Wahrheit oder Sylt

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10

Bremen. Stadtwerder

Davor

Nachdem Matze und Enrico gegangen waren, waren auch Franziska, Miriam und Lorenz nicht mehr lange geblieben. Eine Geschäftigkeit setzte ein, die Karsten gegen den Strich ging. Alle hatten noch dies und das zu erledigen für die Fahrt nach Sylt am Tag darauf. Er nicht. Ein paar Sachen achtlos in eine Reisetasche zu werfen, hatte nicht mehr als zwei Minuten gedauert.

Am Himmel hingen nun dunkle Wolken. Selbst direkt am Fluss ging kein Wind mehr. Bleiern schwer stand die schwüle Luft zwischen Häusern und Bäumen. Karstens Klamotten klebten auf der Haut. Die elektrische Spannung schien auf beinahe haptische Weise greifbar zu sein.

Mit einem Bier setzte er sich auf den verdorrten Rasen im Schrebergarten. Allein zurückgelassen, ohne die anderen, fühlte sich Karsten leer und verlassen. Er dachte über den Unterschied zwischen Alleinsein und Einsamkeit nach und war sich nicht schlüssig, welcher Begriff seine Befindlichkeit besser beschrieb. Auf jeden Fall hatte ihm die Begegnung mit Matze die Stimmung versaut, und die Aussicht auf ein Wochenende in seiner Nähe, in seinem Haus, von seinen Gnaden sozusagen, machte es noch schlimmer. Er hätte sich nicht so schnell breitschlagen lassen sollen. Oder?

Er sah Lorenz vor sich, wie er vorhin mit roten Flecken an Hals und Wangen am Strand vor dem Café Sand gesessen war. Aus Vorfreude und vor Aufregung, das war Karsten klar. Er wusste über Lorenz’ Erinnerungen an Sylt Bescheid. Die besten Sommerferien überhaupt seien es gewesen, damals, als er mit 16 wegen seines Asthmas in eine Rehaklinik für Kinder und Jugendliche geschickt worden war. Viel besser als die üblichen Ferien, in denen er sich mit seinen Eltern in Fünf-Sterne-Klubanlagen auf den Malediven oder Seychellen zu Tode langweilte. Auf Sylt hatte er sich das erste Mal frei und erwachsen gefühlt. Die meisten Patienten wirkten nicht schwer krank, so dass es sich mehr wie in einem Ferienlager als in einem Krankenhaus anfühlte.

Lorenz lernte ein Mädchen aus Süddeutschland kennen, küsste sie bei Sonnenuntergang am Meer, und in der letzten Nacht stahlen sie sich davon, um in einem Strandkorb miteinander zu schlafen. Es war nicht ihr erstes Mal, wohl aber seins, und natürlich würde er das nie vergessen. Und so würde Sylt auf ewig in Lorenz’ Erinnerung ein nostalgisches und verheißungsvolles Leuchten behalten. Wollte Karsten also seinem besten Freund die Gelegenheit rauben, nach Sylt zu fahren?

Die Welt schien vor gespannter Erwartung die Luft anzuhalten. Eine unwirkliche Stille hing zwischen den reglosen Wipfeln der Bäume. Der Himmel hatte sich immer mehr verdunkelt. In der Ferne, irgendwo über Niedersachsen, zuckten vereinzelte Blitze, ohne dass ein Donnern folgte.

Plötzlich kam Wind auf. Modrige und doch frische Luft wehte um Karstens Nase. Eine Ahnung von Kühle streichelte seine Haut und richtete die Haare auf seinen Unterarmen auf. Die ersten Tropfen klatschten dick und schwer auf den Boden. Dann riss der Himmel auf, als hätte jemand einen Knopf gedrückt, und eine Sintflut prasselte auf ihn herunter. Binnen weniger Sekunden war er komplett durchnässt. Ein Hochgefühl stieg in ihm auf. Das Gefühl von Einsamkeit oder Alleinsein verwandelte sich in Freiheit, in Glück. Einem Impuls folgend, riss er sich die durchgeweichten Klamotten vom Körper, sprang wie durchgeknallt nackt durch den Garten und ließ den Regen den Schweiß von seiner Haut waschen. Kleine Pfützen bildeten sich auf dem Rasen.

Als er die Gestalt bemerkte, fuhr er erschrocken zusammen.

11

Miriam fluchte. Ausgerechnet jetzt, auf dem kurzen Weg zwischen dem Fähranleger am Café Sand und dem Garten musste ein Wolkenbruch über ihr niedergehen. Binnen weniger Sekunden war sie völlig durchnässt. Immerhin hatte sie noch schnell die Regenpelerine über den großen Tourenrucksack ziehen können.

Sie hätte bei Lorenz bleiben sollen. Dann hätten sie jetzt miteinander in einem Laden oder einem Café den Starkregen vorbeiziehen lassen können. Nachdem sie ihre Wäsche in einem Waschsalon in der Stader Straße gewaschen und getrocknet hatten, wollte Lorenz unbedingt ein paar Klamotten einkaufen gehen. Doch Miriam war müde und wollte möglichst schnell zurück.

Sie stürmte durch den kleinen versteckten Seiteneingang in den Garten und duckte sich unter die hohen alten Bäume. Hierhin war der Regen noch nicht ganz durchgedrungen. Es tröpfelte nur ganz schwach durch die Baumkronen.

Lächelnd betrachtete sie den Baumstumpf, auf dem sie und Lorenz sich in den letzten Wochen fast täglich geliebt hatten. Ja, geliebt! Sie hatte diesen Begriff für Sex immer albern gefunden. Liebe war eine Sache, Sex eine andere, am besten kam beides zusammen, aber eben nicht zwingend. Doch seit sie mit Lorenz zusammen war, hatte sich tief in ihr etwas verändert. Lorenz war so ganz anders als ihre bisherigen Freunde. Er war nach den gängigen Maßstäben kein schöner Mann. Er war zu dünn für seine Größe, sein Haar wurde bereits schütter, die leicht gebogene Nase dominierte zu sehr das schmale Gesicht. Seine Bewegungen waren linkisch. Aber vielleicht fühlte es sich genau deshalb, wegen des nicht perfekten Äußeren, so tief und echt an, wie sie es bisher nicht gekannt hatte.

Miriam war es gewohnt und hatte nichts dagegen, dass viele Männer sie anstarrten, ihre Beine (die zu lang waren, um perfekt sitzende Jeans zu finden), ihren Hintern (der ruhig etwas runder hätte sein können), ihre Brüste (die sie selbst etwas zu groß fand) und ihre blonde Löwenmähne (zu kraus).

Lorenz hingegen hatte ihr zunächst kaum ins Gesicht, geschweige denn woandershin sehen können, damals, als sie sich auf dieser öden Semestereröffnungsparty über den Weg gelaufen waren.

Nach diesem Abend dauerte es ganze drei Monate, bis sie das erste Mal miteinander schliefen. So lang hatte sie zuletzt mit 15 bei ihrem allerersten Freund gewartet. Nachdem sie sich das erste Mal geliebt hatten (auf der überaus beengenden Rückbank seines Minis, was sie erneut ans 15-Sein erinnerte), war sie versucht gewesen, ihn zu fragen, ob das gerade sein erstes Mal gewesen war. Aber sie traute sich nicht.

Er streichelte sie so sanft und betrachtete ihren Körper wie eine wertvolle Skulptur. Und in diesem Sinne betrachtete sie von da an auch seine behutsame Art: als Kunstwerk, als Wunder, als Kostbarkeit. Miriam hatte Angst, mit Fragen nach Ex-Freundinnen und Sex etwas zu zerstören, also ließ sie es einfach sein. Das war ihre Art, ihm die ihr entgegengebrachte Behutsamkeit zurückzugeben.

Ansonsten war Zurückhaltung schnell Schnee von gestern, und Miriam lernte eine ganz neue Vertrautheit kennen, die sie zu ihrer Verwunderung nicht langweilte, sondern Liebe entstehen ließ, tief und rein und echt und das erste Mal in ihrem Leben.

Unter den Eschen wurde es immer ungemütlicher. Der Regen hatte sich seinen Weg durch die Zweige und Blätter gebahnt. Miriam fröstelte und sah an sich hinunter. Das weiße Oberteil klebte fast transparent am Körper. Egal. Karsten würde es verkraften. Er hatte sowieso schon viel mehr gesehen, genau hier, unter den Eschen.

Einerseits hatte ihr das gefallen. Sein fassungsloser Blick. Sie hatte gesehen, wie es ihn erregt hatte. Seine Shorts hatten es nicht verbergen können. Andererseits hatte sie ihn schon zuvor immer wieder dabei ertappt, wie er sie angestarrt hatte.

Diese Blicke, dieses Glotzen kannte sie nur zu gut, und es irritierte sie. Sie waren in diesem Sommer zu viert so sehr zusammengewachsen, dass ihr jeder Gedanke, der gleichzeitig Karsten und Sex beinhaltete, wie Inzest vorkam.

Miriam schlüpfte unter einem niedrigen Ast hindurch und drückte sich mit dem klobigen Rucksack zwischen einer Hecke und dem morschen Schuppen vorbei. Nun lagen die Wiese und das kleine Haus vor ihr.

Es regnete noch immer in Strömen. Sie wollte gerade leicht gebückt und so schnell wie möglich zur Haustür rennen, da stutzte sie. Sie sah, wie sich Pfützen auf dem Rasen gebildet hatten. Und sie sah Karsten. Mitten auf dem Rasen stand er, nein, er stand nicht, er sprang herum, oder tanzte er? Auf jeden Fall hatte er nichts an. Er war splitterfasernackt.

12

Die Gestalt stand vor den Eschen, wie aus dem Nichts aufgetaucht. Sie trug etwas Weißes, was ihn an ein Gespenst denken ließ. Seine Poren zogen sich zu einer fast schmerzhaften Gänsehaut zusammen. Dann erkannte er die Gestalt: Miriam.

Warum war sie schon da? Und warum allein? Hatten Lorenz und Miriam nicht noch Wäsche waschen wollen?

Miriam lächelte. Die Haare hingen ihr triefend nass ins Gesicht. Ihr kurzer Rock klebte an den Oberschenkeln. Auch aus der Entfernung waren deutlich ihre Brüste und Brustwarzen unter dem im Regen fast transparent gewordenen Top zu erkennen. Auf dem Rücken trug sie ihren riesigen Tourenrucksack, als wollte sie zu einer Himalaya-Expedition aufbrechen. Ein jägergrüner Regenschutz machte den Rucksack noch unförmiger, als er ohnehin schon war.

»Das war wohl ein Regentanz«, rief sie durch das Rauschen des Regens. Irgendetwas in ihrem Blick löste ein Ziehen in Karstens Bauch aus. Rasch legte er die Hände schützend vor seinem Unterleib übereinander wie ein Fußballspieler in der Mauer, der den Freistoß des gegnerischen Stürmers erwartet. Als sie das sah, lachte sie.

»Hat gewirkt«, rief Karsten zurück.

Miriam kam einige Schritte auf ihn zu.

»Was hat wie gewirkt?«, fragte sie und betonte die beiden Fragewörter überdeutlich. Dabei zog sie die Augenbrauen hoch und legte den Kopf schief.

Karsten spürte, wie das Regenwasser auf seinem Gesicht heiß wurde.

»Der Regentanz. Erfolgreich.«

»Du hast Talent«, bemerkte sie spöttisch. »Kann ich reingehen? Wenn du nichts dagegen hast, würde ich gerne den Rucksack abstellen.«

 

»Ist offen. Ich komme gleich nach.«

»Okay«, sagte sie und wandte sich zur Haustür. Dort drehte sie sich nochmals um.

»Ich geh unter die Dusche, ja?« Wieder legte sie den Kopf schief. Trotz des klobigen Rucksacks auf ihrem Rücken wirkte es anmutig.

Weder Karsten noch Miriam hatten die Gestalt bemerkt, die nun unter den Eschen stand und die Szene ganz genau beobachtete: Franziska.

13

Westerland/Sylt. Nordseeklinik

Danach

Karsten bemüht sich um Beiläufigkeit und Selbstverständlichkeit, als er den Gang hinunterschlendert. Er hat frische Kleidung aus seiner Reisetasche angezogen und versucht, seine verschwitzten, verklebten Haare zu ordnen. Mit einem Blick in den Badezimmerspiegel hat er versucht, sich selbst davon zu überzeugen, eher wie ein Besucher und nicht wie ein Patient auszusehen.

Eine geöffnete Tür. Stimmen. Eine Frau und ein Mann. Nicht zu schnell gehen, unauffällig bleiben. Das Foyer. Seine Schritte werden wie von selbst schneller. Er muss sich beherrschen, nicht loszurennen.

»Stehen bleiben!«, brüllt die dröhnende Stimme des Pflegers. »Wo willst du hin?«

Der Pfleger hat die Arme in die Seiten gestützt und kommt langsam auf Karsten zu. Er wirkt bedrohlich, wie ein Raubtier auf dem Sprung.

»Nur mal kurz raus«, antwortet Karsten und bemüht sich um eine feste Stimme. »Frische Luft schnappen.«

»Du hast Bettruhe«, sagt der Pfleger überdeutlich. »Halte dich dran, sonst muss ich dem Arzt Bescheid sagen.«

Bilder aus Filmen mit gefesselten Psychiatriepatienten schießen Karsten durch den Kopf. Ohne ein weiteres Wort geht er mit gesenktem Kopf zurück, den ganzen Gang bis ans Ende. Bevor er in die Stirnseite des u-förmig aufgebauten Trakts abbiegt, wo sich sein Zimmer befindet, sieht er sich um. Der Pfleger wartet an der offenen Tür des Personalraums und sieht ihm hinterher.

14

Eine Viertelstunde später kommt der Pfleger wortlos in Karstens Zimmer und holt das unangetastete Essenstablett ab. Karsten hat sich aufs Bett gelegt, vollständig bekleidet, und sieht zur Decke.

Der Pfleger ist schon fast wieder an der Tür, da dreht er sich um und sagt: »Hübsches Mädchen, deine Freundin.«

»Sie meinen meine Schwester?«

»Jaja, von mir aus.« Er lacht höhnisch. »Schwester!« Er wiederholt das Wort wie die Pointe eines guten Witzes. »Verarschen kann ich mich selbst.«

»Ich weiß nicht, worauf Sie hinauswollen.«

»Och«, sagt er, »mir kann es ja egal sein. Aber irgendwas ist da doch faul. Da kommt ein Mädchen, das dich offensichtlich anhimmelt, und gibt sich als deine Schwester aus. Vor der Tür warten drei Leute auf die Kleine und schaffen es kaum, sich in die Augen zu sehen. Und genau einen Stock tiefer liegt das Mädel, das in der Nacht bei dir war, genauso abgeschossen wie du, nur dazu noch mit Blessuren, die ganz nach Vergewaltigung aussehen.«

Er macht eine gewichtige Pause und starrt Karsten bohrend an.

»Also, was habt ihr ausgefressen?«

»Ich kann mich an nichts erinnern.« Die Antwort kommt mechanisch. Karstens Stimme ist wieder ein Flüstern geworden.

»Jaja, schon klar«, sagt der Pfleger. »Ich bin ja mal gespannt, was im Drogenscreening rauskommt. Dann wird bestimmt auch mal die Polizei mit dir sprechen wollen.«

Wie vom Donner gerührt, starrt Karsten zur Tür, die hinter dem Pfleger ins Schloss gefallen ist.

15

Bremen. Stadtwerder

Davor

Miriam und Franziska saßen nebeneinander im Garten auf der verwitterten Bank, von der man auf das kleine Kaisenhaus sehen konnte. Sie hatten bereits einen Gin Tonic intus und den zweiten in der Hand. Sie hatten geredet. Belangloses Zeug. Jetzt schwiegen sie und beobachteten, wie die Nacht das letzte blaue Abendlicht vertrieb.

Etwas stand zwischen ihnen. Miriam musste so sehr an die bizarre Szene von vor einer Stunde denken, an den nackt im Regen tanzenden Karsten, dass Franziska ihre Gedanken schon fast hören musste, so kam es Miriam vor.

Sie hätte Franziska den Vorfall erklären können. Zumindest soweit der Vorfall zu erklären war. Was Karsten dazu bewogen haben könnte, nackt im Regen durch den Garten zu tanzen, konnte sie auch nicht sagen. Doch wer war sie, dass sie das kritisieren oder seltsam finden könnte? Solche Aktionen, wie nackt durch den Regen tanzen, würde man eher ihr zutrauen als Karsten. Nach den heißen Wochen ohne einen Tropfen Regen, nach diesem extrem schwülen Tag und nach der offensichtlichen Verstimmung, die Matze und Enrico bei Karsten hervorgerufen hatten, war es durchaus verständlich, einem solch befreienden Impuls nachzugeben. Oder etwa nicht? Miriam entschloss sich, Franziska nichts von Karstens Regentanz zu erzählen. Es war schließlich nichts passiert. Wenn sie davon erzählte, würde erst etwas daraus werden. So war es nichts, gar nichts.

Miriam konnte schon gar nicht mehr nachvollziehen, was Franziska und sie geritten hatte, in die Einladung nach Sylt einzuwilligen. Auf den ersten Blick war ihr klar gewesen, dass Matze und Enrico Blender waren, vermutlich reiche Söhnchen, die nichts besser konnten, als auf dicke Hose zu machen. Sie selbst hatte auch abgewinkt und auf ihre Freunde verwiesen. Franziska war es dann gewesen, die mit Matzes Cayenne zum Café Sand fahren wollte, um Lorenz und Karsten zu suchen und zu fragen. Ein Cayenne, Miriam lachte. Was für ein Klischee!

»Warum lachst du?« Franziska sah sie fragend an. Sie wirkte, als ob sie auch gerne lachen würde.

»Ich dachte nur gerade: Wenn ich hätte raten müssen, was für ein Auto Matze fährt, ich hätte sofort auf einen Cayenne getippt.«

Franziska schmunzelte und zuckte mit den Schultern.

»Meinst du, er hat nichts in der Hose und braucht ein dickes Auto zum Kompensieren?«, legte Miriam nach.

Franziska prustete. Sie hatte im falschen Moment einen Schluck aus ihrem Glas genommen. Hustend und lachend wand sie sich auf der wackelnden Bank.

»Kann doch sein«, sagte Miriam, jetzt auch lachend. »Das sagt man doch immer: je größer das Auto, desto kleiner der Pimmel!«

»Miriam!« Franziska tat empört, konnte aber ihr Lachen nicht unterdrücken. »So ’n Spruch aus deinem Mund?«

»Cheers!« Sie stießen an.

»Karsten und Matze haben ein Problem miteinander, oder? Weißt du was darüber?«

»Ganz lange Geschichte.« Franziska winkte ab.

»Erzähl doch mal!«, bohrte Miriam nach. »Oder soll ich ihn selbst fragen?«

»Nee, lass mal. Sonst ist er wieder tagelang schlecht drauf. Karsten ist im letzten Schuljahr ein paar Monate zweigleisig gefahren.«

Miriam musste ein Schmunzeln unterdrücken. Warum überraschte sie das nicht?

»Eigentlich wollte er mit seiner Freundin Schluss machen und mit seiner Affäre richtig zusammen sein, aber er hat es einfach nicht gebacken bekommen. Schuldgefühle und so weiter. Karsten war dann irgendwann kurz vorm Durchdrehen und hat sich schließlich – halt dich fest – ausgerechnet Matze anvertraut.«

»Ach nee!« Miriam lachte. »Der wirkt ja eigentlich nicht so wie ein Psychologe.«

»Nicht ganz«, nickte Franziska. »Aber jetzt kommt’s: Zwei Wochen, nachdem sich Karsten bei Matze ausgeheult hatte, waren Matze und Karstens Affäre plötzlich zusammen. Daraufhin konnte Karsten dann doch mit seiner Freundin Schluss machen, und bei der wiederum hat es auch nur zwei Wochen gedauert, bis sie einen Neuen hatte.«

»Oh je!« Miriam seufzte. Das ist ja wie in einer Soap.«

»Genau. Und Karsten war so runter mit den Nerven, dass er beinahe das Abi geschmissen hätte. Anscheinend musste Lorenz ihn jeden Tag zur Schule schleifen und ihn in den Arsch treten, damit es doch noch geklappt hat.«

Miriam sah auf. Karsten stand in der Haustür, nur wenige Meter entfernt, und sah sie ungläubig an. Wie lang stand er dort schon?

»Ihr redet über mich?«, fragte er leise.

Franziska sprang auf, lief zu ihm und umarmte ihn. Er ließ es etwas steif über sich ergehen.

»Miriam hat gefragt, was zwischen Matze und dir vorgefallen ist, da hab ich’s ihr erzählt.«

Karsten löste sich aus Franziskas Umarmung. »Und? Habt ihr euch gut amüsiert?«

»Gar nicht!«, widersprach Miriam. »Ganz schön üble Geschichte.«

»Schnee von gestern«, brummte Karsten. »War zwar hart, eine scheiß Zeit, aber es ist vorbei. Ich hab gelitten wie ein Hund, aber ich hab es überlebt.«

Miriam sah Franziska an, dann prusteten beide los.

»Was ist?«, fragte Karsten irritiert. »Hab ich was Komisches gesagt?«

»Oh, Kasi«, kicherte Franziska, »du bist ja so ein Held!«

»Ja!«, rief Miriam, »ein echter Überlebenskünstler!«

»Ich finde es eigentlich nicht so komisch«, sagte Karsten tonlos.

Miriam hörte auf zu lachen und sah Karsten aufmerksam an. Alle Farbe schien aus seinem Gesicht gewichen zu sein.

»Armer kleiner Kasi«, legte Franziska nach. »Die Welt ist so gemein zu dir!«

Und da brüllte Karsten plötzlich los: »Hört doch auf! Vergesst es einfach! Es geht euch beide eh einen Scheiß an!«

Tränen liefen über seine Wangen. Jetzt tat er Miriam plötzlich leid. Und auch Franziska hatte aufgehört zu lachen.

»Entschuldigung«, sagte Franziska sanft. »Wir wollten dir nicht wehtun.«

Karsten schwieg.

»Weißt du«, fuhr sie fort, »du machst ein ganz schön großes Drama um diese Sache.«

»Weißt du«, äffte Karsten wütend Franziska nach. »Das war die beschissenste Zeit meines Lebens. Ich hab noch mehr gelitten als nach dem Tod meiner Mutter.«

Miriam horchte auf. Karstens Mutter hatte sich umgebracht und Karsten sie gefunden, das hatte Franziska ihr mal erzählt. Anscheinend war seine Mutter depressiv gewesen und hatte Karsten alle möglichen Vorwürfe und ein schlechtes Gewissen gemacht.

»Ja«, sagte Franziska gedehnt, »das kann ja sein. Aber es ist jetzt schon ziemlich lang her. Und trotzdem reagierst du auf das Thema immer noch, als wäre es erst letzte Woche passiert. Du suhlst dich in Selbstmitleid. Dabei warst du ja auch nicht ganz unschuldig daran, wie es gekommen ist.«

»Darf ich die Geschichte dann wenigstens mal aus meiner Perspektive erzählen?«

16

Bremen. Oberneuland

Lange davor

Matze hatte zu seinem 18. Geburtstag geladen. Die halbe Oberstufe des Gymnasiums sollte kommen, dazu noch ein paar blasierte Typen aus seinen Golf- und Tennisvereinen, die zu laut lachten und dünne blondierte Mädchen mit teuren Handtäschchen im Schlepptau hatten.

In der weiß gekiesten Auffahrt des Anwesens überreichten Matzes Eltern das Geburtstagsgeschenk an ihren Sohn: den Schlüssel zu einem dort postierten nagelneuen schwarzen Porsche Cayenne Turbo S mit Vollausstattung. Danach verzogen sie sich, um die Nacht im Parkhotel zu verbringen.

Der Pavillon lag im hintersten Winkel des weitläufigen Gartens, der eher ein Park war. Es war dunkel und ruhig, Grillen zirpten, und die Geräusche der Party, die Musik, die Stimmen waberten vom wechselnden Wind getragen mal leiser, mal lauter von der Villa herüber.

Karsten telefonierte mit Julia, wie immer um diese Zeit. Sie musste an jedem einzelnen Abend, an dem sie nicht bei ihm war, mit ihm telefonieren und ihm haarklein von ihrem Tag berichten, egal, ob etwas Interessantes passiert war oder – wie fast immer – nicht.

Karsten hatte die Gestalt nicht bemerkt und erschrak, als sie plötzlich vom dunklen Garten in den Pavillon trat und das Feuerzeugflämmchen ihr Gesicht erhellte.

Carina. Sie war eine Stufe unter ihm. Er kannte sie vom Sehen, hatte aber nie etwas mit ihr zu tun gehabt. Sie strahlte etwas Unkompliziertes, Ungekünsteltes aus, ein Kumpeltyp, Marke »Mädchen zum Pferdestehlen«.

Durch sein Zusammenzucken erschrak wiederum sie, wodurch ihr der dicke Joint, den sie gerade angezündet hatte, zu Boden und Karsten vor die Füße fiel. Er griff nach ihm und nahm einen Zug. Stark, scharf, intensiv. Er musste husten. Sie nahm ihm mit spöttischem Grinsen die Tüte aus der Hand. Karsten sagte ins Telefon, dass er aufhören müsse, und legte auf.

»Zu doll?« Carina lachte. »Ich dreh keinen Tabak mehr rein, weil ich mit Zigaretten aufgehört habe. Und in den USA machen das alle so.«

»Ach ja?«, stieß Karsten hervor, immer noch hustend. »USA?«

»Ja«, sagte sie, »war gerade dort für ein halbes Jahr. Die kiffen dort alle ohne Tabak.« Sie hielt eine Flasche hoch.

 

»Dom Pérignon«, bemerkte sie. »Aus dem Privatkühlschrank im Keller. Trinkst du mit?«

»Ich denke, das tut jemandem, der einen Cayenne zum 18. bekommt, nicht weh.«

»Keine Sorge. Davon geht Matzes Familie nicht pleite.«

Carina kicherte leise und ließ den Korken in den dunklen Garten ploppen.

»Und wo genau warst du in Amerika?«

»Kalifornien. Direkt an der Pazifikküste zwischen L.A. und San Diego.«

»Hört sich gut an.«

»Ja, Glück gehabt.« Sie nahm einen Schluck aus der schweren Flasche und reichte sie ihm. In ihren Augen fingen sich Reflektionen weit entfernter Partylichter und ließen sie glitzern.

»Meine Gastfamilie war total locker. Der Vater ist Surflehrer und hat mir Wellenreiten beigebracht. Die Mutter ist Künstlerin und hat ein Atelier direkt an der Strandpromenade. Sie hat ständig Partys veranstaltet, auf denen die schrägsten Typen rumgelaufen sind. Ab und zu haben sie sogar mit uns gekifft. Und es war überhaupt kein Problem, wenn ich oder meine Gastschwester einen Typen über Nacht mitgebracht haben. Es war alles sehr entspannt.«

»Du hast einen Freund dort gehabt?«

»Nicht wirklich, nur ein paar kleinere Sachen.«

Trotz der Dunkelheit konnte Karsten erkennen, dass sie lächelte. Sie inhalierte tief und ließ den Rauch langsam aus der Nase quellen. Wo der Rauch die Balustrade des Pavillons erreichte, wurde er vom entfernten Scheinwerferlicht der Partybeleuchtung in Nebelschwaden verwandelt. Wie im Film, dachte Karsten.

Es vibrierte in seiner Hosentasche. Er zog das Handy hervor. Julia. Er drückte sie weg und schaltete das Handy aus. Carina sah ihn etwas schräg an.

»Und du?«, fragte sie nach einer Weile. »Bist du immer noch mit Julia zusammen?«

Lag es an der Frage an sich, am Tonfall, sanft, zart, oder an der für Karsten überraschenden Tatsache, dass sie überhaupt wusste, mit wem er zusammen war? An diesen Augenblick konnte sich Karsten noch Jahre später genau erinnern, denn in diesem Augenblick passierte etwas, das sein bisheriges Leben auf den Kopf stellen sollte.

»Hmmm«, machte er bestätigend.

»Macht ja nichts«, sagte sie und lachte neckend. Dann legte sie ihren Kopf schief und den Arm um seinen Hals, zog ihn zu sich und küsste ihn. Er wehrte sich nicht. Keine Spur.

Sie schliefen miteinander, während der fast volle Mond durch die Baumkronen blinzelte und die ungebräunten Stellen an Carinas Haut, wo sonst der Bikini saß, weiß aufleuchten ließ. Mit Carina zu schlafen, fühlte sich für Karsten an wie für einen Polarforscher der erste Sonnenaufgang am Ende der monatelangen Polarnacht.

Nach dieser Nacht kam sie regelmäßig zu ihm nach Hause. Julia hatte ohnehin unter der Woche keine Zeit, sie lernte unglaublich viel, dazu Klavier, Volleyball, Ballett, Treffen der Evangelischen Jugend. Und so kam es, dass Karsten unter der Woche eine leidenschaftliche Affäre mit Carina hatte und die Wochenenden bei Julia und ihrer Familie verbrachte und sich auch darauf freute. Es war eine kleine spießige Idylle, das Reihenhaus in Borgfeld, das Kaffee-und-Kuchen-Ritual mit ihren Eltern, Cluedo mit ihrem kleinen Bruder, die Besuche bei der Oma im Nachbarhaus, Julias Zimmer unterm Dach, in dem alles niedlich und putzig, artig und fein, akkurat und sauber war, genauso wie in den schnulzigen Teenie-Serien, die in Dauerschleife auf ihrem altersschwachen VHS-Rekorder liefen. Alles zusammen gab ihm, dem wohlstandsverwahrlosten Waisen, jene Familie, die er so nie gehabt hatte, und genau das machte es Karsten unmöglich, mit Julia Schluss zu machen. Es fühlte sich an, als müsste er mit der ganzen Familie Schluss machen, der einzigen Familie, die er noch hatte, nachdem seine eigene implodiert war.

Zunächst schien das alles für Carina in Ordnung zu gehen. Doch eines Tages, es war inzwischen Dezember geworden und nichts hatte sich geändert, das zweite Adventswochenende stand vor der Tür, Karsten lag mit Carina vor dem offenen Kamin im Wohnzimmer seines Elternhauses in der Benquestraße, es roch nach Holzfeuer, Glühwein und Sex, und alles war schön, vielleicht viel zu schön, fing sie unvermittelt an zu weinen.

»Ich halte das nicht mehr aus«, flüsterte sie. »Die Wochenenden sind so scheiße!«

Karsten spürte einen Kloß im Hals. Das schlechte Gewissen, das sowieso immer rumorte, besonders an den Freitagen und Sonntagen, überrollte ihn, und er sagte zu Carina, dass er mit ihr zusammen sein wollte, nur mit ihr, dass er mit Julia Schluss machen würde, dass es ihm aber unendlich schwerfiele, weil er Julia nicht verletzen wollte, dass sie, Carina, noch etwas Geduld haben müsste. Sie nickte, sagte aber nichts und lächelte auch nicht.

In der Folgezeit stritten Carina und Karsten viel. Sie weinte fast jeden Tag, an dem sie sich sahen. Sie konnte nicht verstehen, dass er es einfach nicht schaffte, mit Julia Schluss zu machen, Karsten verstand es ja selbst nicht, er zweifelte an sich und seinem Verstand, verzagte an seinen Gefühlen und seiner Unfähigkeit. Die gemeinsamen Wochenenden wurden seltener.

Es war nicht die beste Idee, sich in dieser Lage Matze anzuvertrauen, aber es war die Zeit, in der Karsten und Lorenz zu seinem Freundeskreis gehörten. Matze begriff herzlich wenig von Karstens seelischen Zwickmühlen, pfiff nur anerkennend durch die Zähne und sagte, er solle den Status quo genießen und es sich selbst nicht so schwer machen, heiraten wolle er ja wohl beide nicht, Karsten solle seinen Spaß haben. Die Erinnerung an Matzes Worte ließ Karsten noch heute die Faust in der Tasche zusammenballen. Und Matzes Verrat nur kurze Zeit später erzeugte einen abgrundtiefen Hass in Karsten, nicht auf Carina, er konnte sie nur zu gut verstehen, aber auch nicht nur auf Matze, sondern am meisten auf sich selbst.