Die bedeutendsten Staatsmänner

Tekst
Z serii: marixwissen
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

WILLY BRANDT (HERBERT ERNST KARL FRAHM)

Herbert Ernst Karl Frahm, uneheliches Kind einer 19-jährigen Verkäuferin und des Lehrers John Möller, lernte seinen leiblichen Vater nie kennen. Wesentlich geprägt wurde er durch seinen der Sozialdemokratie verbundenen Großvater, der ursprünglich Knecht auf einem Gutshof und dann Kraftfahrer in Lübeck war. Er besuchte das Johanneum in Lübeck, wo er als Einzelgänger und Außenseiter beschrieben wird. Früh fand er eine politische und wahrscheinlich auch gefühlsmäßige Heimat in der sozialistischen Jugendbewegung. Julius Leber, der später von den Nationalsozialisten ermordete SPD-Abgeordnete, war sein Mentor. Mit 17 Jahren trat Herbert Frahm der SPD bei, wechselte aber aus Frust über den politisch lahmen Kurs der Partei gegenüber den Nationalsozialisten zur linken Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP).

Nach dem Abitur 1932 begann er ein Volontariat bei einer Schiffsmaklerfirma, doch schon im März 1933 musste er wegen seiner vielfältigen politischen Aufgaben den Weg ins Exil antreten. Er floh von Travemünde aus mit einem Kutter nach Dänemark und dann nach Norwegen.

Im norwegischen Exil nahm er den Namen Willy Brandt an. Seinen Lebensunterhalt verdiente er sich als Journalist, er war beruflich oft unterwegs, reiste nach Frankreich, Spanien und Großbritannien. In Skandinavien lernte Brandt politischen Pragmatismus und Weltoffenheit kennen, was ihn für sein ganzes Leben prägen sollte. In dieser Zeit des Exils unterstützte er weiter die deutsche »Volksfront«, das heißt das gemeinsame Vorgehen der linken Parteien, und zwar der KPD und der SAP, gegen Hitler, wandte sich aber strikt gegen die Sowjetunion, die er als nicht sozialistisch ablehnte. Als Zeitungskorrespondent erlebte er den Spanischen Bürgerkrieg, was in ihm eine große Desillusionierung auslöste. Kurzfristig geriet er sogar in deutsche Gefangenschaft, wurde aber wegen seines geänderten Namens nicht enttarnt. Jedenfalls kehrte er um 1940 der SAP den Rücken und trat wieder in die SPD ein.

Als die Nationalsozialisten im April 1940 in Norwegen landeten, floh Brandt nach Schweden. Dort lernte er Bruno Kreisky und Gunnar Myrdal kennen, mit denen ihn eine lebenslange Freundschaft verband. Von Schweden aus unterhielt er auch lose Verbindungen zur deutschen Widerstandsbewegung.

Nach Kriegsende kehrte Brandt nach Deutschland zurück und arbeitete zunächst als Korrespondent bei den Nürnberger Prozessen und dann bei der norwegischen Mission in Berlin als Presseattaché. Das Amt des Bürgermeisters von Lübeck lehnte er ab, sein Ziel war Berlin. Da er in die Politik gehen wollte, nahm er wieder die deutsche Staatsbürgerschaft an und wurde 1949 für die SPD in den deutschen Bundestag gewählt, ein Jahr später wurde er ins Berliner Abgeordnetenhaus entsandt. Zu Kurt Schumacher, dem SPD-Nachkriegschef, hatte Brandt wenig Beziehung. Er hielt ihn für doktrinär und nationalistisch. Sein politischer Ziehvater und enger Freund dieser Jahre war Ernst Reuter, Berliner Oberbürgermeister seit 1947. Die beiden verbanden ein erklärter Antikommunismus und eine proamerikanische Haltung. Brandts politisches Ziel war das Amt des Oberbürgermeisters, doch 1952 und 1954 gelang es dem Berliner SPD-Vorsitzenden und Anhänger einer konservativen Parteilinie, Franz Neumann, Brandts Wahl zu verhindern.

Nach dem Tod des Berliner Bürgermeisters Otto Suhr wählte das Berliner Abgeordnetenhaus jedoch Willy Brandt, inzwischen ein sehr einflussreicher SPD-Politiker, zum Regierenden Bürgermeister. In dieser Funktion in der zweigeteilten Stadt sollte Brandt Weltberühmtheit erlangen. Den Sowjets gegenüber zeigte er Courage und ließ sich weder durch Nikita Chruschtschows Forderung nach Entmilitarisierung der Stadt noch durch den Bau der Mauer 1961 einschüchtern. Seine obersten Ziele waren die Sicherung der Lebensfähigkeit Berlins und gleichzeitig die Vermeidung aller Extremismen. Berlin war das »Schaufenster der freien Welt«. In diesen Jahren erkannte Brandt ganz klar, dass in der Frage des Ostens neue Wege gesucht werden mussten. Statt einer »Politik der Stärke« propagierte er eine »Politik der kleinen Schritte« – die Zeichen der Zeit standen auf Entspannung. Da auch Brandts Berater Egon Bahr für einen »Wandel durch Annäherung« eintrat, konnte schon 1963 ein erstes Passierscheinabkommen mit der DDR geschlossen werden, das es den Westberlinern ermöglichte, den Ostteil der Stadt zu besuchen.

1964 wurde Brandt als Nachfolger des verstorbenen Erich Ollenhauer zum Parteivorsitzenden der SPD und gleichzeitig zum Kanzlerkandidaten der Partei bestellt, schon 1958 war er Mitglied des Parteivorstandes geworden. Als solches nahm er auch entscheidenden Einfluss auf die Formulierung des neuen Parteiprogramms, das 1959 in Bad Godesberg beschlossen wurde. Es brachte eine völlige Neupositionierung der SPD als reformfähige und pragmatische Volkspartei.

In den Wahlkämpfen der folgenden Jahre (1965 und 1969) versuchte Brandt vergeblich, für die SPD einen Wahlsieg einzufahren und damit deutscher Bundeskanzler zu werden. Er führte seine Wahlkämpfe nach dem Vorbild John F. Kennedys, seinen politischen Widerpart Ludwig Erhard versuchte er durch außenpolitische Initiativen aus dem Feld zu schlagen.

In das Kabinett von Kurt-Georg Kiesinger, einer Koalition von CDU/CSU und SPD, trat Brandt – trotz anfänglichen Zögerns – im Dezember 1966 als Vizekanzler und Außenminister ein. Für diesen Schritt wurde er von der studentischen Protestbewegung angegriffen, die ihm vorwarf, die Ideale seiner Jugend zu verraten. Obwohl sein eigener Sohn Peter zu diesen Studentengruppen gehörte, vermochte Brandt zu ihnen keinen Kontakt zu finden. Mit Kurt-Georg Kiesinger kam es immer wieder zu Spannungen, weil dieser Brandts Ostpolitik nicht mittragen wollte. Auch Brandts Vorgänger im Auswärtigen Amt, der CDU-Minister Gerhard Schröder, hatte an der Hallstein-Doktrin festgehalten, die in den Nachkriegsjahren einen wichtigen Faktor darstellte, als Deutschland seine internationale Stellung erst festigen musste. Der vom Staatssekretär im Auswärtigen Amt Walter Hallstein geprägte Grundsatz, dass nur die Bundesrepublik Deutschland den Alleinvertretungsanspruch für Deutschland wahrnehmen könne, war nach Brandts Ansicht ein zu enges Korsett, um in der Ostpolitik Änderungen erzielen zu können.

Nach den Wahlen von 1969 bildete Brandt eine Koalitionsregierung mit der FDP (Freie Demokraten). Zum ersten Mal nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges war ein Sozialdemokrat deutscher Bundeskanzler geworden, und Brandt nahm die Zügel sofort fest in die Hand. Als eine der ersten Maßnahmen seiner Administration setzte er eine Aufwertung der deutschen Mark durch und unterzeichnete den Atomsperrvertrag. Er ließ keinen Zweifel daran, wohin der Weg gehen sollte. Mit griffigen Sätzen wie »Wir stehen nicht am Ende unserer Demokratie, wir fangen erst an« gewann er die Gunst der deutschen Wähler.

Schon in seiner Regierungserklärung setzte er wichtige Akzente in der Deutschlandpolitik und in der Ostpolitik, als er von »zwei Staaten in Deutschland« sprach. Ab 1970 konzentrierte er sich völlig auf die Außenpolitik, die eine Verbesserung des Verhältnisses zur kommunistischen Welt anstrebte. So akzeptierte er bei einem Besuch in Polen die Oder-Neiße-Grenze als polnische Westgrenze. Im Rahmen des Staatsbesuches in Polen kam es auch zum legendären Kniefall Brandts am Mahnmal für die Opfer des Nationalsozialismus im ehemaligen Warschauer Ghetto. Diese Geste Brandts wurde vielfach gelobt, fand aber auch zahlreiche Kritiker, wie auch seine Akzeptanz für den Status von Westberlin sehr kontrovers bewertet wurde. Die internationale Anerkennung für seine Versöhnungspolitik mit Osteuropa fand ihr sichtbares Zeichen in der Verleihung des Friedensnobelpreises an Willy Brandt im Jahr 1971. Er war der erste Deutsche nach 1945, der mit diesem Friedenspreis ausgezeichnet wurde.

Eher behutsam ging er das Problem DDR an, um nicht das Misstrauen des Westens auf den Plan zu rufen. Er traf sich 1970 in Erfurt mit dem DDR-Ministerpräsidenten Willy Stoph, zwei Jahre später wurde der deutsch-deutsche Grundlagenvertrag unterzeichnet. Bei den Neuwahlen des deutschen Bundestags 1972 erreichte Brandt einen fulminanten Sieg – er konnte das Vertrauen von 45,8 Prozent der Deutschen erringen, vor allem der Anteil der Jugend war überzeugend. Diese hieß seine Ostpolitik trotz des Radikalenerlasses, der kurz zuvor ergangen war, gut. 1973 besuchte Willy Brandt als erster deutscher Bundeskanzler Israel.

Unmittelbar nach der Wahl jedoch zeigten sich bei Brandt Abnutzungserscheinungen. Im Mai 1974 musste er seinen Rücktritt anbieten, da sein engster Mitarbeiter und Vertrauter im Kanzleramt, Günther Guillaume, als ostdeutscher Agent enttarnt worden war. Brandt hatte es der DDR nie vergessen, dass sie sein Vertrauen durch eine derartige Intrige missbraucht hatte. Historiker beurteilen die Guillaume-Affäre heute eher als Auslöser denn als Ursache für seinen Rücktritt, tatsächlich dürften eine gewisse Amtsmüdigkeit und Depressionen Brandts, auch wegen der parteiinternen Kritik an seinem unentschlossenen Führungsstil, der Grund gewesen sein.

Brandt blieb jedoch bis 1987 Vorsitzender der SPD, wohl auch um die innerparteiliche Opposition zu beruhigen. Zu seinem Nachfolger Helmut Schmidt pflegte er ein äußerst loyales Verhältnis, sympathisierte aber gleichzeitig mit dem linken Flügel der Partei, etwa in der Frage der Nachrüstung oder des Ausstiegs aus der Atomenergie. Nicht verhindern konnte er, dass die Grünen weiter Zulauf erhielten und ab 1983 im Bundestag vertreten waren.

1976 übernahm Willy Brandt den Vorsitz in der Sozialistischen Internationale, ein Jahr später präsidierte er auf Vorschlag des ehemaligen amerikanischen Verteidigungsministers Robert McNamara eine Nord-Süd-Kommission, die Vorschläge zugunsten der Dritten Welt ausarbeiten sollte. Dadurch stieg Brandts Ansehen in der ganzen Welt.

 

Brandt war ein überzeugter Europäer, der stets für eine Erweiterung eintrat, vor allem die Beteiligung Großbritanniens an der Europäischen Wirtschaftsunion war ihm ein Herzensanliegen. Es erfüllte ihn mit Stolz, nach 1979 dem ersten direkt gewählten Europäischen Parlament anzugehören.

In den 1980er-Jahren reiste er viel, auch im Auftrag der Sozialistischen Internationale. 1984 besuchte er Kuba und Fidel Castro, traf sich mit Deng Xiaoping und Michail Gorbatschow. 1990/1991 versuchte er vergeblich, den Ausbruch des Golf-Krieges zu verhindern.

Einen privaten Neuanfang machte Brandt 1983, als er in dritter Ehe die Historikerin und Publizistin Brigitte Seebacher heiratete. Von 1941 bis 1948 war er mit Carlotta Thorkildsen verheiratet gewesen, aus dieser Ehe stammte eine Tochter. Aus seiner zweiten Ehe mit der verwitweten Rut Bergaust waren drei Söhne hervorgegangen.

Eine persönliche Genugtuung bedeuteten dem Altkanzler die Ereignisse des Jahres 1989. Schon im Spätsommer dieses Jahres hatte er gemeint, dass die Politik der »kleinen Schritte« überholt wäre und die Deutschen selbstverständlich zusammengehörten. Am 10. November erklärte er in Berlin angesichts des Falles der Mauer: »Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört.«

1990 wiederholte er seine Reise nach Erfurt: Diesmal fuhr er in ein freies Land. Im selben Jahr wurde er nach den Wahlen Alterspräsident des deutschen Bundestages und nahm dort die Gelegenheit wahr, seinen Parteigenossen die Leviten zu lesen, vor allem in Richtung Oskar Lafontaine. Er ließ keinen Zweifel daran, dass es für ein geeintes Deutschland nur einen Regierungssitz geben könne, nämlich Berlin.

Brandts Leben umfasst das 20. Jahrhundert in all seinen politischen Höhen und Tiefen, als aktiver Politiker war er Kalter Krieger und Entspannungspolitiker, er war ein Mann, dem vieles glückte, der Entwicklungen intuitiv erfasste und seine Politik danach ausrichtete – nicht der große Theoretiker, der langfristige Konzepte verfolgte, sondern ein Politiker, der auch seinen Emotionen nachgab. Es war ihm vergönnt, einen wichtigen Beitrag zur Aushöhlung des kommunistischen Systems zu leisten, aber auch zur Aussöhnung der kritischen Jugend mit dem Deutschland der 70er- und 80er-Jahre.

Wirtschaft und Inneres waren nicht seine Politikfelder, seine Leidenschaft galt der Außenpolitik, eine Leidenschaft, die er mit seinem Freund, dem österreichischen Bundeskanzler Bruno Kreisky, teilte. Brandt war ein Mann der großen symbolischen Gesten, der einprägsamen Statements, wie: »Wir wollen mehr Demokratie wagen.« Das behielten die Menschen im Gedächtnis. Brandt engagierte sich, offerierte seinen Wählern Visionen, für die man sich begeistern konnte, auch wenn die Realität oft nachhinkte. Er war ein politischer Pragmatiker, der sich zu John F. Kennedys Grundsatz der »compassion« bekannte, wie er Kennedy überhaupt in vielem kopierte.


Werke (Auswahl)

Krieg in Norwegen (1942)

Norwegens Freiheitskampf 1940–1945 (1948)

Mein Weg nach Berlin (1960)

Begegnungen mit Kennedy (1964)

Friedenspolitik in Europa (1968)

Notizen zum Fall G.

Über den Tag hinaus (Erinnerungen 1974)

Begegnungen und Einsichten. Die Jahre 1960–1975 (1976)

Links und Frei. Mein Weg 1930–1950 (1982)

Der organisierte Wahnsinn. Wettrüsten und Welthunger (1985)

Erinnerungen (1989)

ARISTIDE BRIAND

Aristide Briand, der erste Staatsmann, der den Gedanken einer europäische Union aufgegriffen hatte, wurde als Sohn des Besitzers einer Hafenkneipe mit dem Namen »Croix Verte« in Nantes geboren. Er zeichnete sich als Schüler nicht durch hervorstechenden Fleiß aus, aber seine schnelle Auffassungsgabe und sein brillantes Gedächtnis ließen ihn für ein Studium geeignet erscheinen, mit dem er mit 16 Jahren im Lycée in Nantes begann. Dort lernte er den Schriftsteller Jules Verne kennen, der seine brillante Auffassungsgabe hoch schätzte und ihn in seinem Roman »Zwei Jahre Ferien« als Vorbild für seine Hauptfigur Briant nahm, einen Anführer von Jugendlichen, der sich durch Intelligenz und Wagemut auszeichnet.

1883 begann Briand in Paris als Werkstudent Jura zu studieren und ließ sich nach seinem Examen in Saint-Nazaire als Anwalt nieder. 1892 musste er die Stadt wegen eines Skandals – er war mit einer verheirateten Frau in einer angeblich strafbaren Situation erwischt und vor Gericht gestellt worden – verlassen und ging nach Paris. Das Urteil gegen ihn wurde jedoch vom Kassationsgerichtshof aufgehoben.

In der französischen Hauptstadt schrieb er für das antiklerikale Journal »La Lanterne« und für die linken Zeitschriften »Le Peuple« und »Petite République«, doch es war die Politik, die ihn faszinierte und für die er sich begeisterte. Sein großes Vorbild wurde der Gewerkschaftsführer Fernand Pelloutier, der als »Theoretiker des Generalstreiks« bezeichnet wurde. Briand profilierte sich als glänzender Redner bei sozialistischen Versammlungen, er machte sich einen Namen als Teilnehmer bei Kongressen. Der Parteidisziplin wollte er sich allerdings nicht unterwerfen, dazu war er ein zu unabhängiger Geist und auch kein tief überzeugter Marxist. Dreimal, nämlich 1889, 1893 und 1898, versuchte er bei den Wahlen einen Parlamentssitz zu gewinnen, doch jedes Mal vergeblich.

Als sich die verschiedenen sozialistischen Gruppen Frankreichs auf Drängen der Internationale in einer Partei einigten, gehörte er mit Jean Jaurès, mit dem er 1904 die Zeitschrift »L’Humanité« gründete, zu den Mitinitiatoren. Doch bald beschritt er einen anderen Weg, der ihn in die Führungsschicht der bürgerlichen Dritten Republik führen sollte.

1901 wurde er als Vertreter des Departements Loire zum Mitglied der französischen Nationalversammlung gewählt und fand in der Volksvertretung das für ihn ideale Forum, um seine Vorstellungen zu artikulieren. Er wurde ein glänzender Vertreter des parlamentarischen Diskurses.

Seine erste große Aufgabe war die Erstellung eines Berichts über eine Gesetzesvorlage zur Trennung von Staat und Kirche. Von konsequenten liberalen Vorstellungen beseelt, ging er an diesen Auftrag heran, weder die religiösen Gefühle der Bevölkerung noch die Freiheit der Kultusausübung sollten angetastet werden. Es gelang ihm, sowohl die Rechten als auch die Linken zu beschwichtigen. Damals nannte ihn sein Kollege in der Kammer, Maurice Barrès, ein »Monstrum an Elastizität«. Seine Stärken waren ein hoch entwickeltes diplomatisches Geschick und seine überzeugende Bereitschaft zum Interessensausgleich. Elfmal wurde er in der Folge zum Präsidenten der Kammer gewählt.

1906 wurde Briand erstmals ins Kabinett berufen, und zwar als Kultusminister, wo er bei der Handhabung des von ihm nachhaltig beeinflussten Gesetzes der Trennung von Staat und Kirche getreu seinen liberalen Vorstellungen handelte. In den folgenden Jahren wurde Briand 26-mal mit einem Regierungsamt betraut, 15-mal leitete er das auswärtige Ressort, elfmal stand er als Ministerpräsident an der Spitze des Kabinetts.

In den Kriegsjahren 1915 bis 1917 Ministerpräsident, forderte er als Kriegsziele Frankreichs die Annexion des Rheinlandes und des Saargebietes. Noch bis zur Londoner Konferenz von 1921, die sich mit den deutschen Reparationszahlungen befasste, hielt er an den Bestimmungen des Versailler Vertrages fest. Ein Jahr später wollte er eine Verständigungspolitik (rapprochement) mit Deutschland einleiten, doch Alexandre Millerand, damals Präsident der Republik, desavouierte seine Politik, und Briand demissionierte.

1925, wieder zum Minister für auswärtige Angelegenheiten bestellt, nahm er seine Verständigungspolitik abermals auf. Nun versuchte er, in Europa ein System der kollektiven Sicherheit zu schaffen, in dem auch Deutschland seinen Teil leisten sollte. Es sollte sich freiwillig verpflichten, den Status quo, also den Vertrag von Versailles mit all seinen für Deutschland teils demütigenden Bedingungen, zu wahren.

Der erste Schritt zu einem solchen System war der Vertrag von Locarno, der am 16. Oktober 1925 unterzeichnet wurde. Dieser Vertrag garantierte die französisch-deutschen und belgisch-deutschen Grenzen und sah einen gegenseitigen Beistandspakt vor. Im Dezember 1926 erhielt Briand gemeinsam mit seinem deutschen Amtskollegen Gustav Stresemann den Friedensnobelpreis.

Schließlich schloss er am 27. August 1928 mit dem amerikanischen Staatssekretär Frank Billings Kellogg den viel zitierten Briand-Kellogg-Pakt, der den Krieg ächtete. Obwohl diesem Pakt 60 Staaten beitraten, hatte er nur moralischen Wert und keine ideologischen Konsequenzen.

Inspiriert von der paneuropäischen Idee des Österreichers Richard Coudenhove-Kalergi, legte Briand ein Memorandum über die Schaffung einer europäischen Union vor. 1927 wurde er Präsident der von Coudenhove-Kalergi gegründeten Paneuropa-Bewegung. 1929 präsentierte er beim Völkerbund einen Zollunionspakt zwischen Frankreich, Deutschland und den Nachbarstaaten, eine sehr weit gehende Vereinbarung, die auch die Sowjetunion einschließen sollte. Sein präzise ausgearbeiteter Vorschlag für eine europäische Konferenz, den er 1930 unterbreitete und der einen gemeinsamen Markt vorschlug, hatte wieder großen Erfolg.

Doch Europa und die Mächte waren noch nicht reif für eine gemeinsame Politik, Briands und damit Coudenhove-Kalergis Ideen scheiterten am Egoismus der Nationalstaaten, an der eklatanten Schwäche des Völkerbundes und an der Unmöglichkeit einer allgemeinen Abrüstung. Das nationale Interesse der einzelnen Staaten war noch immer stärker als die gemeinsamen Ziele, was auch beim Scheitern einer deutsch-österreichischen Zollunion von 1931 offenkundig wurde. Damit war Europa um eine Friedenshoffnung ärmer. Erst die Römischen Verträge von 1957 nahmen Briands Ideen wieder auf.

Nachdem Briand bei den Präsidentschaftswahlen von 1931 gegen Paul Doumer unterlegen war, zog er sich ins Privatleben zurück.

Der »pèlerin de la paix«, der »Wanderprediger des Friedens«, wie Aristide Briand genannt wurde, war zu dieser Zeit durch seine auf Ausgleich gerichtete Politik zwar visionär, aber nicht modern, denn sie entsprach nicht dem Zeitgeist des politischen Diskurses. Vertrauen statt Misstrauen gehörte noch nicht zum Vokabular der europäischen Politik. Wie sein deutscher Amtskollege Stresemann war auch Briand Freimaurer, in Paris gehörte er der Loge »Le Chevalier du Travail« an.


Werke

Frankreich und Deutschland