Wahrheit oder Sylt

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17

Bremen. Stadtwerder

Davor

Karsten schwieg.

»Du solltest diese alte Geschichte endlich abhaken«, sagte Franziska nach einer Weile.

»Ja, verdammt«, rief Karsten ärgerlich. »Längst geschehen! Kannst du jetzt bitte, bitte damit aufhören? Sonst bleib ich doch noch hier, und ihr könnt euch ohne mich mit diesem Idioten und dem anderen Schleimscheißer vergnügen!«

»Oh Mann«, sagte Franziska und klang jetzt auch genervt. »Dass Matze ein Idiot ist, steht außer Frage. Aber das ist doch gar nicht der Punkt!«

»Was ist denn dann der Punkt?«, zischte Karsten. »Um was, verdammt noch mal, geht es überhaupt?«

»Es geht darum, dass du dich hinter der Geschichte von damals verschanzt. Du trägst sie wie einen Schutzschild vor dir her. ›Seht her, ich bin ja so verletzt worden. Ihr müsst mich mit Samthandschuhen anfassen, weil mein Herz gebrochen ist.‹ Hör auf damit! Hör auf mit dem verdammten Selbstmitleid! Zieh deine Lehren daraus, und weiter geht’s!«

Miriam sah sich um. Ihr war die Situation jetzt unangenehm. Das sollten Karsten und Franziska besser unter sich ausmachen. Sie stand auf, ging die wenigen Schritte zur Gartentür und starrte in die Dunkelheit. Die Nacht hing schwarz zwischen den Hecken und Büschen, in den Schrebergärten und auf den Wegen.

»Komm schon«, hörte sie Franziska hinter sich mit weicher Stimme sagen, »wie soll ich mich denn fühlen, wenn du noch in der Vergangenheit festhängst? Ich bin doch jetzt für dich da. Und ich will, dass es dir gut geht! Tut mir leid, dass wir gelacht haben. Aber wir hatten schon zwei Gin Tonic, und du warst gerade so melodramatisch wie in einem Rosamunde-Pilcher-Film!«

»Was hat Miriam dazu gesagt?«

Franziska machte ein unbestimmtes Geräusch. Miriam drehte sich um. Das konnte sie ja dann doch am besten selbst sagen.

»Sieh es mal so«, begann sie. Karsten und Franziska hatten sofort aufgesehen, etwas überrascht, als hätten sie ihre Anwesenheit in der Zwischenzeit völlig vergessen. »Du hattest doch sicher viele schöne Momente mit Carina, oder?«

Karsten nickte stumm.

»Wozu dann traurig oder wütend sein? Denk lieber an die Zeit, die ihr hattet, als an die, die ihr nicht hattet. Wäre nicht Matze gekommen, dann hätte sie vielleicht mit jemand anderem was angefangen, früher oder später, aber ganz sicher irgendwann.«

»Ich weiß, dass ich selber schuld bin! Aber das macht es nicht besser, sondern noch schlimmer!«

»Verzeih dir selbst, Karsten!«, sagte Miriam eindringlich. »Jeder macht mal Fehler. Du hattest damals Gründe. Heute würdest du dich sicher anders verhalten. Wenn du dir selbst verziehen hast, wird dir Matze scheißegal werden. Und du wirst deinen Frieden mit der ganzen Geschichte machen können.«

Franziska nickte bestätigend und strich Karsten über den Rücken.

»Themawechsel«, sagte Karsten bestimmt. »Ihr hört euch an wie bei Gute Zeiten, schlechte Zeiten.« Hektisch wischte er sich über die Augen.

In der abendlichen Stille war jetzt ein sich näherndes schleifendes Geräusch zu hören, und plötzlich kam Lorenz durch die Gartentür, einen Hartschalenkoffer hinter sich her ziehend.

Lorenz, mein Lorenz, dachte Miriam, und ihr Herz machte einen Sprung. Wie war sie dankbar dafür, dass Lorenz so unbelastet von irgendwelchen Geschichten war. Oder zu sein schien. Sie hoffte es zumindest.

»Ist was?«, fragte Lorenz. »Was guckt ihr so komisch?«

»Wo warst du so lange, du Hund?«, rief Karsten und sprang auf, um ihm entgegenzugehen. »Ich musste mich hier mit zwei besoffenen Psychotanten rumschlagen! Was, verdammt, hast du so lange gemacht?«

18

Westerland/Sylt. Nordseeklinik

Danach

Drogenscreening. Das Wort hallt nach und breitet sich im diffusen Licht des abgedunkelten Zimmers aus wie eine Wolke. Er hat nichts genommen. Ganz sicher. So ist er nicht drauf, kein Interesse, noch nicht einmal Gras, das letzte Mal war damals mit Carina.

Und wenn Matze was in die Drinks gemischt hat? Zutrauen würde er es ihm. Was auch immer ihn ausgeknockt hat – die Wahrscheinlichkeit, dass es bei Laboruntersuchungen unentdeckt bleibt, geht wohl gegen null. Dagegen ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich die Polizei für die Ergebnisse interessiert, umso höher. Oder?

Was würde dann mit ihm geschehen? Sie würden ihn doch nie im Leben so einfach gehen lassen! Würde er in die geschlossene Psychiatrie eingewiesen werden? Entzugsstation? Oder Gefängnis? Untersuchungshaft?

War das der Grund, weshalb Luna noch schnell diese hastige Ergänzung auf die Rückseite ihres Briefes gekritzelt hat? Er muss hier wirklich raus! Irgendwie an diesem Monster von Pfleger vorbei!

Wie es wohl Miriam geht? Es muss Miriam sein, die einen Stock tiefer in einem Zimmer wie er ist, in einem Bett wie er liegt, zu wem soll Waldmanns Beschreibung denn sonst passen? Ob sie inzwischen wach ist? Ist Luna auch bei ihr gewesen? Hat auch Miriam ihr Gepäck und eine Warnung bekommen?

Was soll er jetzt tun? Einfach abhauen, so schnell wie möglich runter von der Insel, im Schutz seiner falschen Personalien auf Nimmerwiedersehen verschwinden? Doch was würde dann aus Miriam werden?

Drogenscreening. Vielleicht hat auch sie Gedächtnislücken. Vielleicht weiß sie aber auch etwas, das er nicht weiß? Etwas, das den Nebel in seinem Kopf ein weiteres Stück vertreiben kann?

Karsten seufzt. Er kann nicht weg, ohne Miriam zu befreien. Sonst würde die ganze Situation unkontrollierbar werden. Vielleicht würde Miriam seinen richtigen Namen sagen, und dann wäre es das gewesen mit auf Nimmerwiedersehen verschwinden.

Doch wie soll er sie da rausholen? Er kann ja schlecht auf die andere Station marschieren, an verschiedene Türen klopfen, bis er das richtige Zimmer gefunden hat, und dann mit Miriam einfach aus dem Krankenhaus spazieren.

Was hat der Pfleger gesagt? Genau hier einen Stock tiefer. Hat er damit gemeint, dass Miriam im Zimmer exakt unter seinem Zimmer liegt?

19

Niebüll. Autoverladungsterminal

Davor

Der Andrang an der Autoverladung in Niebüll war enorm. Als klar war, dass der angepeilte Zug ohne sie fahren würde, waren Karsten, Franziska, Miriam und Lorenz davon ausgegangen, den nächsten zu bekommen, doch es wurde nicht einmal der übernächste.

Zweieinhalb Stunden steckten sie im Wartebereich des Autozugs fest, zweieinhalb Stunden an der hässlichen Schleuse zwischen Sylt und dem Rest der Welt. Hitze flimmerte über Asphalt und zig Autodächern, die Luft war von Abgasen getränkt.

Als sich endlich die Schlange vor ihnen in Bewegung setzte, wurde der Audi auf die untere Ebene des Autozugs geleitet.

»Schade«, sagte Miriam enttäuscht. »Von oben kann man bestimmt superschön aufs Meer schauen.«

»Die SUVs lassen sie nach oben, die sind zu hoch für unten«, stellte Franziska fest. »Vielleicht hätten wir uns auch einen besorgen sollen. Passend zu Sylt.«

»Bloß nicht!«, sagte Lorenz. »Am Traktor erkennt man den Bauerntrampel. Sehr uncool.«

»Vielleicht fahren ja deshalb viele so ein Ding«, bemerkte Miriam. »Damit sie auf dem Autozug nach Sylt oben stehen dürfen.«

»Die wollen nicht nur auf dem Autozug oben stehen«, sagte Karsten. »Die wären auch sonst gerne ganz oben. Immer schön auf dicke Hose machen, dabei ist alles nur geleast. Alles Möchtegern und Gernegroß.«

»Siehe Matze«, sagte Lorenz lakonisch.

»Penisprothesen«, bemerkte Karsten. »Nichts anderes sind diese dicken Protzkisten.«

»Dein Vater fährt doch auch so ein Auto«, fiel ihm Franziska ins Wort.

»Eben«, antwortete Karsten bissig. »Der ist das beste Beispiel.«

»Was ist denn so schlimm an SUVs?«, fragte Franziska.

»Brauchen unnötig viel Sprit, nehmen mehr Platz weg, was in der Stadt echt nervt, und wenn dich so ein Riesending auf dem Fahrrad anfährt, hast du keine Chance«, zählte Miriam auf.

»Vor allem ist ein SUV das Gegenteil von Understatement«, sagte Lorenz, »und deshalb uncool.«

»Vor allem das Gegenteil von deinem Gammel-Mini«, kommentierte Franziska schnippisch. »Ihr seid doch bloß neidisch!«

»Neidisch?« Lorenz lachte. »Worauf? Auf die Profilneurose?«

»Wie bist du eigentlich drauf?« Karsten sah Franziska irritiert an. »Findest du diese Fettarsch-Autos etwa gut?«

»Ich fand das schon ganz nett gestern, im Cayenne durch die Stadt zu cruisen. Und ich bin allergisch gegen diese Mentalität, alles scheiße zu finden, was mit Luxus und Lifestyle zu tun hat. Vor allem, wenn man wie ihr mitten im Luxus aufgewachsen ist.«

»Genau deshalb dürfen wir das auch scheiße finden!«, rief Lorenz. »Wir können das beurteilen durch langjährige schmerzhafte Kindheitserfahrungen.«

»Aha«, schnappte Franziska. »Und weil ich so ein Proll aus dem Harz bin, ist meine Meinung weniger wert, oder was?«

»So ein Quatsch«, winkte Karsten ab. »Aber es ist doch ganz normal, dass man kritisch hinterfragt, womit man aufgewachsen ist. Tust du doch auch! Du fährst ja nicht einmal an Weihnachten nach Hause!«

Karsten biss sich auf die Zunge. Fransziska war empfindlich, wenn es um ihre Familie ging.

Warum sie nach Bremen gegangen war, um Jura zu studieren, konnte ihre Familie nicht verstehen. Ihrem Vater wäre es lieber gewesen, wenn sie wie ihre zwei Schwestern eine Ausbildung beim Friseur oder bei der Sparkasse gemacht hätte. Ihre Mutter hätte es gern gesehen, wenn sie ihren Jugendfreund geheiratet, schnell Kinder bekommen und ein Haus gebaut hätte – genau wie ihre Schwestern. Franziska galt nun als Abtrünnige, die sich für was Besseres hielt. Bei jedem Besuch fiel Franziska ein wenig mehr die Enge und Beschränktheit ihrer Familie auf, ihres Dorfs, ihres gesamten früheren Lebens.

 

Als nach einigen Semestern klar war, dass sie an der Uni nicht nur mithalten konnte, sondern sogar richtig gut war, hörte sie auf, nach Hause zu fahren. Aber ein wundes Gefühl blieb.

Der Zug hatte sich inzwischen in Bewegung gesetzt und Niebüll verlassen. Draußen zogen weite Felder und grüne Wiesen vorbei. Windräder drehten sich majestätisch im Südwestwind. Hinter Klanxbüll standen Schafe auf einem Deich, und dann waren sie plötzlich auf dem Hindenburgdamm. Es war gerade Flut, rechts und links weites Meer, das Wasser schwappte bis fast an den Damm heran und funkelte in der Nachmittagssonne.

Karsten öffnete das Fenster, doch statt sauberer, salziger Meeresluft drang nur der Dieselgestank der zwei Lokomotiven des Zuges herein.

20

Westerland/Sylt. Nordseeklinik

Danach

Die Tür des Stationszimmers scheint geöffnet zu sein, auch wenn er das mehr erahnen als sehen kann. Unschlüssig späht Karsten den Gang entlang. Was würde passieren, wenn ihn der Pfleger jetzt noch einmal entdeckte?

Unvermittelt fällt die Tür zum Stationszimmer laut ins Schloss. Um ein Haar hätte er vor Schreck aufgeschrien. Einen Moment lauscht er dem rasend schnellen, rauschenden Pochen in seinen Ohren. Jetzt oder nie!

Er hält die Luft an, als ob allein sein Atmen ihn verraten könnte. Unbemerkt erreicht er das leere Foyer. Hinter dem großen Tresen steht eine Tür sperrangelweit offen. Er hört die murmelnden Stimmen der Schwestern: Gartenbewässerung und Wohnungssuche und wer mit wem und warum. Kein Wort über Patienten. Wahrscheinlich hat die Übergabe noch gar nicht richtig angefangen. Gut, denkt Karsten, sehr gut. Je weniger Leute von ihm wissen, von seiner Geschichte und dem Drogenscreening, desto weniger Leute werden sich ihm in den Weg stellen. Vorsichtig schlüpft er ins Treppenhaus und lässt lautlos die Tür hinter sich ins Schloss gleiten.

21

Westerland/Sylt. Nordhedig

Davor

»Wir haben noch Zeit, soll ich euch mal die Klinik zeigen, wo ich damals war?«, schlug Lorenz vor.

»Wenn die am Strand ist«, meinte Miriam.

»Und ob.« Lorenz’ Augen leuchteten, und gegen Strand sprach nun wirklich gar nichts, ganz im Gegenteil. Die Sonne knallte vom Himmel und brannte auf der Haut, viel intensiver als in Bremen, und der Himmel war von einem fast unnatürlichen Blau, in das man am liebsten eintauchen wollte. Noch dazu war es heiß und stickig in Karstens altem Audi, in dem die Klimaanlage den Außentemperaturen nicht Paroli bieten konnte.

Obwohl Karsten wusste, dass ein Großteil von Westerland aus hässlichen Wohnsilos aus früheren Jahrzehnten bestand, hatte er nach Lorenz’ Erzählungen eine romantische Vorstellung von der Klinik gehabt. Er stellte sich diese glücklich machende Asthmaklinik wie einen alten Bauernhof vor, umgeben von einigen in den Dünen verstreuten reetgedeckten Häuschen und selbstverständlich direkt am Strand gelegen. Doch dann sagte Lorenz plötzlich vor einem mehrgeschossigen rostroten Zweckbau in einer stinknormalen Nebenstraße mitten in Westerland, Karsten solle anhalten, sie wären da. Lorenz hatte noch immer sein seliges Grinsen im Gesicht. Er lief vorneweg, konnte es kaum erwarten, ein asphaltierter Weg, volle Fahrradständer, Dünen, dann Treppen, und dann fegte der Anblick alle Bedenken und schlechten Gefühle weg.

Die gleißende, von Meer und Strand reflektierte Nachmittagssonne ließ sie die Augen zusammenkneifen und die Hände schützend an die Stirn legen. Hier roch es nun auch tatsächlich intensiv nach Meer, sauber, feucht und salzig. Ehrfürchtig blieben sie stehen.

»Was wollt ihr denn nun? Rein oder raus?«, hörte Karsten eine Stimme neben ihm.

»Ich mach das schon«, beeilte sich Lorenz zu sagen und gab der schlecht gelaunten Frau, die sich aus der Dunkelheit eines hölzernen Kabuffs gemeldet hatte, einen Zehneuroschein.

»Das reicht nicht«, sagte sie.

»Oha«, lachte Lorenz und reichte ihr noch einen Zehner.

»Eintritt für den Strand?«, fragte Miriam ungläubig.

»Kurtaxe«, erklärte er. »Das nehmen die hier ganz genau.«

Über die wenigen Stufen einer Holztreppe stiegen sie hinab zum Strand, stapften barfuß durch den warmen weichen Sand und ließen sich neben den Resten einer Strandburg nieder, die von der nahenden Abendflut bald vollends weggespült werden würde. Eine Gruppe Kinder tobte um zwei Volleyballnetze herum, die am Strand aufgestellt waren. Zwei Frauen mit sonnengegerbten Gesichtern standen am Rand. Mit stoischem Blick ließen sie die Kinder gewähren.

»Na, willst du nicht deinen Kindergärtnerinnen hallo sagen?«, stichelte Karsten in Lorenz’ Richtung. Er ignorierte es.

»Wer als Erstes …«, rief Franziska, aber Miriam und Lorenz waren schon losgerannt wie aufgekratzte Kinder. Karsten hatte es gar nicht bemerkt, dass sich die anderen in Windeseile umgezogen hatten, während er noch immer mit der Badehose in der Hand das Meer anstaunte, überwältigt. So lange war er nicht mehr am Meer gewesen.

Mit beeindruckender Wucht brandeten die Wellen an den Strand, brachen und zerliefen dann schaumig und ohne Hast über den glattgewalzten Sand. Woher kam bei so ruhigem Wetter dieser Wellengang? Vielleicht war das hier immer so. War Sylt nicht genau dafür bekannt und beliebt? Schwere See, dachte Karsten plötzlich, schwere See, mein Herz. Dieses alte Lied von Element of Crime. Heilte das Meerwasser nicht Wunden? Konnte die Nordsee auch in einem drin alles rund und weich und glatt spülen wie die kleinen Scherben und Holzstückchen, die man an Stränden wie diesem finden konnte?

Franziska und Miriam quietschten, Lorenz und Karsten brüllten, das Wasser, kalt für diesen endlosen heißen Sommer, kälter als erwartet, prickelte wunderbar auf der Haut. Die dunklen Gedanken verschwanden, als wären sie nie da gewesen. Sie blieben so lange im Wasser, bis sie Gänsehaut hatten, tauchten immer wieder durch die Wellen und wurden von ihnen zurück an den Strand getrieben. Sie ließen sich lang im Sand ausgestreckt von der Sonne trocknen und wieder aufwärmen. Gegen halb sieben brachen sie auf, um das Ferienhaus von Matzes Familie zu suchen. Sie taten es ein wenig widerwillig.

22

Westerland/Sylt. Nordseeklinik

Danach

Die Mauern der Klinik haben die Hitze der letzten Wochen gespeichert. Jenseits der Automatiktüren ist die Luft dagegen überraschend kühl und feucht. Es rauschen der Wind und das Meer, es muss ganz nah sein, vor dem tiefblauen Abendhimmel ein paar Möwen, kreischend. Es dämmert.

Karstens Augen scannen die geparkten Autos. Er braucht keine zwei Sekunden, um zu erkennen, dass sein Auto nicht im Innenhof der Klinik steht. Was nun?

Karsten muss sich zwingen, nicht loszurennen. Bloß nicht auffallen, ganz langsam gehen, egal wohin, Hauptsache weg. Haben sie auf Station schon bemerkt, dass er abgehauen ist? Suchen sie bereits nach ihm?

Er erreicht einen schmalen Mauerdurchlass, dahinter ein gläserner Unterstand. Ein übervoller Aschenbecher qualmt bedrohlich vor sich hin. Zwei Männer um die 70, unrasiert, schmuddelige Bademäntel, ausgetretene Hausschuhe. Sie verstummen mitten im Satz und starren ihn an. Er nickt. Einfach weitergehen.

Ein Nebengebäude, heruntergekommen, Fahrräder in unterschiedlichen Stadien des Verfalls. Ein dickes Mädchen in weißer Schwesternkleidung rennt aus der offen stehenden Tür und in Karsten hinein. Eine Entschuldigung murmelnd, hetzt sie weiter.

Als Karsten die Straße erreicht und auf dem breiten Radweg steht, hat er das Gefühl, bereits einen Marathonlauf hinter sich zu haben. Ein Polizeiwagen nähert sich von links. Karsten wendet sich nach rechts und biegt nach wenigen Metern erneut rechts ab auf einen asphaltierten Fahrweg. Hinter ihm rauscht der Polizeiwagen ohne zu bremsen vorbei.

In dem schmucklosen Neubau auf der rechten Seite des Weges, hinter einem der jalousiebewehrten Fenster im ersten Stock des Krankenhauses, muss er gerade noch gelegen haben. 200 Meter weiter leuchtet etwas hell in den Nachthimmel hinauf, gegenüber erkennt Karsten die Kiefern, die er durch die Lamellen der Jalousie gesehen hat.

Miriam. Hinter welchem Fenster ist sie? Vielleicht würde sie ihm sagen können, was in der letzten Nacht passiert ist. Aber auch wenn nicht, muss er sie da rausholen. Wenn er abhauen muss, muss sie es doch genauso!

Wer hat sie an dieser Bushaltestelle bewusstlos abgeladen, mitten in der Nacht, wie illegalen Sperrmüll? Das wird Miriam wahrscheinlich auch nicht wissen. Eigentlich müssen es ja die anderen gewesen sein. Aber warum? Oder ist alles ganz anders gewesen? Ist Miriam mit ihm zusammen weggegangen, geflohen sogar? Sind sie vielleicht sogar selbst in das Wartehäuschen der Bushaltestelle gegangen und dort einfach eingeschlafen? Aber warum in Wenningstedt?

Der Fahrweg endet an einem weiteren Radweg, dahinter Dünen. Von Westen aus betrachtet sieht die Klinik eher wie ein Hotel aus. Balkon an Balkon, weiße Handtücher über den Brüstungen, träge flatternd im Wind. Das Meer rauscht hier noch lauter von jenseits der Dünen.

An der nächsten Ecke stößt Karsten erleichtert auf eine große Freifläche, rechts die Klinik, links wieder ein Wäldchen. Der Platz ist komplett zugeparkt. Schon in der ersten Reihe, am westlichen Rand des Platzes, unter der tief hängenden Krone einer windschiefen Schwarzkiefer, findet er den Audi. Er kann gar nicht schnell genug die Fahrertür öffnen. Er lässt sich auf das zerschlissene Leder des Fahrersitzes fallen und atmet die stickige wunderbaumaromatisierte Luft ein. Eine warme Welle vertrauter Geborgenheit überschwemmt ihn und schwappt als Tränen in seine Augen, die er mit dem Handrücken beiseite wischt.

Er öffnet das Handschuhfach. Er hat gehofft, sein Handy dort zu finden, aber da ist nichts.

Was auf Sylt passiert, bleibt auf Sylt. Er sieht hoch und betrachtet die Kiefernzweige, die über die Windschutzscheibe wischen. Woher kommt jetzt dieser Satz? Er schüttelt den Kopf, und dann sieht er es plötzlich wieder deutlich vor sich, als habe jemand ein Fenster geöffnet.

23

Hörnum/Sylt. Süderende

Davor

Die Straße muss eine der schönsten der Welt sein, dachte Karsten, irgendwo musste es eine Liste geben, und auf dieser Liste der schönsten Straßen würde diese Straße zwischen Rantum und Hörnum ganz weit oben aufgelistet sein.

Schnurgerade zog sich das Asphaltband im gleißenden Sonnenlicht durch einsame Dünenlandschaft. Immer wieder blitzte blau das Meer zur Linken auf. Der Strandhafer, oder wie die Dünenpflanzen auch immer heißen mochten, wirkte wie ausgeblichen, was der Szenerie einen surrealen Hauch verlieh. Mitten im Nichts passierten sie eine ausgeschaltete Ampel und kurz danach einen riesigen Parkplatz, fast leer. Nur zwei alte Wohnmobile standen dort wie zufällig stehengeblieben, Surfbretter auf dem Dach, doch kein Mensch zu sehen.

»Paradiesisch«, seufzte Miriam.

»Ich dachte, Sylt ist so überlaufen im Sommer«, bemerkte Franziska. »Aber hier sieht’s ja ganz schön einsam aus.«

»Wenningstedt, Kampen, List und natürlich Westerland, da sind die meisten Touris«, sagte Lorenz. »Der Süden von Sylt ist ruhiger. Aber im Osten ist es noch ruhiger, am Nössedeich in Morsum oder in Archsum in den Wiesen.«

»Du kennst dich ja voll gut aus«, lobte Franziska.

»Wir haben mit der Klinik Ausflüge über die ganze Insel gemacht«, antwortete Lorenz. »Damals wäre ich lieber am Strand geblieben, aber eigentlich war es cool, dass sie uns Sylt gezeigt haben.«

»Wer weiß, wofür es gut ist«, bemerkte Karsten. »Wenn wir bei Matze vorzeitig raus müssen, dann ist es gut, einen Experten dabei zu haben.«

»Warum sollten wir denn bei Matze vorzeitig raus müssen?«, fragte Miriam. »Bist du nicht ein wenig arg paranoid?«

»Abwarten«, brummte Karsten. »Wir werden ja sehen.«

Die Straße machte eine langgesteckte Kurve, danach tauchten große schlichte Gebäude auf und in der Ferne ein Leuchtturm. Karsten bremste ab.

»Was sind denn das für Bunker?«, fragte Franziska.

»Bunker ist gar nicht so verkehrt«, antwortete Lorenz. »Das sind ehemalige Kasernen. Hier war früher ganz viel Militär stationiert. Im Zweiten Weltkrieg sollte von Sylt aus England erobert werden. Deshalb hat der Sylter Flugplatz auch eine Landebahn, auf der richtig große Passagierflugzeuge landen können.«

»Aber jetzt ist hier doch kein Militär mehr, oder?«

 

»Jetzt nicht mehr. Jetzt sind in den alten Kasernen Landschulheime und so Ähnliches untergebracht.«

Lorenz hatte die Navigationsapp seines Handys mit der Adresse gefüttert, die Matze ihnen gegeben hatte. Bislang war es immer nur geradeaus gegangen. Als sie im Ort eine scharfe Linkskurve erreichten, meldete sich die Computerstimme und wies sie an, dass sie rechts abbiegen sollten.

»Bist du sicher, dass wir hier richtig sind?«, fragte Karsten an Lorenz gewandt. »Hier geht’s doch schon wieder raus aus dem Ort.«

»Muss hier gleich sein«, meinte Lorenz. »Fahr mal langsam.«

Das hätte er nicht sagen müssen. Auf der schmalen Fahrbahn, mehr Weg als Straße, verhinderten Fußgänger und Radfahrer alles über Schritttempo.

»Stopp!«, rief Lorenz. »Zurück!«

Karsten gehorchte.

»Hier muss es sein! Fahr da mal hoch!«

»Da?« Karsten drehte sich zu Lorenz um. »Du verarschst mich doch, oder?«

»Wenn, dann Google. Fahr da mal hoch!«, insistierte Lorenz.

Karsten seufzte und lenkte den Audi auf einen noch schmaleren, mit rötlichen Steinen gepflasterten Weg, der ohne sichtbares Ziel mitten in die Dünen führte.

»Das muss es sein!«, rief Franziska und zeigte durch die Windschutzscheibe.

Im weiten Bogen führte ein Fahrweg hinauf auf eine hohe Düne. Von unten sah man ein Reetdach mit Gauben, der Rest des Hauses war durch die erhöhte Lage und eine Hecke aus Inselrosen vor Blicken geschützt.

»Ganz sicher?«, fragte Karsten. »Wenn ich da jetzt hochfahre, und das gehört anderen Leuten, die keinen Bock auf Besuch haben und ihre Dobermänner auf uns hetzen …«

»Spinner!«, lachte Lorenz. »Wir sind doch nicht im Getto.«

Im ersten Gang arbeitete sich der Audi den steilen Weg hinauf. Vor dem Haus stand Matzes Cayenne.

»Siehste!«, rief Lorenz triumphierend.

»Glück gehabt«, bemerkte Miriam spöttisch.

»Von Glück kann keine Rede sein«, murmelte Karsten, doch das hörte keiner der anderen. Er manövrierte den Audi zwischen Matzes Cayenne und einen kleinen Unterstand für die Mülltonnen.

Sie betraten die umlaufende Terrasse. An der rot geklinkerten Mauer stand in metallenen von Grünspan angegriffenen Buchstaben »Dünenburg«.

»Boah«, entfuhr es Miriam. »Das ist ja mal geil!«

Während der Blick auf das Haus von unten weitgehend versperrt gewesen war, war die Aussicht von oben überwältigend. Zu drei Seiten Meer, im Osten und Süden waren andere Inseln zu sehen, nach Westen erstreckte sich scheinbar endlos die offene See. Zahlreiche Reetdachhäuser verteilten sich wie zufällig hingewürfelt in den Dünen. Die Abendsonne tauchte die gesamte Szenerie in goldenes Licht und ließ die Nordsee in einer keilförmigen Spur bis zum Horizont funkeln wie Milliarden Diamanten.

Abrupt wurde die Haustür aufgerissen. Matze stand in der Tür.

»Wo bleibt ihr denn, verdammt?«, rief er. »Wir wollen endlich den Schampus aufmachen!«

Die verwaschene Aussprache ließ erahnen, dass er schon einiges intus hatte.

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