Das eigene Maß

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Industriell verarbeitete Nahrung

Ob Fertiggerichte, Süßspeisen, Fruchtgetränke oder Wurstwaren – stark verarbeitete Lebensmittel mit ihrem hohen Anteil an Auszugsmehl, Einfachzucker und industriell verarbeiteten Fetten spielen eine große Rolle in der heutigen Ernährung. Viele dieser Produkte werden angereichert mit Zusatzstoffen, die Geschmack, Aussehen, Verarbeitung und Haltbarkeit verbessern sollen, wie Süßungsmittel, künstliche Aromen, Backtriebmittel oder Farb- und Konservierungsstoffe. Unser Geschmack wird dadurch mit starken Reizen konfrontiert, auch eine beispielsweise besonders schmelzende Konsistenz regt den Appetit an. Für die Nahrungsqualität und unsere Gesundheit bedeuten diese Lebensmittel allerdings eine Verschlechterung. Denn stark bearbeitete, weiche und wenig voluminöse Nahrung kann schnell in großen Mengen verzehrt werden – noch bevor der Körper eine erste Sättigung registriert. Gleichzeitig sind industriell gefertigte Lebensmittel oft energiereicher, so dass in kürzerer Zeit umso mehr Kalorien aufgenommen werden.35

Claudia Niggemeier und Almut Schmid, Ernährungswissenschaftlerinnen der Universität Paderborn, untersuchten 2015, wie sich der Konsum hoch verarbeiteter Lebensmittel auf die Gesundheit von Kindern und Erwachsenen auswirkt. Das Ergebnis war eindeutig: Je mehr Fertigprodukte die Personen zu sich nahmen, desto übergewichtiger waren sie.36, 37 Denn hohe Fett- und Zuckeranteile werden von unserem Gehirn besonders „belohnt“, weil energiereiche Nahrung in früheren Zeiten das Überleben sicherte. Mit Zucker angereicherte Produkte führen zu starken Blutzuckerschwankungen, die wiederum Heißhungeranfälle auslösen können. Daneben gehen im Verarbeitungsprozess lebensnotwendige Nährstoffe, Vitamine, Mineral- und Ballaststoffe verloren, so dass der Körper selbst bei mehr als ausreichender Energie unter Umständen immer noch nicht gesättigt ist – und nach mehr verlangt.

Die süße Versuchung

Vom Schoko-Croissant am Morgen über die Kekse im Büro und den Kuchen zum Kaffee bis zu Gummibärchen abends vor dem Fernseher – so natürlich die Vorliebe für Süßes ist, so unnatürlich hoch ist inzwischen der Zuckeranteil in unserer Nahrung. Sogar industriell verarbeitete Nahrungsmittel, die auf den ersten Blick gar nicht sehr süß wirken, enthalten oft erstaunlich hohe Zuckermengen, wie Tiefkühlpizza oder Toastbrot, Salatsaucen oder Ketchup. Problematisch ist, dass wir uns dadurch an immer mehr Zucker gewöhnen. Die Empfindlichkeit gegenüber dem extremen Geschmack lässt nach, wir süßen umso stärker nach.

Die Einfachzucker in Süßigkeiten, Eis oder Gebäck können direkt verwertet werden, geben schnell Energie und wirken aufmunternd. Was für Leistungssportler sinnvoll sein kann, wird im Überangebot des Alltags eher zum Verhängnis. Denn körperlich richtet zu viel Zucker Schaden an: Der Blutzuckerspiegel schnellt in die Höhe, die Bauchspeicheldrüse schüttet Insulin aus, um den Zucker verfügbar zu machen. Ebenso schnell aber fällt der Blutzuckerspiegel wieder, und das Insulin steht ohne Nachschub da – neuer Süßhunger entsteht. Mit der Zeit erschöpft sich die Bauchspeicheldrüse, der Körper legt überschüssige Energie in Fettreserven an. Ein dauerhaft hoher Zuckerkonsum kann so zu Diabetes und Übergewicht führen.

Aus diesem Grund fordert die gemeinnützige Verbraucherorganisation foodwatch e. V., dass stark gezuckerte Getränke nach dem Vorbild Großbritanniens auch in Deutschland mit einer Sonderabgabe belegt werden, damit die Hersteller den Zuckergehalt reduzieren. Künstliche Süßstoffe sind allerdings auch keine Lösung: Sie verstärken den Süßhunger eher noch. Der Körper erwartet durch den Geschmack einen Energieschub und wird enttäuscht – was dazu anregen kann, noch mehr zu essen. Studien deuten darauf hin, dass sich synthetische Süßstoffe negativ auf Stoffwechsel, Appetit, Geschmackswahrnehmung und Darmflora auswirken und damit sogar eher zu einer Gewichtszunahme führen könnten.38

Verzichten wir eine Weile auf süße Speisen und Fertigprodukte, die viel Zucker enthalten, erholt sich das Geschmacksempfinden. Schon wenig Süße nehmen wir wieder viel stärker wahr, die Gier nach Zucker sinkt. Heißhungerattacken oder auch extreme Energietiefs, wie das berüchtigte „Suppenkoma“, schwinden, der Energiehaushalt wird stabiler.

Lebensmittelwerbung

Marketing und Werbung spielen eine nicht geringe Rolle dabei, wenn Konsumentinnen und Konsumenten nach Produkten greifen, die weder besonders gesund noch gut verträglich sind. Die warme Tasse Kakao an einem deprimierenden Regentag, Karamellbonbons vom Großvater oder der spritzige Aperitif mit Freunden im Straßencafé: Dass wir Nahrung und Getränke mit Emotionen und Erinnerungen verbinden, macht sich die Lebensmittelwerbung häufig zunutze, indem sie die Produkte mit einem bestimmten Ambiente und Erlebnisqualitäten verknüpft. Was als „Wohlfühlnahrung“ oder „Soul Food“ angepriesen wird, ist oft energiereich und schnell sättigend (und kann dadurch tatsächlich beruhigend wirken).

Ein Großteil der täglichen Werbung entfällt auf Lebensmittel – und gerade aufwändig hergestellte und ungesunde Produkte werden besonders stark vermarktet: die knackigen Chips in der neuesten Geschmacksrichtung, die fluffige Pizza mit extra Käse, der noch cremigere Schokopudding – das Marketing suggeriert, dass die Verarbeitung Geschmack und Genuss immer weiter verbessert.

Besonders perfide sind die Marketing-Methoden der Lebensmittelindustrie bei Produkten, die sich gezielt an Kinder wenden: Wurst in Bärchenform gepresst, vergoldete Waffelsternchen zum Joghurt, lustige Spielzeuge als Zugabe. Das Angebot an industriellen Lebensmitteln für Kinder besteht zu einem großen Teil aus Snacks und Süßigkeiten. So warnt die Verbraucherorganisation foodwatch: 90 Prozent der Lebensmittel und Getränke, die für Kinder beworben werden, enthalten zu viel Fett, Salz und Zucker.39 Dabei sind in Deutschland 15 Prozent der Kinder übergewichtig, sechs Prozent gelten als adipös (fettleibig).40 Einer der Gründe dafür ist die Fehlernährung: Kinder nehmen zu viel Süßes, fettige Snacks und Fleisch zu sich, trinken zu viel zuckerhaltige Getränke. Unverarbeitete pflanzliche Nahrung wie Obst und Gemüse kommen dagegen zu kurz.

Die Lebensmittelwerbung trägt über die diversen Kommunikationskanäle gezielt dazu bei, dass Kinder neugierig auf die Industrieprodukte werden und sie probieren wollen. Die Fähigkeit, die Werbebilder und -botschaften einzuordnen, untersuchte 2013 eine Studie mit österreichischen Grundschulkindern. Dabei zeigte sich, dass deren Kompetenz, mit Lebensmittelwerbung umzugehen, nicht allein von ihrem Alter abhing. Faktoren wie ihr Gewicht, ihre Körperwahrnehmung, das Selbstbewusstsein und die üblichen Ernährungsgewohnheiten der Kinder spielten dabei ebenfalls eine Rolle.41

Zahlreiche medizinische Fachgesellschaften bis hin zur WHO fordern deshalb, dass an Kinder gerichtetes Marketing nur für gesunde Lebensmittel erlaubt sein sollte.

Fazit: Lebensmittel werden aus ernährungsphysiologischen, psychologischen, sinnlichen, kulturellen und vielen anderen Gründen gewählt. Daran zeigt sich, wie komplex die Faktoren sind, die unsere Ernährung, unsere Gesundheit und ernährungsbedingte Krankheiten bestimmen. In den Industrienationen nehmen die Unzufriedenheit mit dem eigenen Essverhalten sowie ernährungsbedingte Erkrankungen und Essstörungen zu. Neben dem Gesundheitsaspekt bestimmen viele weitere Faktoren unsere Nahrungsauswahl und unser Essverhalten – so auch das zunehmende Angebot, die industrielle Verarbeitung und die Bewerbung von Lebensmitteln. Verbraucherinnen und Verbraucher sind mit einer großen Menge an Produkten konfrontiert, denen es aber teilweise an Qualität fehlt und die natürliche Prozesse wie Hunger und Sättigung aushebeln können.

2. LEBEN IM ÜBERFLUSS


Von „all you can eat“ bis „all you can netflix“ – unser Ess- und Konsumverhalten wird zwar von vielen individuellen Faktoren bestimmt, aber auch von gesellschaftlichen Entwicklungen.

Unsere moderne Gesellschaft befindet sich in ständiger, immer schnellerer Veränderung: Das Angebot an Lebensmitteln, Produkten, Dienstleistungen und damit verbundenen Möglichkeiten wächst stetig, Digitalisierung und Globalisierung erhöhen die Taktzahl. Innerhalb weniger Jahrzehnte – von der Nachkriegszeit bis heute – hat sich ein Wandel vom Mangel zum Überfluss vollzogen.

Neben der Ernährung zeigen sich Parallelen in anderen Bereichen: Auch bei Konsumgütern, in der Mediennutzung und dem Informationsangebot ist in kurzer Zeit ein Übermaß entstanden, bei dem es schwerfallen kann, mit jeder weiteren Entwicklung Schritt zu halten. Immer wieder müssen wir uns neu damit auseinandersetzen, was wir auf welche Weise nutzen möchten und welches Maß für unser Wohlbefinden förderlich und individuell passend ist.

Fehlen uns diese persönlichen Maßstäbe, ist der Umgang mit dem Angebot oft eher spontan und unreflektiert: vom unkontrollierten Aufnehmen über eine Verweigerungshaltung bis zum Schwanken zwischen den beiden Extremen. Das erinnert an die Erscheinungsbilder von Essstörungen: An Binge Eating mit seinen unkontrollierten Heißhungerattacken, an Anorexie mit ihrer Essensverweigerung oder an Bulimie mit ihren Essanfällen und anschließendem Erbrechen.

 

Wohl nicht zufällig verweisen Sprachbilder zu Zeitgeist-Phänomenen auf krankhaftes Essverhalten: etwa „Binge Watching“ – also das endlose Konsumieren von Filmen und Serien über Streaming-Dienste – an „Binge Eating“. Oder der Ausdruck „Bulimisches Lernen“ für die Art und Weise, mit der sich beispielsweise Studierende in kürzester Zeit große Mengen Lernstoff „einverleiben“, um ihn punktgenau zur Prüfung wieder von sich zu geben.

Umgekehrt spiegeln reale Essstörungen neben individuellen Konflikten auch gesellschaftliche Phänomene wider, wie es der Psychotherapeut Georg Milzner in Bezug auf seelische Erkrankungen beschreibt:

„Gesellschaftlich relevante Krankheitsbilder lassen erkennen, was im Unbewussten einer Lebensform gärt und arbeitet. Sie verweisen auf die Fehler dieser Lebensform, die von den Betroffenen nicht beachtet werden oder sie in ihrem Handlungsspektrum überfordern.“42

Essstörungen und ihre Erscheinungsbilder können also auch auf problematische Aspekte unseres täglichen Lebens hindeuten, die uns im Hinblick auf unser Essverhalten und dessen gesundheitliche Auswirkungen krank machen können. Wenn inmitten des Überangebots und der individuellen Wahlmöglichkeiten dann ein persönlicher Filter und eigene Auswahlkriterien fehlen, entsteht Überforderung. Welche Auswirkungen das haben kann, zeigt sich auch im Ernährungsbereich mit seinen gegenwärtigen Ausprägungen: Zwischen all den Angeboten, den Informationen und Regeln zur Ernährung, zu diversen Produkten und Lebensstilen kann sich der Einzelne orientieren – unter Umständen aber auch verlieren.

DER ERNÄHRUNGSMARKT

„So is(s)t Deutschland “ – unter diesem Titel befragte das Institut für Demoskopie Allensbach 2019 im Auftrag von Nestlé 1.636 Personen zwischen 14 und 84 Jahren. Die Studie zeigt: Das Ernährungsverhalten der Menschen in Deutschland hat sich innerhalb der letzten zehn Jahre stark verändert.43 Das hängt zum einen mit dem wachsenden Lebensmittelangebot, der Vielfalt und Verfügbarkeit von Speisen und Getränken zusammen, aber auch mit gesellschaftlichen Veränderungen.

In unserem Alltag lösen sich feste Strukturen mehr und mehr auf, er ist häufig von Zeitmangel geprägt. Dadurch wird unsere Esskultur immer individueller und differenzierter: Die Essenszeiten, die Auswahl der Gerichte und ihre Zubereitung sind weniger festgelegt und variieren von Haushalt zu Haushalt. Familien finden sich immer seltener mehrmals täglich gemeinsam am Esstisch ein, weil sich der Tagesablauf der einzelnen Familienmitglieder voneinander unterscheidet: Berufstätige essen zunehmend in der Kantine oder auswärts, Kindertagesstätten oder Ganztagsschulen bieten Mittagessen vor Ort. Aßen 2009 noch 54 Prozent der Befragten mittags zuhause, waren es zehn Jahre später nur noch 42 Prozent. Mahlzeiten passen sich zunehmend an Arbeitszeiten oder Freizeitaktivitäten an und sind nicht mehr an feste Orte gebunden. Durch all diese Veränderungen entstehen diverse Ernährungsstile mit teilweise gegenläufigen Entwicklungen, wie wir in diesem Kapitel sehen werden.

Von Fressmeilen & Butterbergen

Weit mehr als 100 000 Nahrungsmittel werden heute im Markt angeboten – während wir laut Ernährungswissenschaftlern nicht mehr als 100 verschiedene bräuchten, um uns abwechslungsreich und gesund zu ernähren.44 Welche Fülle und Marktmacht die Ernährungsindustrie heute besitzt, zeigt sich auch anhand der Umsatzzahlen: Die Hersteller von Nahrungs-, Futtermitteln und Getränken zählen laut Statistischem Bundesamt mit einem jährlichen Umsatz von rund 185 Milliarden Euro im Jahr 2019 zu den fünf mächtigsten Industrien Deutschlands. Den größten Anteil daran erzielt immer noch der Bereich „Schlachten und Fleischverarbeitung“.45 2019 gaben private Haushalte für Nahrungsmittel und alkoholfreie Getränke insgesamt mehr als 180 Milliarden Euro aus.46

Gleichzeitig wird aber fast ein Drittel der Lebensmittel umsonst produziert – so wie die schon erwähnten „Butterberge“, die teilweise vernichtet werden mussten. Eine Studie der Gesellschaft für Konsumforschung aus 2017 ergab, dass in nahezu allen der 7000 befragten Haushalte täglich Lebensmittel im Müll landen.47 Insgesamt bis zu 18 Millionen Tonnen Lebensmittel werden laut einer WWF-Analyse zufolge jährlich in Deutschland verschwendet – 10 Millionen davon wären durch besser geplante Einkäufe, richtige Lagerung und konsequentere Verwendung einzusparen.48

Allein die Privathaushalte kommen auf sechs bis sieben Millionen Tonnen, ergab eine Studie der Uni Stuttgart. Pro Kopf sind das etwa 85 Kilogramm jährlich – was etwa dem durchschnittlichen Gewicht eines erwachsenen Mannes entspricht.49 Niederländische Forscher sahen auch einen Zusammenhang zwischen dem Wohlstand von Verbrauchern und der Menge an weggeworfenem Essen: Die Verschwendung stieg ab einem bestimmten Lebensmittel-Budget schnell an.50 Ein realistisches Maß dafür, was sie benötigen und verarbeiten können, scheint vielen Gesellschaften abhandengekommen zu sein.

Jochen Brühl, Chef der Tafel Deutschland e. V., die überschüssige Lebensmittel sammelt und an Menschen in Not verteilt, fordert daher dazu auf, Mindesthaltbarkeitsdaten nicht als Verfallsdaten zu verstehen. Er wolle „die Menschen ermutigen, wieder auf ihre Sinne zu vertrauen, zu riechen, zu schmecken, einfach zu probieren, ob etwas noch gut ist oder nicht.“51 Eine Orientierung an eigenen Maßstäben, an der eigenen Urteilskraft – statt an einer aufgedruckten Zahl.

Neben der Lebensmittelindustrie verzeichnet auch die Gastronomie steigende Umsätze: 2019 lag ihr Umsatz in Deutschland bei über 61 Milliarden Euro.52 In den Innenstädten hat sie die bisherige Nummer eins, die Bekleidungsgeschäfte, verdrängt. Immer mehr Kaffeeläden, Bäckereien oder Systemgastronomie-Ketten siedeln sich in den Fußgängerzonen an und bilden so genannte „Fressmeilen“. Auf den weiteren Plätzen folgen bei den City-Immobilien Drogeriemärkte, Kosmetikläden und Fitness-Studios.53 Dieser Branchenmix spiegelt damit ziemlich genau das Spannungsfeld wider, in dem sich Konsumentinnen und Konsumenten heute bewegen: zwischen Essen, Schönheit und Gesundheit.

Snack to go – vom Dauerfuttern

Der Geruch frischer Croissants oder eine appetitanregende Werbung: Nicht selten wird der Impuls zu essen spontan ausgelöst. In unserer gegenwärtigen Esskultur sind Speisen und Getränke praktisch permanent verfügbar – im gut gefüllten Kühlschrank zu Hause ebenso wie an Imbiss-Ständen oder in Fast-Food-Läden. Selbst Tankstellen bieten rund um die Uhr Schokoriegel und warme Gerichte an. Die Zahl der Menschen, die angaben, spontan zu essen, stieg von 2009 bis 2019 von 24 auf 34 Prozent.54 Statt fester Mahlzeiten wird immer mehr zwischendurch gegessen, auch wenn das ständige Naschen für den Stoffwechsel eine Belastung ist. Praktisch ununterbrochen könnten wir mit einem Kaffeebecher, einem Pizzastück, einem Smoothie oder einem Bagel durch die Gegend laufen. Durch das allgegenwärtige Angebot gewöhnen wir uns daran, uns beim Essen eher nach einem spontanen Verlangen zu richten als nach körperlichem Hunger.

„To go“, „Take away“, „Ready to eat“ – unter diesen modern klingenden Begriffen reagieren Gastronomie, Lebensmittelindustrie und Werbung auch auf eine wachsende Zeitnot in der Bevölkerung. Denn im Alltag ist unsere Ernährung oft von Eile geprägt: Rasch wird ein Fertiggericht erwärmt, ein belegtes Brot vor dem Bildschirm gegessen.

Da Einkaufen und Zubereitung viel Zeit kosten können, entstehen neue Produkte und Dienstleistungen: Küchenmaschinen, die wiegen, schneiden, garen und sich hinterher selbst reinigen. Vorkonfektionierte Kochboxen mit allen Zutaten und entsprechenden Rezepten, beworben beispielsweise für Berufstätige oder Mütter. Oder sogenanntes „Convenience-Food“ – also bequeme, vorgefertigte Nahrung –, von Tiefkühlpizza bis „Frühstückscerealien“. 2020 setzten die Hersteller damit rund 4,1 Milliarden Euro um.55 Bringdienste von Restaurants oder Supermärkten boomen ebenfalls: rund 3,4 Milliarden Euro gaben die Deutschen dafür im Jahr 2018 aus – mit steigender Tendenz.56 Diese Angebote im Ernährungsmarkt reagieren natürlich zum einen auf die Entwicklungen unserer Zeit und den Bedarf, der sich daraus ergibt. Zum anderen tragen sie auch selbst zur Beschleunigung bei, indem sie die Abläufe rund ums Essen – einen geplanten Einkauf, eine bewusste Nahrungszubereitung und eine Mahlzeit in ruhiger Atmosphäre – noch verkürzen.

Kochen & Kochen lassen

85 Prozent der Deutschen würden sich gerne besser ernähren, haben allerdings keine Zeit dafür – sie sind hin- und hergerissen zwischen dem alltäglichen Stress und ihrem eigenen Anspruch an eine gute Ernährung.57 Je weniger Zeit im Alltag bleibt, umso mehr wird das Kochen und Essen punktuell zu einem besonderen Erlebnis, zum Beispiel, wenn Familie oder Freunde zusammenkommen. Dazu passt, dass Kochbücher boomen: Statt einfacher Rezeptsammlungen werden immer mehr thematische Bildbände mit aufwändig arrangierten Fotos verkauft: für Gourmets, Veganer oder Berufstätige, mit Diäten, neuen Gesundheitstrends oder internationaler Küche. Digitale Angebote wie Rezepte-Apps, Kochschulen oder Food-Blogs erfreuen sich ebenfalls großer Beliebtheit, und schließlich verbuchen Kochsendungen im Fernsehen Quotenrekorde: Vom Star-Gastronomen bis zum Hobbykoch werden kulinarische Köstlichkeiten serviert, oft noch in Form eines Duells oder einer Castingshow – selbst wenn das Esserlebnis erstmal ein virtuelles bleibt.

Das Essengehen hat ebenfalls eine hohe Bedeutung: Laut einer forsa-Umfrage essen drei Viertel der Befragten mindestens einmal pro Monat im Restaurant, knapp jeder Fünfte sogar mindestens einmal pro Woche.58

Genauso wichtig wie der leibliche Genuss ist dabei zunehmend die Präsentation, das Dokumentieren der schönen Erfahrung: Die selbst gekochten Gerichte oder die dekorierten Speisen im Restaurant werden fotografiert, umgehend mit Freunden geteilt oder gepostet. Essen bekommt auf diese Weise einen besonderen Status und wird auch Teil einer Selbstinszenierung.

Ernährungswissen & Kochkompetenz

Ernährung ist ein beliebtes Thema und verkauft sich gut – Magazin- und Buchtitel zu den Themen Essen, Gesundheit und Diäten erzielen hohe Auflagen. Täglich werden in diversen Medien neue Ernährungsempfehlungen publiziert: aus der Medizin, der Lebensmittelbranche, von Ernährungswissenschaftlern und nicht selten auch von PR-Leuten. Insgesamt sind die verfügbaren Informationen über Nahrung, Nährstoffe und Produktion gestiegen: Schon auf der Verpackung sollen Lebensmittel-Ampeln, Nährwertangaben oder bestimmte Kennzeichen darüber aufklären, ob die Nahrungsmittel in ihrer Zusammensetzung aus Fett, Zucker, Süßstoffen, Salz und Kaloriengehalt ausgewogen sind oder nicht. Gleichzeitig versuchen auch die Lobbyisten der Nahrungsmittelindustrie Einfluss zu nehmen: sowohl hinsichtlich der Lebensmittelproduktion als auch der Kennzeichnung und der Inhaltsstoffe. Ein grundlegendes Ernährungswissen und eine kritische Auseinandersetzung können also nicht schaden.

65 Prozent der Menschen in Deutschland erklärten laut einer Studie, dass Ernährung für sie eine große oder sehr große Rolle spielt. Allerdings geht die Schere bei diesem Thema in den letzten Jahren immer weiter auseinander zwischen besser gestellten und sozial benachteiligten Gruppen: Während Ersteren gute Ernährung wichtiger geworden ist, scheinen Letztere weniger Wert darauf zu legen.59

So ist ein hoher Bildungsgrad und ein höheres Einkommen häufig mit einem stärkeren Gesundheitsbewusstsein und auch einem besseren Ernährungswissen verbunden. Der Wunsch nach „gutem Essen“ ist bei Menschen mit hohem sozioökonomischem Status ausgeprägter – schon Jüngere setzen sich beim Einkauf und bei der Zubereitung bewusst und differenziert mit gesunder Nahrung auseinander.

Bei Menschen mit geringerer Bildung und niedrigerem ökonomischem Status sinkt dagegen das Interesse – oder es fehlen schlicht die finanziellen Spielräume. Denn gute Ernährung hat auch eine sozioökonomische Komponente: Neben dem notwendigen Ernährungswissen muss man sich beispielsweise Lebensmittel in Bio-Qualität leisten können, und die günstigsten Produkte sind ernährungsphysiologisch oft minderwertig. Ein niedriger Sozialstatus geht laut der KiGGs-Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland oft mit Übergewicht und Adipositas einher.60 Zum Wissen um eine gute Ernährung gehören darüber hinaus Kochkenntnisse. Laut einer Studie der Gesellschaft für Konsumforschung, in der 30 000 Haushalte befragt wurden, benutzt allerdings nicht einmal mehr jeder vierte Deutsche täglich den eigenen Herd. Gerade Berufsanfänger, die aktuell einen Haushalt gründen, würden regelmäßige Mahlzeiten immer weniger kennen und oft auch nicht mehr kochen lernen.61

 

Doch selbst bei hohem Interesse und viel vorhandenem Wissen kann das Thema Ernährung überfordern. Immer wieder werden neue „Heilsbringer“ angepriesen, die vermeintlich gesünder, glücklicher, fitter machen – letztlich ist all das auch ein riesiger Markt. Wir erleben Menschen, die permanent damit beschäftigt sind, was man essen oder nicht essen sollte. Immer wieder gibt es neue Dogmen, was gesund und was schädlich ist – mal ist Fett verpönt, mal sind es Kohlehydrate. Heute sind Smoothies in aller Munde, morgen sollte man auf zu viel Fruchtzucker verzichten. Als zum Abnehmen die Low-Carb-Ernährung angesagt war, kam „Eiweißbrot“ auf den Markt, das zwar weniger Kohlehydrate, dafür aber extrem viele Kalorien hatte.

Angesichts der Menge an teilweise widersprüchlichen Informationen und den individuellen Wahlmöglichkeiten beim Essen scheint der Wunsch nach Orientierung zu steigen. Nicht von ungefähr führte monatelang das Sachbuch „Der Ernährungskompass“ die Bestsellerlisten an, das Tausende von Ernährungsstudien miteinander verglich.62