Wahrheit oder Sylt

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5

Ein gebeugtes, hageres Männchen manövriert ihn in seinem Bett durch Gänge, in denen er sofort die Orientierung verliert.

Fahrstuhl. Mehr Gänge. Türen. Eine davon öffnet das Männchen, schiebt ein leeres, mit Plastikfolie überzogenes Bett hinaus und ihn hinein.

»Schwester kommt gleich. Alles Gute.« Das Männchen nimmt eine graue Mappe vom Fußende des Bettes und geht. Die Tür schließt sich, absolute Stille.

Auf einem Tisch in Reichweite eine Flasche Mineralwasser, ein eingeschweißter Plastikbecher. Begrüßungsritual, denkt er, wobei ihn eine Woge aus Angst überspült. Das abstrakte Aquarell über dem Tisch scheint auf ihn zuzukommen. Billiger Druck, schmuckloser weißer Rahmen. Blau und Orange verschwimmen zu undefinierbaren Formen und Figuren. Das Orange flackert. Das Orange droht. Das Orange schreit ihn an.

Er stöhnt und muss aufstoßen. Ein widerlich süß-saurer Geschmack flutet seinen Mund. Und plötzlich fühlt er etwas, eine Ahnung von Erinnerung. Gleißende Sonne, schnelle Bewegungen, schrilles Lachen, ein Impuls, Ambivalenz. Und Angst, immer wieder Angst.

6

Er taucht durch ein violettes Meer, in dem orangefarbene Wellen pulsieren. Seine Haut ist so glatt, dass das Violett nicht ganz zu ihm vordringen kann, sondern Millimeterbruchteile über seiner Haut abperlt.

Es ist angenehm in diesem Meer, ruhig und kühl.

Er ist unantastbar.

Unberührbar.

Mittendrin und doch wie in einem Kokon vor allem und jedem geschützt.

Aber hier gibt es sowieso nichts anderes als ihn und das pulsierende violett-orangefarbene Meer.

Er schreckt hoch und merkt, dass er einige Stunden geschlafen haben muss. Das Licht vor dem Fenster hat sich verändert. Unter dem Aquarell steht ein Tablett mit verschiedenen abgedeckten Tellern.

Dann erst bemerkt er den Mann. Er ist bullig wie ein Schwergewichtsboxer. Auf seiner Glatze glitzern Schweißperlen. Er steht neben dem Bett und blättert in einer Akte. Weiße unförmige Kleidung mit Namensschild, Blutdruckmanschette und Stethoskop um den Hals. Ein Pfleger.

»Na, ausgeschlafen?«, fragt der Mann.

Kopfschütteln. Das geht jetzt besser. Kein Dröhnen mehr. Doch sein Mund ist noch immer staubtrocken.

»Durst«, flüstert er.

Wortlos befreit der Mann den eingeschweißten Becher von der Plastikfolie, öffnet die Wasserflasche und gießt ihm ein. Mühsam rappelt er sich hoch und nimmt mit beiden Händen den Becher in Empfang. Gierig saugt er das Wasser ein.

»Gut gefeiert gestern, was?«

»Weiß nicht.«

»Ganz schön hinüber biste gewesen, als wir dich heut Nacht eingesammelt haben.«

Er starrt irritiert auf den spöttisch grinsenden Mund des Pflegers.

»Ich war der eine Sani«, fährt dieser fort. »Nebenjob. Sonst reicht das Geld nicht für die Insel der Schönen und Reichen.« Er malt ein paar Anführungszeichen in die Luft. »Solche wie dich haben wir in der Saison fast jeden Tag hier. Aber Junge, Junge, du warst mehr tot als lebendig. Und deine Freundin auch. Was habt ihr euch nur reingepfiffen, um alles in der Welt?«

»Ich weiß es nicht«, haucht er. »Ich kann mich an nichts erinnern.« Sani. Das Wort hallt in seinem Kopf nach. Sani, Sani, Sani.

»Schade auch, hätte mich ja mal interessiert.« Der Pfleger lacht. »Übrigens: Deine Schwester ist da. Soll ich sie reinlassen?«

7

Er hat keine Schwester. Auch wenn er momentan nicht viel weiß, das weiß er. Doch der Duft ist angenehm, vertraut. Er weiß, dass es Aromen von Jasmin, Pfirsich und Sandelholz sind. Er hat es einmal gegoogelt, vor Jahren, verliebt, unglücklich. Ein Parfum. Sunflowers.

Das Gesicht des Mädchens, das jetzt neben seinem Bett steht, kommt ihm vage bekannt vor. Kennt er sie? Sollte er sie kennen? Sani, Sani, Sani. Das Wort wabert in seinem Kopf. Dann trifft ihn die Erkenntnis wie ein Donnerschlag.

»Sunny!«, flüstert er.

»Wir haben uns solche Sorgen um dich gemacht, Sebastian!«, sagt sie und streicht ihm über die Wange.

»Ich lass euch dann mal alleine«, hört er den Pfleger aus dem Hintergrund. Das Mädchen bedankt sich höflich. Sekunden später fällt die Tür ins Schloss. Stille.

Das Mädchen hat lange, glatte blonde Haare, ist schlank und mag etwa 18 sein. Sie sieht übernächtigt aus. Dunkle Ringe zeichnen sich trotz Make-up unter ihren Augen ab.

»Sunny!«, sagt er nochmal.

Das Mädchen verzieht den Mund. »Das muss jetzt doch nicht mehr sein. Eigentlich möchte ich diesen Namen nie mehr hören.«

»Aber du bist Sunny, oder?«

»Ich bin Luna. Ich hab mich nur Sunny genannt. Erinnerst du dich nicht?«

»Nein!«

Sie runzelt die Stirn. »An was kannst du dich überhaupt erinnern?«

»Sylt. Ein Haus. Dünen. Ein paar Leute.«

»Ja und?«

»Nichts. Gar nichts. Bis eben wusste ich nicht einmal, dass ich Sebastian heiße. Kommt mir auch total fremd vor.«

»Nun ja.« Luna lacht leise. »Das könnte daran liegen, dass du gar nicht Sebastian heißt.«

»Aber …«

»Das war nur für den Pfleger«, flüstert sie. »Die wollten als Erstes deine Daten haben, Versichertenkarte und so. Ich hab gesagt, du hättest keine Karte, weil du privat versichert bist, und dass du Sebastian Krämer heißt und in Berlin wohnst.«

Er starrt sie verständnislos an. »Und warum das alles? Und wie heiße ich denn nun wirklich?«

»Karsten«, sagt Luna. »Du heißt Karsten. Und glaub mir, es ist besser, wenn niemand deinen richtigen Namen erfährt.«

»Warum?« Seine Stimme kiekst aufgeregt.

»Pst«, zischt Luna. »Nicht so laut. Der Pfleger meinte, du bräuchtest absolute Ruhe und dürftest dich nicht aufregen. Wenn du nicht ruhig bist, schmeißt er mich gleich wieder raus.«

»Karsten Straußberger«, flüstert Karsten. »Ich bin Karsten Straußberger, oder?«

Luna nickt. »So sieht’s aus.«

»Was ist passiert? Warum bin ich hier?«

»Du hattest einen Anfall.«

Karsten wartet auf weitere Ausführungen, doch Luna schweigt.

»Und warum bist du meine Schwester?«

»Sonst würden sie mir doch gar nichts erzählen. Wahrscheinlich dürfte ich gar nicht zu dir.«

»Clever.«

»Danke.«

Sie sieht hübsch aus, wenn sie lächelt, denkt er.

»Was ist alles geschehen gestern Abend?«, fragt Karsten. »Es war doch gestern? Oder?«

Luna nickt. Einen Augenblick lang scheint sie nachzudenken.

»Jetzt sag schon!«, drängt Karsten. »Hilf mir! Bitte!«

»Wir haben Party gemacht. Ziemlich viel getrunken. Flaschendrehen gespielt. Und dann ist alles außer Kontrolle geraten.«

Das Flackern. Es kommt schlagartig und aus dem Nichts. Ein eigenartiger Geruch sticht Karsten in der Nase. Eine bleierne Müdigkeit überfällt ihn. Luna verschwimmt vor seinen Augen, und Karsten taucht in bodenlose Schwärze.

8

Bremen. Stadtwerder

Davor

Ein Hauch von Verwesung. Süßlich und modrig. Er stieg aus der Kanalisation durch die Gullydeckel empor, vereinigte sich mit dem Geruch der Weser, die so wenig Wasser führte wie noch in keinem Sommer zuvor, und waberte schwer in der schmierigen Schwüle des Hochsommernachmittags. Über das Blau des Himmels hatte sich ein angegrautes Weiß gelegt, das trotz des Eindrucks von Schmutzigkeit grell in den Augen stach.

Hitze, Stille. Lethargisch, atemlos. Warten auf den großen Knall, das reinigende Gewitter, den erlösenden Regen.

Es hatte seit Wochen keinen Tropfen geregnet. Jeden Tag knallte die Sonne auf die Stadt und ließ die Menschen schmoren wie in einem Dampfgarer. Die Luft erhitzte sich auf fast 40 Grad im Schatten, und in den Nächten kühlte es kaum ab. Es wurde viel schwadroniert von einem Jahrhundertsommer, von Tropenhitze und Saharawinden. Jeden Tag meldeten die Medien neue Hitzerekorde und brachten Schauergeschichten von den Opfern der Temperaturen.

13. August, ein Donnerstag, Bremen.

An jenem Tag begann etwas, das wenig später Karstens Leben in Davor und Danach zerteilen wird wie mit einer Rasierklinge. Wie ein mit militärischer Präzision gezogener Scheitel.

Doch das weiß er in diesem Moment noch nicht, so wie Karsten im Moment sehr viel nicht weiß.

Karsten saß mit Lorenz direkt an der Weser am Strand des Café Sand und schwitzte. Abends wehte hier immer eine leichte Brise vom Fluss her. Doch jetzt am Nachmittag brannte die Sonne. Das Bier in den kleinen braunen Flaschen wurde schneller warm, als Karsten und Lorenz es trinken konnten.

Lorenz’ Handy piepste. »Die Mädels kommen«, sagte er nach einem kurzen Blick aufs Display. »Haben eine Überraschung für uns.«

»Aha. Und was?«

»Keine Ahnung. Überraschung eben.«

Lorenz und Karsten waren Freunde seit dem Kindergarten. Nach dem Abitur war Lorenz nach Heidelberg gezogen, um BWL zu studieren. Karsten war in Bremen geblieben und hatte halbherzig ein Jurastudium begonnen. Karsten sagte sich, dass die Entfernung ihre Freundschaft nicht verändert hätte, aber im Grunde wusste er, dass er sich da etwas einredete.

Nun waren Semesterferien. Lorenz war nach Bremen gekommen, um seinen Eltern Miriam vorzustellen, ein Mädchen, mit dem er seit Beginn des Sommersemesters zusammen war. Doch seine Eltern hatten den angekündigten Besuch vergessen und waren zum Golfen nach Schottland geflogen.

Wollte man Lorenz’ Eltern in einem Roman charakterisieren, dann müsste man nur diese Story erzählen, aber vermutlich würden dann alle denken: wie unrealistisch! Aber genau so waren Lorenz’ Eltern eben. Das hatte Karsten gedacht, als Lorenz und Miriam plötzlich vor ihm an der Gartenpforte standen.

 

Der Garten lag am Rande eines riesigen Parzellengebiets auf dem Stadtwerder, einer lang gestreckten Flussinsel in der Weser, mitten in Bremen. Nach dem Zweiten Weltkrieg war es den Gartenbesitzern wegen der Wohnungsnot erlaubt gewesen, kleine Häuser zum dauerhaften Wohnen hier zu bauen.

Die sogenannten Kaisenhäuser, benannt nach dem damaligen Bremer Bürgermeister Wilhelm Kaisen, standen noch immer. Wenn ein Eigentümer auszog oder starb, mussten sie eigentlich abgerissen werden. Fünf Jahre nach dem Tod von Karstens Großvater hatte sich noch keine Behörde gemeldet, also stand das Haus nach wie vor. Der Garten war, da sich niemand um ihn kümmerte, auf malerische Weise zugewachsen und verwildert, was gegen die Vorschriften des Kleingartenvereins war, aber zum Glück niemanden interessierte.

Karsten und seine Freundin Franziska verbrachten hier die heißen Augustwochen. Lorenz und Miriam mussten sich nicht lange bitten lassen und gesellten sich dazu.

Karsten wusste nicht, wo sein Vater den Sommer verbrachte, er tauchte jedenfalls nicht auf, und das war Kars­ten auch herzlich egal. Sein Vater ertrug es nicht, sich zu Hause in Bremen aufzuhalten, insbesondere nicht in dem großen alten Haus in Schwachhausen, in dem sich seine Frau das Leben genommen hatte, was er als Verrat empfand und als eine besonders niederträchtige Weise, ihn zu verlassen.

Bereits kurz nach ihrem Selbstmord, der in der besseren Bremer Gesellschaft für viel Klatsch und Tratsch gesorgt hatte, zog er sich von seiner Eigenschaft als Partner einer großen Kanzlei für Wirtschaftsrecht zurück.

Mit Vitamin B und dank des Todes eines Parteikollegen ergatterte er ein Bundestagsmandat und einen unwichtigen Posten in einem unwichtigen Ausschuss und verschwand aus Karstens Leben kaum weniger gründlich als kurz zuvor seine Mutter.

Wären nicht die monatlichen Überweisungen gewesen, die Karsten ein komfortables Leben ermöglichten, hätte er fast vergessen können, dass sein Vater noch lebte.

Sie fühlten sich vom Schicksal zusammengeführt, der Halb- oder eigentlich Quasi-Vollwaise Karsten, der von seinen Eltern versetzte Lorenz mit seiner Freundin Miriam, und Franziska, die den Sommer immer noch lieber in der stickigen Unibibliothek verbracht hätte, als zu ihrer Familie in den Harz zu fahren.

So ließen sie sich also zu viert durch den Sommer treiben, Franziska und Karsten, Miriam und Lorenz. Sie schliefen, bis die Hitze sie weckte. Sie hingen im Garten herum und tranken sich bereits nachmittags einen an. Sie gingen schwimmen im Werdersee, sie dösten zwischen den Bäumen, krochen dem Schatten nach, lauerten träge auf den Abend, machten die schwüle Sommernacht durch.

Plötzlich wurde es eine Spur kühler und dunkler. Als Karsten blinzelte, sah er, dass sich jemand zwischen ihn und die Sonne gestellt hatte. Die breite Silhouette vor dem blassen Himmel hatte die Arme in die Seiten gestützt und strahlte eine gewisse Bedrohlichkeit aus.

»Kasi! Renzo!«, sagte eine näselnde Männerstimme betont beiläufig. »Hätte ich mir ja denken können, dass ihr immer noch hier abhängt.«

Trotz der Hitze bekam Karsten eine Gänsehaut. Etwas in ihm begann sich zu verkrampfen. Es war Matze.

»Schau an, der Parvenü«, bemerkte Lorenz ebenso beiläufig.

»Leck mich, Renzo.«

Matthias Opdervelde war mit seinen Eltern zu Beginn der Oberstufe nach Bremen gezogen. Matzes Vater hatte sich vom einfachen Kaufmann zu einem der größten Konservenfabrikanten Deutschlands hochgearbeitet.

Über Lorenz’ Vater, spezialisiert auf die Vermittlung von Luxusimmobilien, hatte er sich und seiner Familie ein schlossähnliches Anwesen auf einem hektargroßen Parkgrundstück in Oberneuland gekauft. Da allen Opderveldes jegliches Gefühl für Understatement völlig fehlte, gingen sie bald ihrer Umgebung gewaltig auf die Nerven. In der Nachbarschaft, in den Klubs und Vereinen protzten sie so sehr herum, dass sich alle peinlich berührt abwendeten und niemand mit ihnen gesehen werden wollte. Auch Matzes Bemühungen um Anschluss und Freundschaften scheiterten über kurz oder lang an seinem übersteigerten Geltungsbedürfnis.

»Was machst du denn hier?«, fragte Karsten. »Ich dachte, du wärst jetzt in München.«

»Bin ich ja auch«, antwortete Matze. »Bin gestern mit einem Kumpel hochgefahren. Bin ich froh, aus dem Süden weg zu sein. Ihr glaubt nicht, wie heiß es dort war in den letzten Wochen.«

»Och, wir können auch nicht klagen«, warf Lorenz ein.

»Wir haben hier seit Wochen über 30 Grad«, fügte Karsten hinzu.

»Jaja«, fiel Matze Karsten ins Wort, »wir müssen jetzt nicht übers Wetter reden. Aber das hier …« Er breitete die Arme aus und ließ sie über Strand, Fluss und Menschen gleiten, »ist ein Scheiß gegen München. In München fühlt man sich wie im Dampfbad, jeden Tag, rund um die Uhr. Hier ist es richtig kühl dagegen.«

»Auch diesmal können wir nicht gegen dich anstinken, Matze«, sagte Karsten betont gelangweilt.

Matze winkte ab. »Ich sag ja nur, ihr könnt froh sein, nicht die Hitze im Süden erleben zu müssen. Das ist was ganz anderes, eine andere Liga, eine andere Klimazone.«

»Wir haben verstanden, Matze«, sagte Karsten. »Herzlich willkommen im Kühlschrank Deutschlands. Hoffentlich holst du dir keinen Schnupfen.«

Matze drehte sich suchend um die eigene Achse, winkte und pfiff mehrmals. Kurz dachte Karsten, er wolle einen Hund herbeirufen, doch dann tauchte ein Typ mit schwarzen zurück gegelten Haaren neben Matze auf. Er war nicht allein. Miriam und Franziska waren bei ihm. Sie trugen bunte, blumig gemusterte Sommerkleider, oben eng und figurbetont, unten weit und luftig. Karsten hatte die Kleider noch nie an den beiden gesehen.

Miriam ging direkt zu Lorenz und küsste ihn auf den Mund. Franziska setzte sich dicht neben Karsten, legte ihre Hand auf seine Brust und sagte: »Hallo, Schatz.«

Einen Moment herrschte Schweigen. Dann begann Matze meckernd zu lachen.

»Na so was!«, rief er laut. »Ich war ja echt gespannt auf die Freunde der beiden, aber dass das ausgerechnet ihr zwei Dünnbrettbohrer seid!«

Er klatschte sich grölend mit dem anderen ab, der etwas verdutzt daneben stand.

»Darf ich vorstellen, das ist Ricky, Kollege von der Uni in München. Ricky, sag hallo zu Kasi und Renzo, meinen alten Schulfreunden.«

»Hi«, sagte Ricky. »Ich bin Enrico, aber für dieses Genie hier ist der Name anscheinend zu anspruchsvoll.«

»Jaja«, winkte Matze ab. »Sei nicht so eine verdammte Pussy.«

»Stellt euch vor«, schaltete sich jetzt Miriam ein, »Matze und Enrico haben uns nach Sylt eingeladen, ist das nicht cool?«

»Und als wir gesagt haben«, warf Franziska ein, »aber nur mit unseren Männern, da haben sie sofort Ja gesagt, obwohl sie euch gar nicht kannten.«

»Aber ihr kennt euch ja doch!«, stellte Miriam fest. »Das ist ja umso besser.«

»Ja«, brummte Karsten, »ganz super.«

»Wenn ich mal aufklären darf«, sagte Matze. »Wir sind auf der Durchreise. Ich muss nach Sylt, nach unserem Haus dort sehen. Es ist eingebrochen worden, und jemand von der Familie muss dem Hausverwalter auf die Finger schauen, ihr versteht. Und als wir diese beiden bezaubernden Damen in der Stadt getroffen haben, haben wir sie kurz entschlossen gefragt, ob sie uns begleiten möchten. Wie ihr seht, sind eure Mädels begeistert von der Idee. Wenn ihr auch mitwollt, könnt ihr das gerne tun, aber ihr müsstet separat fahren, sechs Leute krieg ich nicht ins Auto. So ein Cayenne ist zwar geräumig, aber alles hat Grenzen.« Er meckerte erneut.

»Danke, kein Interesse«, brummte Karsten.

»Na dann, zu fünft passt’s!«

Miriam und Franziska wechselten Blicke.

»Also entweder kommen wir alle mit oder keiner.«

»Und natürlich fahren wir vier auch gemeinsam hoch«, fügte Miriam hinzu.

Was bedeutete: Karsten würde fahren müssen. Miriam hatte kein Auto, Franziska besaß einen 20 Jahre alten Polo, der schon bei Tempo 80 auseinanderzubrechen drohte, und Lorenz fuhr einen klassischen Mini Cooper, der nun wirklich zu klein war für vier Erwachsene mit Gepäck. Die einzige sinnvolle Möglichkeit war der Audi A6, die ehemalige Familienkutsche der Straußbergers, mit der Karsten gelegentlich durch die Gegend fuhr.

»Wir können auch einfach hier bleiben«, sagte Franziska leise zu Karsten, als Matze und Enrico bereits gegangen waren. »Wenn dir das mit Matze immer noch so viel ausmacht …«

»Nein, wir fahren!«, sagte Karsten bestimmt. »Soll er doch sehen, dass wir bessere Freunde sind, als er jemals hatte und haben wird. Aber wenn er es wagt, sich an eine von euch ranzuschmeißen, dann wird er bluten, dafür sorge ich!«

»Huch, wie männlich!«, sagte Franziska und lachte.

»Was ist denn los?«, fragte Miriam stirnrunzelnd, als sie Karstens Gesichtsausdruck bemerkte. »Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen.«

9

Westerland/Sylt. Nordseeklinik

Danach

Mit einem Ruck fährt er hoch. Er ist schweißgebadet. Sein Herz rast. Aber das Dröhnen in seinem Kopf ist weg, nur noch eine blasse Ahnung. Immerhin.

Luna, wo ist sie hin? Hektisch springt er auf und sackt beinahe vor dem Bett zusammen. Keuchend lehnt er an der Wand, spürt, wie das Pulsieren in seinen Ohren allmählich nachlässt, die Sternchen vor den Augen verschwinden. Vorsichtig tastet er sich an der Wand entlang, um die Ecke, zum Badezimmer.

Er erschrickt furchtbar, als wenige Sekunden nach der Beleuchtung lautstark die Lüftung anspringt.

Scheiße, warum bist du so nervös, denkt er. Du bist doch sonst nicht so schreckhaft. Als hättest du einen Geist gesehen, hatte Franziska gesagt. So fühlt er sich nun auch.

Luna. Sie wollte nicht mehr erzählen, hatte nur noch herumgedruckst. Er musste einfach eingeschlafen sein, noch während sie bei ihm saß. Warum? Warum ist er nur so dermaßen erschöpft?

Am Tisch setzt er die Mineralwasserflasche an die Lippen und trinkt sie aus, ohne abzusetzen. Einen Moment lang befürchtet er, alles wieder erbrechen zu müssen. Doch dann entfährt ihm ein fulminantes Rülpsen, und danach geht es ihm besser.

Sein Blick schweift durchs Zimmer. Auf dem Nachttisch liegt etwas. Er erstarrt. Ein Zettel.

Mit klopfendem Herzen beeilt er sich, seinen geschwächten Körper um das Fußende des Bettes herum zum Nachttisch zu manövrieren, stolpert über etwas, taumelt, flucht und fällt aufs Bett. Er erkennt seine Reisetasche, halb unters Bett gerutscht, doch dafür hat er jetzt keinen Blick. Er greift nach dem Zettel, ein kariertes Blatt Papier, DIN A4, aus einem Collegeblock gerissen, einmal in der Mitte gefaltet. Darauf mit blauem Kugelschreiber eine Mädchenschrift, unverkennbar, rund und verspielt, die i-Tüpfelchen sind kleine Kreise. Atemlos beginnt er zu lesen.

Lieber Karsten,

erhol dich noch gut und mach dir bitte keinen Kopf. Ich weiß, das ist leichter gesagt als getan, aber wir können die Dinge nun mal nicht rückgängig machen. Aber wir haben alles in Ordnung gebracht, auch wenn das nicht wirklich möglich ist, aber eben so gut es ging. Also mach dir keine Sorgen.

Schade, dass wir uns nicht unter anderen Umständen kennengelernt haben! Aber man trifft sich ja immer zweimal!? Egal, was kommt: Ich bin auf deiner Seite!

Alles Liebe,

Luna

Karsten lässt das Papier sinken und starrt zwischen den Lamellen der Jalousien hindurch. Ein Stück entfernt ist ein Kiefernhain zu sehen. Karsten betrachtet die sich im leichten Wind bewegenden Wipfel. Von den gleichförmigen Bewegungen geht eine hypnotisierende Wirkung aus.

Auf meiner Seite? Egal, was kommt? Keine Sorgen machen? Alles in Ordnung gebracht? Und dann auch noch: auch wenn das nicht wirklich möglich ist? Was soll das bedeuten? Was will sie damit sagen? Und was alles sagt sie nicht?

Karsten liest den Brief ein zweites Mal. Erst jetzt fällt ihm der Pfeil ganz unten auf. Er wendet das Blatt. Eine weitere Nachricht, mit einem anderen Kugelschreiber geschrieben, offenbar in Eile, unverkennbar die gleiche Handschrift, aber nicht mehr Mädchenschönschrift, sondern schlampig hingekritzelt.

Wenn er sich bislang von einer Mauer aus Angst umgeben gefühlt hat, rollt nun eine Panikwelle wie ein Tsunami auf ihn zu.

Auf der Rückseite steht:

Sag niemandem deinen Namen! Verschwinde von hier! Dein Auto steht neben der Klinik. Schlüssel ist in der Reisetasche. Wenn du den Autozug hinter dich gebracht hast, werden sie dich kaum noch finden können. Hau so schnell wie möglich ab!!!