Ignorier meinen Bruder einfach, Phil. Manchmal hat er diese Anfälle. Aber keine Angst, er ist harmlos«, beschwichtigte sie den Hasenfuß mit ihrem charmantesten Lächeln, während sie mit ihrer Hand sein Knie tätschelte.

David musste gegen seinen Willen grinsen. Die Menschen waren schon ein seltsames Volk. Manche so mutig und andere so schwach. Natürlich war Nadja genau genommen eine Halbelfe, aber ihre Mutter Julia Oreso war es nicht. Und gerade sie hatte, genau wie ihre Tochter, bewiesen, wie stark ein so zierliches, sterbliches Wesen sein konnte. Ihre Autorität lief zwei Schritte voraus. Diese Frau bekam für gewöhnlich, was sie wollte. Nur, dass sie dafür keine Elfenmagie einsetzte.

»Am besten, ihr nehmt euch ein Zimmer im Le Relais De Brocéliande. Da seid ihr mitten im Zentrum der Stadt und könnt einige der Sehenswürdigkeiten zu Fuß erreichen. Das angeschlossene Restaurant hat einen guten Ruf«, erklärte Philippe ihnen, während er die Autobahn wieder verließ und auf die Landstraße Nummer 773 Richtung Norden abbog.

Wenige Minuten später hatten sie ihr Ziel erreicht. Ein malerisches Örtchen, direkt an jenen gewaltigen Wald angrenzend, den man in Sagen und Geschichten Brocéliande nannte. Es wurde Zeit, sich von Philippe zu verabschieden. Wie, das sollte Rians Sorge sein.

»Du hast ja meine Nummer«, sagte Philippe nach einigem Hin und Her, während sie im Regen standen und langsam aufweichten. »Eine kurze Textnachricht genügt und ich hole dich ab.« Er blickte zu David und verzog entschuldigend das Gesicht. »Euch, meine ich natürlich. Ihr seid beide willkommen.«

»Das ist so lieb von dir, Phil. Wirklich«, antwortete Rian, küsste ihn mit spitzen Lippen auf die Wange und trat dann an Davids Seite. »Fahr vorsichtig, ja? Die Straßen können rutschig sein bei so einem Wetter.«

Philippe nickte mit seligem Lächeln. Noch einmal zögerte er, schien mit sich selbst zu ringen. Dann stieg er ein, wendete die Limousine und brauste so zackig davon, dass links und rechts die Wasserfontänen spritzten.

»Gut gemacht, Schwesterherz«, sagte David und grinste.

»Er war wirklich nett«, erwiderte sie, während sie sich in einer nutzlosen Geste die Hand über den Kopf hielt und lachte. »Wir sollten schauen, dass wir schleunigst ein Zimmer und danach etwas Ordentliches zu essen bekommen.«

In dem Moment krachte es. Ein Donnerschlag, so laut, dass sich die Zwillinge unwillkürlich duckten. Ein Blitz zuckte zwischen den Wolken hervor und erleuchtete den gesamten Himmel. Und nicht nur ihn.

Kurz bevor es wieder dunkel wurde, glaubte David etwas am Rand des angrenzenden Waldes vorbeihuschen zu sehen. Ein Tier vielleicht. Doch es war auf eine unwirkliche und doch seltsam vollkommene Art schneeweiß und dabei gleichzeitig geradezu ätherisch durchscheinend.

2.
Den Feind im Nacken

London – Freitag, 26. April 1715

Wir werden dich jagen, Weltvernichter!

Wir werden dich stellen!

Wir werden dich zur Strecke bringen.

Dein Blut und Wasser werden die Opferschale füllen,

um den Zorn Gottes zu zügeln,

solltest du weiterhin dem Teufel mit Zahl und Schieber huldigen.

Edmond Halley schluckte schwer und ließ die Hand sinken. Der Brief glitt ihm aus den zitternden Fingern und segelte zu Boden. Die Zeilen waren in großen, schwungvoll gezogenen Linien auf das Papier gesetzt. Ein geradezu kunstvolles Schriftbild. Der Inhalt dagegen zeugte von einer kleingeistigen Seele, von purem Hass, Rückwärtsgewandtheit und Aberglaube. Eine höchst gefährliche Mischung.

Als Wissenschaftler und logisch veranlagter Mensch hatte Edmond mit der Veröffentlichung seiner Arbeit in gewissem Maße Unglaube und auch Widerstände in der weniger gebildeten Bevölkerung erwartet. Aber eine Bedrohung seines Lebens erschien ihm in jeder Hinsicht maßlos übertrieben.

Dummheit war zu verzeihen. Ignoranz war selbst in den Adelsschichten zu finden und dabei teilweise als kapriziöse Marotte gepflegt. Fanatismus hingegen war die Brutstätte von Gewalt und Anarchie. Etwas, vor dem Edmond nicht beabsichtigte, sich zu beugen.

Was hatte er so Schlimmes verbrochen? Er hatte seiner kindlichen Leidenschaft nachgegeben und auch als gereifter Mann weiterhin hinauf in die Sterne geblickt. Nur dass er heute keine Geschichten hinter den Sternenbildern mehr suchte, sondern die Zahlen und Formeln der Flugbahnen und Anziehungskräfte, die den Kosmos zusammenhielten.

Weil er vorausberechnen konnte, wann und wo der Mond sich zwischen Sonne und Erde schieben und zu welchem Datum dies selbst bei Tage passieren würde, war er deswegen doch nicht der Verursacher einer Sonnenfinsternis. Sie würde kommen. So oder so.

Doch speziell die strengeren Ableger des Christentums wollten davon nichts hören. Sie sahen immer noch in jedweder Wissenschaft den Teufel sprechen. Auch dieser Drohbrief stammte eindeutig von den Christi Sanguis et Aqua, den Anhängern von Blut und Wasser Christi. Das ließ sich unschwer aus den gewählten Worten herauslesen, auch wenn sie zu feige gewesen waren, ihre Signatur unter die Zeilen zu setzen.

Die Standuhr in dem kleinen Arbeitszimmer schlug zur halben Stunde. Es wurde Zeit, sich auf den Weg zu machen. Es war eine große Ehre, vor den versammelten Mitgliedern der Royal Society sprechen zu dürfen. Und Edmond würde sich nicht von irgendwelchen Sektierern davon abhalten lassen. Nicht durch solch einen Akt, der Angst schüren und den Geist verzagen lassen sollte.

Als Wissenschaftler hatte er die Aufgabe, über die bekannten Grenzen hinaus zu blicken. Für ihn bedeutete das, auch das eigene Weltbild immer wieder herauszufordern. Sich mutig gegen das vermeintlich gefestigte Weltbild zu stellen. Nicht mit emotional überladenem Pathos, sondern mit Fakten und Beweisen im Gepäck.

Entschlossen rückte er seine Perücke zurecht, stand auf, stieg über den Drohbrief hinweg zu seinem Dokumentenschrank und zog die vorbereitete Kladde aus dem Regal. Dann warf er sich seinen besten Umhang über, den er für solcherlei Gelegenheiten und höhergestellte gesellschaftliche Auftritte hatte schneidern lassen. Gefertigt aus feinem Samtstoff, der in seiner Form einer Robe nahekam und andererseits schlicht genug gehalten war, um nicht protzig zu wirken. Denn unnötiger Prunk lenkte von dem eigentlichen Thema seiner Arbeit ab.

Heute war es die Berechnung der magnetischen Deklination und die damit einhergehende Lösung des Längenproblems in der Nautik. Die Ergebnisse würden die Routen in der Seefahrt präziser berechenbar machen und damit sowohl Risiko, als auch Reisezeit und Proviant einsparen. Und das alles mit Hilfe der Sterne.

Edmond Halley stand bereits im Türrahmen, als er noch einmal über die Schulter blickte und das Papier auf dem Boden neben seinem Schreibtisch fixierte. Für die Wissenschaft, dachte er. Gegen Tyrannei und Aberglaube. Schreite mutig voran, Edmond. Die Welt braucht dich und deinen klugen Kopf. Egal, wie schwer dir dieses Blatt Papier auch im Magen liegen mag.

Ein Zwiegespräch mit sich selbst, wie er es häufig tat, wenn er für längere Zeit nicht bei Frau und Kindern weilte. Die Zweitwohnung in London war eine kostspielige Sache und doch unabdingbar für ihn, um die nötige Ruhe für seine Arbeit zu finden.

Mary war eine gute Frau. Sie hatte ihm einen Sohn und zwei Töchter geschenkt. Brave strebsame Geister, die keinen Grund zur Klage gaben. Doch sie konnten nicht ändern, dass ein Teil davon nur Fassade war. Denn Herzen ließen sich nichts von Logik oder gesellschaftlichen Normen vorschreiben. Sie liebten, wen sie liebten. In Edmonds Fall war das vornehmlich die Wissenschaft.

Über London hing, wie an fast jedem Tag, der gewohnte graue Dunstschleier. Ein Geschenk der Themse an die Bewohner, wie es so schön hieß. Dazu strahlte der Himmel diese drückende Sommerhitze ab, von der man Kopfschmerzen bekam. Durch die Straßen wehte ein staubig-stickiger Wind und zerrte an Edmonds Umhang.

Kurz überlegte er, sich eine Kutsche zu nehmen. Doch der Blick in die Geldbörse belehrte ihn, sich besser auf seine Füße zu besinnen.

Das Gebäude der Royal Society war fünf Straßen entfernt. Deutlich kürzer, als er sonst zur Universität unterwegs war. Zusätzlich würde er die Abkürzung durch den St. James’ Park nehmen. Ein wenig Sauerstoff mochte helfen, das Dröhnen hinter den Schläfen verstummen zu lassen.

Zu dieser Jahreszeit flanierten die Menschen dort, um sich zu zeigen, unverfänglich Bekanntschaften zu knüpfen und aus der Ferne zu flirten, wie es die Vögel in den Bäumen, die Fische in den Seen und die Katzen in den Sträuchern taten. Ein Kreisen umeinander, durch Anziehung und Abstoßung choreografiert, das sich selbst im komplizierten Reigen von Sternen und Planeten wiederfand.

»Sie sind spät dran!«, hörte Edmond von der Seite eine bekannte Stimme rufen.

Herold Windsworth, ein weiteres Mitglied der Royal Society und Mathematik-Professor, der nicht mehr lehrte. Dennoch verpasste er kaum eine Sitzung der wissenschaftlichen Vereinigung, um seine persönlich gefärbte Sicht auf die Dinge kundzutun.

»Mitnichten!«, erwiderte Edmond. »Denn auf meiner Uhr wird es exakt dann zur vollen Stunde schlagen, wenn ich die Tür des Sitzungssaals öffne.«

 

»Ihre Zuversicht hätte ich in jüngeren Jahren gebraucht«, erwiderte der Professor und schloss mit zügigen Schritten zu ihm auf.

»Es ist weniger die Zuversicht, als die gewählte Perspektive, die es mir unmöglich machen wird, zu versagen«, scherzte Edmond.

So eine Plauderei half, den nagenden Schatten auf seiner Seele zu verdrängen. Doch auch auf seinem Weg gab es die erhobenen Zeigefinger, die Anklagen und Leugnungen, die ihm entgegenschrien.

»Wird uns der Mond auf den Kopf fallen und in ewige Nacht stürzen? Lesen Sie!«, rief ein Zeitungsjunge und hielt ihnen einen gedruckten Zettel hin.

Edmond spannte die Kiefer an. »Scharlatane«, zischte er und marschierte ungebremst weiter.

»Sie scheinen mir dieser Tage fast so oft in aller Munde zu sein wie das Königshaus und die Querelen zwischen Georg I. und den Jakobiten«, sagte Herold Windsworth ein wenig spöttelnd. »Halten Sie es immer noch für eine gute Idee, Ihre Theorien so öffentlich zu verbreiten?«

»Es sind keine Theorien. Es sind Fakten. Das sollten Sie als Mathematik-Gelehrter doch am besten wissen. Und was sonst sollte ich damit anfangen? Ich forsche nicht für die Schublade. Ich arbeite im Dienst der Menschheit.«

»Und es ist ein Segen, dass wir solch emsige Wissenschaftler in unseren Reihen haben«, lenkte der Professor beschwichtigend ein und zwirbelte eine seiner Perückenlocken. »In diesem Fall scheint mir allerdings die Frage erlaubt, ob die Menschheit dieses Wissen wirklich haben möchte.« Er deutete unmissverständlich auf Männer, die Papiere verteilten, auf denen in großen Lettern zu lesen war: »Tod all jenen, die den Teufel in Reagenzgläsern züchten«, oder: »Wenn der Teufel die Sonne verdunkelt, werden die Toten aus ihren Gräbern steigen.«

»Der Mensch ist ein Gewohnheitstier. Was heute neu ist, wird morgen normal sein«, antwortete Edmond Halley so ruhig es ihm möglich war. Doch die Angst hatte sich an ihm festgekrallt und kletterte langsam aber sicher seine Eingeweide hinauf und machte ihm den Magen flau.

Starrten ihn die Menschen an, an denen er vorüberging? Verfolgten sie ihn mit ihren Blicken? Flüche murmelnd und Schimpfworte hinter ihm ausspuckend?

Der Peitschenknall eines Kutschers ließ Edmond zusammenfahren und sich ducken. Der Professor blieb neben ihm stehen und sah ihn nun geradezu mitleidig an. »Sie hätten sich ein anderes Fachgebiet wählen sollen, mein Freund.«

Ich bin nicht Ihr Freund, wollte Edmond erwidern. Doch das geziemte sich nicht einem älteren Gentleman gegenüber. Und dazu noch einem so renommierten. Stattdessen biss er die Zähne zusammen und zuckte grimmig mit den Schultern. Er würde sich seine Worte für den Vortrag aufsparen. Wenn Leute vor ihm saßen, die sein Streben zu schätzen wussten.

Als sie das Eingangsportal des ehrwürdigen Baus erreichten, hielt Edmond inne, um sich zu sammeln. Er atmete einmal tief durch, klopfte sich den Staub von den Kleidern, rieb sich die Schuhe an den Hosenbeinen blank und straffte sich, bevor er dem Professor den Treppenaufgang hinauf und durch die Pforte folgte.

Wie kalkuliert, war er exakt zur anberaumten Zeit an Ort und Stelle. Die ehrwürdigen Herren hatten ihre Zigarren bereits beiseitegelegt und die Pfeifen ausgeklopft. Auch Herold Windsworth gesellte sich zu der Gruppe der Zuhörerschaft. Dutzende Augenpaare blickten Edmond erwartungsvoll hinter dem Rednerpult entgegen.

Die Begrüßung und Vorstellung durch den Principal – dem Vorstand der Fellow-Mitglieder – war knapp und ein wenig hölzern, wie Edmond fand. Doch er war es gewohnt. Sein Leben taugte nicht für amüsante Anekdoten. Die Ehrenabzeichen und Preise, die er bisher erhalten hatte, waren mittelmäßig dotiert gewesen. Gerade so, dass er über die Runden kam, ohne sich gänzlich in die Hände eines Mäzens begeben zu müssen.

»Die Seefahrt ist unser verlängerter Arm«, begann er seinen Vortrag. Gefolgt von einigen Ausführungen über die Historie der nautischen Karten und Routenberechnungen. Er zeigte die Stolpersteine und Herausforderungen dabei auf, um anschließend seine so überaus elegante Lösung zu präsentieren, die er aus den Himmelsplaneten abgelesen hatte.

»Wie kann man sich sicher sein, dass die Planeten den Bahnen folgen, die Sie glauben, berechnen zu können?«, fragte Paul Gutman. Er gehörte zu den Honorary Fellow of the Royal Society – Ehrenmitglieder, die sich um die Wissenschaft verdient gemacht hatten, ohne die formalen Voraussetzungen für eine Mitgliedschaft zu erfüllen. Ein konservativer Wissenschaftler und Skeptiker gleichermaßen. Im Grunde eine gesunde Mischung, wenn man Dingen auf den Grund gehen wollte. Allerdings schien diese Gabe im Alter zu einer Art nörgelnder Besserwisserei zu verkommen. So schien es zumindest Edmond, wenn er die graue Ehrenbrigade, wie er sie gern nannte, betrachtete.

»Indem man sie beobachtet und versteht«, antwortete Edmond knapp und vielleicht ein wenig zu forsch, um eine Diskussion darüber gar nicht erst aufkommen zu lassen.

Während er auf einige weitere Fragen einging, bemerkte er aus dem Augenwinkel, dass eine weitere Person unauffällig in den Raum trat und in der hintersten Reihe Platz nahm. Verdeckt von der ausladenden Perücke eines ihm vage bekannten Chemikers, lugte nur eine Hälfte seiner Silhouette hervor. Doch Edmond hätte ihn wohl allein an seinem Schatten erkannt: Den amtierenden Präsidenten der Gelehrtengesellschaft – Sir Isaac Newton!

Still und unbewegt saß er da und hörte sich die Diskussion bis zum Ende an. Erst als die Herren sich im Salon zusammenfanden, um bei einem Glas Scotch über das Gehörte zu lamentieren, trafen sich ihre Blicke aus der Ferne.

Edmond neigte angedeutet den Kopf und prostete dem berühmtesten Kopf unter den Wissenschaftlern zu. Isaac erwiderte die Geste, ohne ihn aus den Augen zu lassen. Ein leises Lächeln umspielte seine Lippen. Sein Blick strahlte etwas Schalkhaftes aus. Ein Mann, der sich im Inneren sein jugendliches Ich bewahrt hatte. Sorgsam weggesperrt für die vorüberziehenden Leute. Sichtbar nur für jene, die das Vergnügen hatten, ihn Freund nennen zu dürfen.

Es dauerte eine weitere Stunde, bis beide den obersten Herren, Professoren und Doktoren genügend ihrer Zeit geschenkt hatten, und sich endlich auf einen spätnachmittäglichen Kaffee gegenüberstanden.

»Du siehst aus, als hättest du dich durch einen Sturm bis in den Saal vorkämpfen müssen«, sagte Isaac zur Begrüßung.

»Das müssen die Flüche und Verwünschungen sein, die mir durch die Haare gefahren sind«, gab Edmond mit leicht erhobenen Mundwinkeln zurück.

Sie hatten sich ein wenig abseits gestellt und sprachen in gedämpftem Ton. Die Köpfe dicht beieinander, um das lauter werdende Schnattern der anderen auszublenden.

»Entschuldige, dass ich zu spät kam. Aber die Studenten wollten mich nicht gehen lassen«, sagte Isaac und seufzte bedauernd. »War es so schlimm, wie ich an dir abzulesen glaube?«

»War es nicht«, entgegnete Edmond. »Nicht hier und heute.«

»Was ist es dann, das dir den Kummer ins Gesicht zeichnet? Meine Reise? Ich habe dir angeboten, dich mitzunehmen. Diese Einladung gilt noch immer.«

Edmond zögerte. Er wollte seinen Freund nicht beunruhigen, doch anlügen wollte er ihn ebenso wenig. »Es sind diese ewig Heiligen, die mich beschäftigen.«

Isaac nickte. »Ich habe die Verteiler gesehen. Als wären wir zurück im Mittelalter bei den Hexenverbrennungen.«

Edmond verzog den Mund zu einem schmalen Lächeln. »Dann wäre ich wohl die Hexe.«

Isaac wiegte den Kopf hin und her, während er ihn mit Blicken maß. »Ein spitzer Hut würde dir gewiss stehen. Aber auf die Warze könntest du gut verzichten.«

»Wie steht es mit einem Besen? Sollte ich mir einen anschaffen?«, führte Edmond ihr Spielchen fort.

Sein Freund schmunzelte schief. »Wenn du mich auch mal auf ihm reiten lässt.«

»Isaac!«

Sie lachten.

»Im Ernst, Edmond. Komm einfach mit nach Frankreich. Das Haus ist groß genug für zwei brillante, egozentrische Wissenschaftler«, wiederholte Isaac sein Angebot.

Doch Edmond schüttelte den Kopf. »Das Zentrum der Sonnenfinsternis ist hier. Hier in Britannien. London ist der beste Ort, um sie zu erleben. In Frankreich mag es dunkel werden. Aber es wird nicht das gleiche Erlebnis sein. In gewisser Weise ist die Sonnenfinsternis so etwas wie mein viertes Kind. Das ich ganz allein auf die Welt bringen werde, weil ich es vorausberechnet habe.«

»Als Erster überhaupt«, fügte Isaac hinzu und nickte abermals.

Edmond fühlte einen Kloß im Hals. »Wann wirst du abreisen?«

»Morgen früh legt das Schiff ab. Ich sollte also wohl langsam meine Koffer packen.«

Stille.

Isaac schwenkte sein leeres Glas. »Es wird nicht für ewig sein, Ed. Das weißt du.«

»Natürlich. Ich verstehe, dass du ein wenig Ruhe vor deinen wissensdurstigen Studenten brauchst. Ein bisschen Erholung, um die Gedanken neu auszurichten.« Edmond lächelte bemüht.

Dennoch würde er ihn vermissen. Seine bloße Anwesenheit. Seine strahlenden Augen und seine klugen Gedanken. Und die Sicherheit, die er ihm gab. Besonders jetzt, da man ihn offen bedroht hatte. Doch er würde seinem Freund nichts von dem Brief erzählen, ihn nicht damit erpressen, um ihn hierzubehalten. Er würde die wenigen Tage bis zur Sonnenfinsternis allein durchstehen. Verbarrikadiert in seinem Arbeitsdomizil. Fern von seiner Familie, um auch sie zu schützen.

Wenn der Mond sich schließlich vor die Sonne schieben und nach wenigen Minuten das Tageslicht zurückkehren würde, würde sich die Sache von selbst erledigen. Ohne den Aufstieg eines Teufels oder sonst einer Hölle würden sich die Fanatiker mit ihren Weltuntergangsprophezeiungen selbst aus dem Rennen nehmen.

Der Alltag würde schneller zurück sein, als er es sich jetzt vorstellen mochte. Spätestens dann, wenn auch sein Freund von seinen Ferien zurück sein würde.

Isaac breitete die Arme aus, drückte ihn kurz und klopfte ihm dann übertrieben mit der einen Hand auf den Rücken. Doch mit der anderen suchte er Edmonds Finger und strich in einer flüchtigen Geste zärtlich über sie hinweg.

»Schreib mir, damit ich weiß, dass du gut angekommen bist«, raunte Edmond leise, weil seine Lippen zitterten.

»Und du mir, wenn die Horde dein Haus umstellt hat«, antwortete Isaac und drückte ihn ein letztes Mal, bevor sie sich voneinander lösten, sich strafften und voneinander abwandten. Isaac, um seine Sachen zu packen und Edmond, um den Schein zu waren.

Es wurde bereits dunkel, als Edmond das Haus der Royal Society schließlich verließ. Der Kopfschmerz vom Mittag hatte sich durch zu viel Scotch und lange Reden in ein wattiges Benommenheitsgefühl gewandelt.

London lag immer noch in dichten Dunst gehüllt. Das Atmen fiel ihm schwer. Die Laternen, die eine nach der anderen angezündet wurden, verstreuten ihr diffuses, milchig gelbes Licht über Straße und Bordstein und spiegelten sich in den verwinkelten Fenstern der Häuser.

Das Leben hatte sich an diesem trüben Freitag bereits nach drinnen verlagert. Familien saßen am Abendbrottisch, die Schwerenöter in den Bars und Bordellen und die Halunken und Bettler irgendwo in den Gebäudeeingängen und Abwasserkanälen.

Edmond erwog abermals, für den Rückweg eine Kutsche zu nehmen. Doch als er nach einer Ausschau hielt, war weit und breit keine in Sicht. Also marschierte er müde und ausgelaugt den Weg zu Fuß zurück zu seiner Wohnung.

Mistress Delainy, die Vermieterin seines Arbeitsdomizils, schien einmal mehr in ihrem Sessel am Kamin zu sitzen und zu stricken. Ihre Silhouette zeichnete sich trotz des dünnen Vorhangs dunkel vor der Lampe ab. Die restlichen Fenster waren dunkel.

Als Edmond seinen Schlüssel aus der Hosentasche fischte, erklang ein Poltern. Eine Ratte huschte den Bordstein entlang. Nur eine Ratte, dachte er erleichtert. Dann hörte er die Schritte. Schritte von mehreren Personen, die schneller wurden.

Instinktiv drehte Edmond sich um und zuckte zurück, als ein Holzknüppel knapp an seinem Kopf vorbei schwang.

»Verdammt!« Er keuchte vor Schreck auf, wankte einige Meter rückwärts, drückte die Tasche fest an den Körper und riss den freien Arm in die Höhe, um einen möglichen zweiten Schlag abzuwehren.

Stattdessen erwischte ihn ein tief angesetzter Fausthieb in den Magen, bevor er den Angreifer überhaupt kommen sah. Schwarz gekleidete Gestalten. Zwei, vielleicht drei. Ihre Mäntel blähten sich, während sie herumwirbelten, um zu einer neuen Attacke anzusetzen.

Edmond stieg der beißende Geruch von Ruß und Schmieröl in die Nase. Sie hatten sich getarnt. Deshalb erkannte er keine Gesichter. Das hier waren keine Trunkenbolde, die auf Streit aus waren. Dies war ein Angriff mit Vorsatz. Ein geplanter Überfall, der ihm galt. Ihm ganz allein.

 

Edmond fühlte pure Panik. Er war kein Kämpfer. Kein Soldat. War er nie gewesen. Seine Welt bestand aus Zahlen und Papier. Mühsam richtete er sich auf. Die Tasche hatte er nach dem Magenschwinger fallen gelassen. Seine Unterlagen. Er wollte danach greifen, sein Werk und sich selbst in Sicherheit bringen. Der Hauseingang war nur noch wenige Meter entfernt. Doch ein weiterer Schlag mit dem Prügel ließ ihn kopfüber zu Boden stürzen.

Abermals erklangen Schritte. Dann zerriss ein Schuss den nächtlichen Dunstschleier.