Ein Riss in der Schöpfung

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Z serii: Lindemanns #266
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Ein Riss in der Schöpfung
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Hugo Schultz



Ein Riss in der Schöpfung



oder



Was die Welt im Innersten zusammenhält



Annäherung an Goethe, Lenz, Büchner, Ball und eine Nonne









Die Personen



AUS VERGANGENER ZEIT



Johann Wolfgang Göthe: die Schreibweise Göthe wird



für den jungen Dichter benutzt, Goethe für den älteren.



Jakob Michael Reinhold Lenz, sein Freund.



Ihn hielten viele für ähnlich begabt wie Göthe.



Später, in der Weimarer Zeit, ließ ihn Goethe verbannen



und trieb ihn damit wohl in den Wahnsinn.



In Straßburg verkehrten in der „Koststube“ der Geschwister Lauth



neben diesen beiden der Dichter Heinrich Leopold Wagner,



Tischpräsident Christian Gotthilf Salzmann sowie Medizinstudent



Leopold Weyland, der Göthe auf seiner Lothringen-Reise begleitete.



Göthe lernte in Sesenheim, nahe Straßburg,



die Pfarrerstochter Friederike Brion kennen, er verliebte sich in sie, verließ sie aber schon bald und empfahl sie weiter an Lenz.



Gemeinsam besuchten Lenz und Göthe in Emmendingen dessen Schwester Cornelia und ihren Ehemann Schlosser.



Auf der Reise zum Gotthard wurde Göthe von Jakob Passavant



begleitet. Göthes Verlobte Lili Schönemann war da noch



in seinen Gedanken mit dabei.



In Weimar stand Goethe im Dienste von Karl August,



dem Prinzen und späteren Großherzog. Zur Hofgesellschaft



gehörten auch die Herzogin Anna Amalia, die Freifrau von Stein, Goethes langjährige enge Vertraute, sowie Martin Wieland



und Gottfried Herder. Auch der Dichter Maximilian Klinger



kam nach Weimar, wurde aber vergrault.



Georg Forster, dem Reiseschriftsteller und Revolutionär,



stand Goethe bei der Belagerung von Mainz gegenüber.



Goethe hat im Alter junge Frauen geschätzt und bedichtet:



Sylvie von Ziegesar, mehr noch Minna Herzlieb, am meisten Ulrike von Levetzow, die in diesem Buch wenig beachtet wird.



Georg Büchner hat in seiner Erzählung „Lenz“ den Aufenthalt des kranken Dichters in Waldersbach geschildert.



Der „Genieapostel“ Christoph Kaufmann hatte den kranken

 Lenz betreut, ihn weitervermittelt an den Pfarrer Oberlin, der sich

 um ihn kümmerte, ihn aber ob seines desolaten Zustandes abschob.



Auf einer gefährlichen Harzreise im Winter besuchte Goethe



einen Mann namens Plessing, der Lenz ähnlich war.



Personen aus Büchners privatem Umkreis: Seine Mutter

 und sein Vater, seine Schwester Luise und aus deren Erzählung

 „Ein Dichter“ eine Charlotte Namenlos. Wilhelmine Jaeglé,



genannt Minna, Büchners Verlobte, Minnas Vater, Pfarrer Johann



Jakob Jaeglé und Freunde Büchners: August und Eugène Boeckel



sowie Adolphe und August Stoeber und deren Vater Ehrenfried.



Politische Gesinnungsgenossen v.a. aus der Gießener Zeit:

 Karl Minnigerode, Friedrich Weidig, Hermann Trapp, Harro Harring.



Wilhelm und Caroline Schulz waren in seiner letzten Zeit,

 in Zürich, seine besten und wohl einzigen Freunde.



Hugo Ball und Emmy Hennings tingelten mit „Flametti“,

 dem Leiter eines Varieté-Ensembles durchs Land. Ball und

 seine spätere Frau eröffneten in der Spiegelgasse das



„Cabaret Voltaire“; mit dabei waren Tristan Tzara, Hans Arp,

 Marcel Janco, bald kam Richard Huelsenbeck hinzu. In Bern an



der „Freien Zeitung“ arbeitete Ball mit Ernst Bloch zusammen.



Susanne Schultz, Ordensname M. Anastasia, war eine fromme,



kluge, hypersensible Nonne, die sich ein Bild von Gott gemacht hat, das von dem der Kirche abwich. Sie wurde, obwohl bei klarem



Verstand, ins Irrenhaus geschickt und in Grafeneck vergast.



AUS NEUESTER ZEIT



Rainer und Elvira sind ein Paar, auch wenn beide mit anderen Partnern verheiratet sind: Rainer lebt mit seiner Frau Martina in der Zürcher Spiegelgasse, Elvira mit ihrem Mann in Stuttgart. Mit im Bunde ist Julie, eine junge Französin aus dem Elsass, die gut deutsch spricht. Sie ist Assistentin an einer Straßburger Hochschule für Design. Ihr Interesse für Büchner bringt sie Rainer näher, Intimitäten versucht sie jedoch auszuklammern. Auch der Autor bringt sich mit ins Spiel, mischt sich in die Gespräche seiner Protagonisten ein, versucht aber trotz seines Umgangs mit diesen fiktiven Gestalten nahe an der Wirklichkeit zu bleiben.




Vorweg



Es ist das alte Lied: Wer gegen den Strom schwimmt, dem gehen schließlich die Kräfte aus, er wird untergehen, es sei denn er kehrt um. Gegen den Strom schwammen der junge Göthe, Jakob Lenz, Georg Büchner und Hugo Ball. Sie kämpften an gegen eine konservativ ausgerichtete öffentliche Meinung und gegen die Macht der Adelsgesellschaft. Nur einer, Goethe, akzeptierte schließlich das traditionelle Herrschaftssystem, die andern waren Ausgestoßene, Verfolgte. Sie starben früh.



Die vier Dichter, die für eine mehr oder minder lange Zeit in der Zürcher Spiegelgasse wohnten, haben geahnt, wohin der Strom, gegen den sie ankämpften, führen würde, ebenfalls in den Untergang. Büchner sagt es in einem metaphorischen Bild: Ein Riß geht durch die Schöpfung von oben bis unten. In seinen Werken, am eindringlichsten in Dantons Tod, stellt er dar, wie dieser Riss sich zu einer Kluft ausweitet, in die der Gang der Geschichte die Menschen unausweichlich hineinstößt. Die Dichter haben sich diesem Schicksal nicht widerspruchslos ausgeliefert. Recht zuversichtlich zeigt sich der junge Goethe, der seinen Faust danach fragen lässt, was die Welt im Innersten zusammenhält. Ob dieser Zusammenhalt im Untergrund besteht oder ob der Riss in der Schöpfung, diese Kluft in der Welt, zu überbrücken, aufzufüllen oder zu umgehen ist, auch dazu werden in diesem Buch die Dichter befragt. In die Beantwortung dieser Fragen, die alle Menschen in existenzieller Weise betreffen, wird eine Nonne, die Tante des Autors, einbezogen. Die Antworten, die sie gefunden hat, brachten sie um ihre reale Existenz. Sie wurde von den Nazis vergast.



Die angedeuteten Fragen werden aber nicht in der Form einer philosophisch-theologischen Abhandlung erörtert, sondern in einem Roman, in dem Menschen aus unserer Zeit in kontrovers geführten Gesprächen Leben und Werke der Dichter nach sinnstiftenden Antworten durchsuchen.



Das Buch hebt heraus und führt weiter, was in der Spiegelgasse-Trilogie schon angelegt ist, in: Goethes Mord, Bruder Lenz und Ein Büchnerspiel. Einige Textteile sind unverändert dieser Trilogie entnommen. Der Großteil ist neu oder neu gestaltet.



Die Einzelnen und was sie eint



Sie sei im Winter mal auf den Bastberg gestiegen, bemerkte Julie wie nebenbei. Ein äußerst kalter Tag sei es gewesen, obwohl es geschneit habe; sehr groß die Flocken, in ihrer kristallinen Beschaffenheit klar, transparent. Göthe hat damals, als auch er oben war, nur die Verzauberung der Welt, kaum den Zauber der Kristalle gesehen. Vielleicht hat er auch nur gefroren. Rainer, der neben ihr durch die Spiegelgasse ging, sagte: „Mit dem Schnee will er als Dichterfürst später nichts zu tun haben. Das sei erlogene Reinheit, meint er. Dabei sind Schneeflocken schön, finde ich, auch wenn man sie als geometrische Konstrukte sieht. Ihr Weiß ist rein, gerade wenn man es nicht mit seinen Vorstellungen belädt oder belastet oder gar beschmutzt. Und wenn sie sich auflösen? Eher, wenn wir uns auflösen? Dann heißt es: Schlafe ein. Dann bleibt nichts mehr von ihrer, von unserer äußeren Gestalt, von unserer inneren schon gar nichts. Auch das ist besser als all das, was man den Toten aufgeladen hat: Fege- und Höllenfeuer, Schuldzuweisungen über den Tod hinaus. Und was man im Leben hat in Kauf nehmen müssen, was einem das Leben an Last auferlegt hat, es ist abgeworfen, vergessen. Die Ruhe, von der man im Leben nur in kleinsten Teilen etwas fand, hat sich zur Ewigkeit ausgeweitet.“



„Schwester Anastasia, die Nonne, hat das anders gesehen“, sagte ich. „Niedergeschrieben hat sie: Unter all den Schneeflocken hat jede eine andere Gestalt. Wenn das schon für tote Materie gilt, dann doch auch für uns: Wir sind Unikate. Wir sind da, auch wenn wir zertreten, verschmutzt werden. Gott sieht alle. Aber er lenkt sie nicht. Sie fallen wie sie müssen. Sie lösen sich zwar auf, aber ihre Gestalt war da, und so wie sie da war sonst nirgendwo auf der Erde, und sie bleibt als immaterielle Gestalt weiter bestehen, da wo der Geist die Materie beerbt, bei Gott. So sah es diese Nonne, die meine Tante war.“



Wir gingen durch die Spiegelgasse. Es schneite, die Flocken fielen dicht, bedeckten den Boden. Oberhalb des Leuenplatzes blieben wir vor der Fassade eines sechsgeschossigen Hauses stehen. Wir sahen einzelne Passanten, alle gingen in Richtung Kunsthalle, Theater, Universität, vielleicht waren es Leute, die man für wichtig hält, vielleicht arme Schlucker. Ihretwegen waren wir nicht hierhergekommen.



„In dem Haus vor uns wohnte Büchner, und hier starb er,“ sagte ich. „Es war Winter und es war kalt. Er und andere, die früher mal durch diese Gasse gekommen waren, waren Vertriebene, auf der Flucht: Lenz, von Goethe verbannt, Lenin verfolgt, Ball auf der Flucht. Hier fanden sie Zuflucht. Aber so fein wie Schneeflocken waren sie nicht, ohnmächtig auch nicht, zumindest Lenin nicht, er hat die reale Welt bewegt, Ball nicht nur die literarische. Mit Lenz und Büchner war es früh schon vorbei. Ihnen hatte man, was die Qualität der Wirkung angeht, Besseres zugetraut als Goethe. Der war auch für eine kurze Zeit hier in dieser Gasse, aber er lebte länger als die anderen. Er wird heute mehr geschätzt als sie. Sie alle hatten versucht herauszufinden, was die Welt zusammenhält oder sie hatten sich darum bemüht beieinanderzuhalten, was auseinanderzufallen droht.“

 



„Fest steht, auch wir lösen uns auf, aber wir sind keine Schneeflocken“, sagte Julie. „Wir kommen allein auf eine fremde Welt, allein gehen wir aus ihr hinaus. Und immer, solange wir auf ihr verweilen, bleiben wir vor allem bei uns selbst. Wir sind Individuen, wir sind nicht die, aber wir sind eine Welt.“



„Göthes Faust fragt, was die Welt im Innersten zusammenhält, und er weiß, er wird es nicht ergründen können“, begann Rainer. „Heute kennen wir die Naturgesetze und glauben zu wissen, welche physikalischen Vorgänge die materielle Welt steuern. Den jungen Göthe interessierte die pure Materie noch wenig. Er war der große Individualist. Er machte seine subjektiven Gefühle zum Maßstab für alles. So hat er viel dazu beigetragen, dass die Menschen – zumal in Deutschland – deutlicher sich ihrer selbst bewusst wurden.



Bei all den Beeinträchtigungen, denen wir auf dieser steinigen Welt ausgesetzt sind, eines stand für den jungen Göthe fest, und das demonstrierte er wie damals kein anderer in Deutschland: Die Gedanken sind frei! Sie dürfen nicht von außen kanalisiert, nicht gesteuert werden. Sie brauchen freien Raum, freie Zeit. So kann nicht nur er, so kann der Mensch zu sich selbst kommen.“



Rainer blieb stehen. Er sah in die Flocken. Dann wandte er sich zu Julie um: „Das Individuum, das das Licht der Welt erblickt, ist zunächst einmal, das liegt in der Natur der Sache, auf sich gestellt. Das ist ein Hinweis auf das Verborgensein der Herkunft oder auf die Absicht des Schöpfers. Es bringt eine Empfindungswelt mit, aber sie hat nichts mit der Welt da draußen zu tun, in die es hineingeworfen ist. Da ist ein Missverhältnis, das das Ich in seinem Allmachtswahn zunächst gar nicht bemerkt. Es meint, die Welt draußen sei so geartet wie es selbst, sie gehöre ihm oder zu ihm. Da haben wir gleich zu Beginn unserer Existenz einen Riss, eine Kluft.“



Sie gingen weiter. Julie führte den Gedanken fort: „Als Babys kennen wir nur uns selbst und die Mutter, die ein Teil von uns ist. Wir sind von Beginn an Egos, Individuen. Später werden wir auf verschiedene Arten domestiziert. Wie das vor sich geht, das haben Pädagogen ausführlich beschrieben. Was uns interessiert: Es bleibt etwas von diesem egoistischen Kern immer in uns erhalten, und das ist gut so. Es bleibt auch etwas von dieser kindlichen Ausschließlichkeit in uns zurück, die sich in einem Größenwahn ausdrücken kann. Wir halten uns für ein Nonplusultra, wir sind alles, wir sind die Welt. Jeder Mensch ist in seiner Welt naturgemäß auch der Größte. Wir sind alle davon überzeugt, dass wir der Mittelpunkt der Welt sein sollten, dass wir weit mehr beachtet sein sollten, als wir es wirklich sind. Wir fühlen uns permanent zurückgesetzt, wenn dieser unser Anspruch sich in der Realität nicht oder nur zu kleinsten Teilen bestätigt, wenn wir nur kleine Würstchen sind. Auch wenn uns vieles ausgetrieben, auch ausgeprügelt wird, bleibt dennoch ein Rest. Wir wissen immer, und diese Wahrheit bleibt in uns hängen: Wir sind das, was wir sein müssen, eine eigene Welt, die mit uns entsteht und mit uns zugrunde geht. Das Selbstgefühl ist ein Tatbestand, es ist in allem da, was lebt. Es ist der Grundstoff des Lebens, seine Ursubstanz. Dieses existentielle Gefühl setzt sich bei Göthe viel stärker durch als bei anderen, und das gefällt mir, denn es zeigt sich, dass das Individuum es aus sich selbst heraus weit bringen kann, auch hoch hinauf! Zudem auch weit zu anderen hinüber.“



Woher komme ich, wer bin ich, wohin gehe ich?



Verdankt das Universum dem Zufall oder einer Ordnungskraft seine Entstehung? Diese Frage können wir uns stellen, seit wir ein Bewusstsein haben. Eine Antwort ist kaum zu finden. Und wenn es um den Menschen geht? Da lauten die Fragen: Woher kommen wir, wer sind wir, wohin gehen wir?



Ich füge hier einen Diskurs ein, in dem sich ein Dozent, ein Student und eine Nonne mit dieser Frage kontrovers auseinandersetzen.



In einem längeren Monolog meldet sich der Dozent zu Wort: „Die Welt existiert – das ist unbestritten. Aber sie lebt erst als Abbild in einem lebendigen Ich. Was wäre das auch, eine Welt, die niemals wahrgenommen wurde, auch nie wahrgenommen werden wird? Gas, Feuer, Gestein, Eis, in Bewegung, dennoch tot, zwar da, ein Etwas, aber eines, das ans Nichts grenzt.



Insofern ist das Ich die Seele der Welt. Die Welt, das Universum ist von ihm, wenn auch nicht erschaffen, so doch zum Leben erweckt. Auf den Einzelnen spezifiziert, heißt das: Ist er nicht mehr, dann ist auch seine Welt nicht mehr. Die Welt lebt in den Augenblicken, da Individuen leben. Die Welt erwacht erst durch uns zum Leben – und eine Welt, bestehend nur aus unbeseelter Materie, wäre auch Gott gleichgültig, da bin ich mir sicher.



Menschen nehmen das sie Umgebende wahr, benennen es, lassen es so in einer anderen Sphäre erst erstehen, heben es zum Leben empor und geben es Gott, von dem es herkommt, in veränderter, in belebter Form zurück.



Doch schon vor den Menschen begann unsere Welt aus ihrem Todesschlaf zu erwachen. Was andere Lebewesen wahrnahmen, wurde zu einer Funktion in ihrem Inneren, in ihrem Ich. Ichbewusstsein kann man das noch nicht nennen.“



Schwester Anastasia setzte sich triumphierend auf: „Zumindest darin bleiben wir uns einig: Das Ich ist die Seele der Welt! Die Schöpfung erwacht aus ihrem Todesschlaf, sie wird lebendig. Ich denke, sie wird zu dem, was sie werden sollte. Gott hat nämlich seine Welt so angelegt, dass es so weit mit ihr kommen musste, wie es gekommen ist. Und er hat uns die Seele eingehaucht.“



„Wir reden von einem Ich“, sagte der Dozent weiter. „Was ist dieses Ich? Psychologen haben dazu zahllose Bücher geschrieben, aber die erklären immer nur Teilaspekte. Ich möchte sagen: Das Ich ist das, was uns immer eigen ist. Es ist das Einzige, was uns bleibt, vielleicht über den Tod hinaus. Alles kann von uns weggenommen werden, die Gliedmaßen, der Verstand, das Bewusstsein. Das, worauf bei uns bis dahin alles zusammenlief, es ist immer noch da. Unser Ich ist das blanke Skelett, das, was die Natur uns mitgegeben hat. Es ist schon in dem da, was Herr Zahn das ,Samen-Ich‘ nennt, alles andere ist darum herum gehängt und fällt auch wieder ab.“



„Der Kleiderständer Gottes“, sagte Schwester Anastasia. „Auf ihm hat er später aufgehängt, was uns ausmacht, unser Bewusstsein, unsere Seele.“



Herr Zahn, ein Student, meldete sich zu Wort: „Ehe Sie das biologische Ich kleinzureden versuchen, will ich eine Lanze dafür brechen: Gerade weil es klein ist, hat es die Chance zu wachsen, und gerade in seiner Vielzahl ist es alles andere als ein Nichts: Die Individuen trugen die Evolution weiter, sie machten uns zu dem, was wir sind. Zwar traten sie massenhaft auf und wurden ebenso massenhaft vernichtet – das sagt aber nicht, dass sie nichts wert sind, sondern nur, dass die Natur einen Riesenaufwand betreibt, um wenigstens einigen von ihnen den Fortbestand zu ermöglichen. Wir sind auf einem Schlachtfeld: Es müssen ungeheuere Opfer gebracht werden, um ein großes Ziel durchzusetzen.



Die lebendige Welt besteht immer nur in Form von vergänglichen Einzelwesen, die zwar etwas sind und schaffen und auch weitergeben, aber selbst vergehen. Da ist eine Walze aus Körpern, die im Innern ständig neu entsteht und außen abstirbt. Leichen bleiben auf ihrem Weg zurück.“



Der Dozent knüpfte an diese Gedanken an: „Herr Zahn argumentiert auf Basis naturwissenschaftlicher Erkenntnisse, die unsere Herkunft bereits sehr genau beschreiben und die nicht zu bestreiten sind. Wir Christen fragen uns freilich: Hat Gott einen solch verwirrenden Weg gewählt, um uns auf die Erde zu befördern? Die Bibel macht es sich da einfach, indem sie eine Genealogie unserer Vorväter auflistet. Schwester Anastasia ist der Ansicht, dass Gott uns unser Menschsein, nennen wir es Seele, erst im Mutterleibe mitgegeben hat. Fragen wir aber auch unseren Advocatus Diaboli, wie er die Ich-Werdung sieht.“



Dieser hob an: „Ich wiederhole: Dass gerade wir, vorbei an Trillionen von Abgründen, ans Tageslicht befördert wurden, war mehr als nur unwahrscheinlich, es war nahezu unmöglich. Und wenn Gott so verschwenderisch mit Ichs, mit Individuen umgeht, wie uns das die Natur vor Augen führt, dann müssen doch auch Sie eher annehmen, dass es ihm völlig gleichgültig ist, ob wir es sind oder andere, die da das Licht der Welt erblicken. Wir als Person mit unserem Ichbewusstsein und unserer Seele existierten für ihn nicht. ,Liebe deinen Nächsten wie dich selbst‘, das würde dieser seiner Einstellung entsprechen. Der Nächste ist wie du, ob er oder du, das läuft auf das Gleiche hinaus.“



Schwester Anastasia entgegnete: „Wie gesagt, ich gehe – anders als Sie – davon aus, dass Gott uns erst im Mutterleib eine Seele eingehaucht hat. Dass für mich damit Seele und Körper zwar verbunden, aber nicht dasselbe sind, das versteht sich von selbst.



Darüber hinaus gehe ich davon aus, dass das Ich, wie Sie es nennen, die eigentliche Substanz dieser unserer irdischen Welt ist. Wäre das nicht der Fall, dann wäre sie ein zufälliges Produkt materieller Vorgänge, ein Akzidens. Dann wäre auch das Universum ein Zufallsprodukt. All die chemischen, physikalischen und biologischen Phänomene wären also in ihren Ordnungen und Zusammenhängen Zufälle. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie hätten eintreten können, läge im Bereich der Unmöglichkeit. Aber es gibt sie, unsere Welt. Gott hat sie konzipiert, und er hat vorgesehen, dass in ihr Wesen existieren, die sie beachten. Er hat uns die Seele eingehaucht.“



Zahn insistierte: „Und wie wollen Sie die vielen Ichs nun zusammenbringen?“



„Was sie zusammenbindet, möchte ich das Ich-Prinzip nennen, ich finde kein besseres Wort“, sagte die Nonne.



Der Dozent entgegnete: „Ich-Prinzip, ein schreckliches Wort, das die Individuen vereinigt, indem es sie zu einem Brei zusammenrührt oder in einer wässerigen Tinktur auflöst. Für alle wichtigen Begriffe stehen solche Tinkturen bereit, man erkennt sie an Suffixen wie -mus oder -heit. Meine These, die wohl nicht bei allen Zustimmung finden wird: Die Menschheit als Ganzes zählt für Gott nicht viel. Äpfel kann man zusammenzählen, dann zählt der eine nicht mehr als der andere. Das wird auch bei Soldaten besonders deutlich, die man nur in ihrer Funktion sieht. Wir müssen oft vereinfachen, wir sind Menschen. Gott, der Allwissende, hat das nicht nötig. Wenn er sich den Menschen zuwenden will, dann nicht der abstrakten Menschheit, sondern jedem Einzelnen.



Das Ich ist die Seele der Welt. Heißt das nicht auch: Die Welt und ihre Seele ist in jedem einzelnen Ich vorhanden? Zumindest ist jedes Ich eine eigene Welt. Und genau darauf hat Gott sein Augenmerk gerichtet. Diese einzelnen Welten sind verschieden und oft neu – auch für ihn.“



Ich versuchte zu einem Ergebnis zu kommen: „Bisher haben wir uns vor allem mit uns und unserem Ich beschäftigt und haben nicht unbescheiden festgestellt, dass es die Seele der Welt ist: Da haben wir schon eine erste Antwort auf die Frage, ob etwas die Welt im Innersten zusammenhält.“



Elvira war damit nicht einverstanden, sie rief mir zu: „Genug von Theologie und von Nonnen! Wir wollen nicht im Kloster enden. Uns steht der junge Göthe näher. Der ist auf der Flucht vor pietistischer Frömmigkeit, für den fängt das Leben erst an. Anders als bei dir, Alter.“



Göthe kommt nach Straßburg



Der junge Göthe: Der Dichter bricht aus; er entdeckt seine persönliche, individuelle Eigenart und streicht sie heraus. Göthe hat den Individualismus nicht etwa entdeckt, Menschen sind schon seit Langem sich ihrer selbst bewusst. So etwa Seneca, der vindica te tibi fordert. Aber Göthe fordert die Selbständigkeit nicht nur, er lebt sie und er setzt sie wie bisher niemand in Dichtung um. Die Frage: Sieht er den Weg, der in eine bessere Zukunft führt, und findet er einen Sinn in dem Treiben hier auf dieser Erde? Göthe ist stark. Man traut es ihm zu, dass er dazu beitragen kann, die Menschenwelt zusammenzuhalten.



Göthe ist in Straßburg angekommen. Jetzt taucht das neue Leben aus versteinerter, eingefrorener Tradition auf. Man denkt an den Osterspaziergang, den er erst später, in Frankfurt, schreiben wird. Von seiner Krankheit, einer Tuberkulose, hat er sich gerade erst erholt, das helle Leben umgibt ihn wieder, steht ihm von Neuem offen. Losgeworden ist er auch die ständige Präsenz des strengen Vaters, der einschränkte, wo er sich entfalten wollte, antrieb, wo er Ruhe brauchte. Die Schwester, die sich an ihn klammerte und er sich an sie, die Mutter, deren Liebe ihn tröstete, aber auch beengte, hat er hinter sich gelassen, auch Frankfurt, die Heimatstadt, seine durch Gewohnheit abgenutzte, stumpf gewordene Umgebung.

 



Göthe braucht Raum. Er hat ihn jetzt und kann ihn nutzen. Straßburg ist damals größer als Frankfurt, nicht so provinziell, hier leben in großer Zahl Franzosen aus dem Stammland, Menschen aus vielen anderen Ländern. Die Stadt belebt ihn. Die Universität hat einen guten Namen. Hier sind Menschen, die alle Erwartungen zu übertreffen scheinen. Er lernt Herder kennen. Eine literarische Gesellschaft hat sich um Salzmann gruppiert. Göthe ist gebildet und reich. Mehr noch, nach einer Wartezeit, hungrig, mit all der Gier der jungen Jahre jetzt bald auch wieder Liebe.



Was wir heute in Straßburg noch besichtigen können, sind die Orte, die Gebäude, wo er sich aufgehalten hat. Da ist etwa das Haus, in dem er täglich seine Freunde traf, in der Koststube der Jungfern Lauth. In schmutzigem Mattbraun, von Rissen durchzogen der Verputz, unten breit und geduckt die Sandsteinbogen, immer noch, nur einige Fenster oben sind zugemauert. Im schmalen, teils überbauten Schiffergässchen war von der Fassade damals nur wenig zu sehen. Man hat es zur breiten Rue de la Division Leclerc ausgeweitet; hier ist heute die Hauptfassade, ich gehe an ihr entlang. Wenige Schritte weiter stand man damals schon vor dem Haus, in dem ein halbes Jahrhundert später Büchner wohnen sollte, in dem er versuchen würde, einen Abschnitt von Lenz’ Leben schreibend erstehen zu lassen und etwas von sich selbst in ihm zu finden.



Man könnte sagen: In diesem Haus nahm sie ihren Anfang, die Bewegung, die man später Sturm und Drang nannte und die den erstarrten Geist der Zeit in neue Bahnen lenkte. Sicher, der Anstoß kam auch von außen. Herder hat seine Gedanken Goethe mitgeteilt, auch viel von dem berichtet, was Hamann in seinem Kopfe zusammengebraut hatte; doch die Umsetzung des Denkens in Gestalten und Bilder begann hier.



Da saßen Studenten beisammen, vorne der Tischpräsident Salzmann. Mit dabei der Mediziner Weyland aus Buchsweiler. Er wollte seine Verwandten dort besuchen. Göthe überredete ihn, weiter, hinüber nach Lothringen zu reiten. Später behauptete Goethe, die Reise habe sie nach Sesenheim geführt. Das trifft nicht zu. Weyland hatte zwar von Friederike erzählt. Aber man hatte nicht vor, sie zu besuchen.





Das Münster, das damals höchste Gebäude des Abendlandes, ist eine Herausforderung für Göthe. Er besteigt den Turm. Er stellt das Schicksal auf die Probe, bietet dem Tod die Stirn. Später, im Werther, in den Wahlverwandtschaften, obsiegt der Tod. Vor den Misshelligkeiten der Liebe ist das für seine Protagonisten der letzte Ausweg. Jetzt blickt er mutig nach unten, überwindet seinen Schwindel, findet Freude daran, ferne Dächer zu sehen, er meint jetzt frei zu sein, fliegen zu können, vielleicht zu den blauen Bergen weit dahinten.



„Nein, dahin wird er reiten.“



Elvira beugte sich nach vorn: „Schau da unten, da zappeln die Menschen, huschen, wuseln durcheinander. Warum? Weil sie nicht in sich selbst eingesperrt sein wollen, am allerwenigsten in Krankheit und Tod. Sie fürchten nichts mehr als das.“



Rainer stand ein Stück hinter ihr: „Da sind wir wieder bei dem alten Dilemma, dem Bruch, dem Riss, der uns zweiteilt: Wir stecken nun mal in unserem Körper drin, sind seine Gefangenen. Unser Geist möchte fliegen, der Körper kann das nicht. Schön, wenn wir noch jung sind: Unser Geist eilt selbstverständlich voraus, unser Körper folgt ihm noch im Vertrauen darauf, sich selbst zu übertreffen, ihn einzuholen. Er meint die Glückserwartungen einlösen zu können: Göthe entdeckt in sich auch hier oben eine unerschöpfliche Schatzkammer des Glücks; sie verströmt sich immer wieder und füllt sich neu auf. Daher die Galoppade bei seinem späteren Ritt nach Sesenheim.“



Göthes Ritt nach Lothringen



Kaum in Straßburg angekommen, tritt Göthe eine Reise an. Er weiß nicht, warum, er spürt nur, dass er etwas suchen muss, was er noch nicht gefunden hat, nicht einmal hier in Straßburg. Diese Reise hat kein bestimmtes Ziel und führt nicht, wie Goethe später behauptet, nach Sesenheim. Es ist eine Reise, auf der viele Wege offen stehen – insofern gleicht sie einem Spiel. Die Reise, die Goethe später in Dichtung und Wahrheit ausführlich beschreibt, hat mit der realen Reise wenig zu tun. Was Göthe uns von ihr hinterlässt, sind nur ein Brief und ein Gedicht.



Zabern und Pfalzburg



Nicht reitend, sondern mit dem A