Am Tag, als Walter Ulbricht starb

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Sie schob seine Hand weg. «Du möchtest, dass er dir Platten besorgt, stimmt’s?»

Hartmut widersprach ihr: «Quatsch!»

Dabei wusste sie genau, wie scharf er auf Dixieland-Platten war, von denen manche klangen wie auf dem Trichtergrammophon abgespielt. Er geriet förmlich in Verzückung, wenn er das Gequäke hörte. Die Band, zu der er gehörte, klang etwas besser. Er spielte Bass, ein Instrument von beträchtlicher Größe, das gewöhnlich Carolas Korridor verbarrikadierte, weil die Proben und viele Auftritte sowieso in Berlin stattfanden. Es sah ein bisschen merkwürdig aus, wenn der großgewachsene Kerl mit flatternder Mähne und dem Riesending auf dem Buckel auf seinem Habicht fuhr. Nicht weniger merkwürdig, als wenn sie hinter ihm auf dem Moped klemmte. Rainer hatte angeboten, ihnen billig einen VW-Käfer zu besorgen. Leider war die private Einfuhr von Fahrzeugen verboten.

«Er könnte mal ’n Weg für mich erledigen», sagte Hartmut vage.

Sie wurde hellhörig. «Was hast du denn im Westen für Wege zu erledigen?»

Er zögerte lange. «Es ist wegen der Kühns … aus Miersdorf», sagte er schließlich. «Die kennst du doch auch.»

Carola erinnerte sich an das sympathische Ehepaar.

«Die immer mit dem Faltboot rumgurken? Die haben wir mindestens zwei, drei Wochenenden nicht gesehen.»

«Eben. Sie wollten sich gleich melden … wenn sie drüben gut angekommen sind.»

Unwillkürlich setzte sich Carola auf. «Die sind rüber?», fragte sie verblüfft. «Davon hast du mir überhaupt nichts erzählt!»

Hartmut küsste sanft ihre vorwitzige Brustwarze.

«Über so was spricht man ja auch nicht.»

«Was soll das heißen? Hast du kein Vertrauen zu mir?»

Er versuchte, sie zu beruhigen. «Zu dir allemal. Aber ein unbedachtes Wort …»

Sie entzog sich ihm und sagte empört: «Du hältst mich also für ein Quatschmaul!»

«Natürlich nicht! Aber warum sollte ich dich mit so etwas belasten?»

«Weil ich die Leute vielleicht gut leiden kann. Obwohl die mit ihrem Igelit-Boot immer so ein Höllentempo vorlegen.»

«Sie haben hart trainiert. Ist kein Spaß, über die Ostsee zu paddeln.»

Carola war geschockt. «Über die Ostsee? Bist du sicher? Man kann doch auch in Berlin über irgendeinen See oder Kanal paddeln.»

«Kann man nicht!» Hartmut wusste es genau. «Das habe ich mit Günther und Annegret oft genug durchgekaut. Der einzige Weg führt über die Ostsee.»

«Du wusstest es also die ganze Zeit?»

Er nickte. «Wenn es nötig ist, kann ich eben auch den Mund halten.»

Carola sah ihn aufmerksam an. «Hast du selber mal daran gedacht?», fragte sie verhalten.

«Über die Ostsee?»

«Ich meine … überhaupt …»

Er erwiderte ihren wachsamen Blick. «Im September 1961 war ich schon fast drüben. Aber …» Er schwieg. Er hatte nie erwähnt, dass es da ein Mädchen gegeben hatte, das mitwollte, und dann doch nicht, weil sie angeblich schwanger war, und zwar von ihm. Und am Ende war sie ein halbes Jahr später im Kofferraum einer Diplomatenlimousine getürmt, und er war noch immer hier. «Hat eben nicht geklappt. Dann haben sie mich zur Fahne geholt, und da ist mir endgültig die Lust auf solche Abenteuer vergangen. Die schießen an der Grenze nicht mit Platzpatronen!»

Sie drängte ihren warmen Körper an ihn. «Das weiß doch jeder. Aber manchmal denkt man trotzdem dran, stimmt’s?»

Sie ahnte nicht, wie oft er daran dachte. Und welche Rolle sie dabei spielte. Ohne dich wäre ich längst weg, hätte er sagen müssen. 1968, kurz vor dem bösen Ende in Prag, war er gerade so weit gewesen, sich samt seiner auf Mikrofilm kopierten Zeugnisse und Unterlagen über die Tschechoslowakei abzusetzen. Und ausgerechnet da hatte es zwischen ihm und der umschwärmten Chefsekretärin Carola gefunkt. Bei einem Geplänkel über Carolas Berufsbezeichnung.

«Sie sind doch seine unentbehrliche Sekretärin», hatte er ihr geschmeichelt. «Ohne Sie ist der Boss doch hilflos.»

«Ich bin die Hauptsachbearbeiterin.» So hieß sie nur, damit sie ein bisschen besser bezahlt werden konnte.

«Aha. Und wer ist für die Nebensachen zuständig?» So hatte es angefangen. Und jetzt lag er hier neben seiner Eroberung, auf die er immer noch stolz war, und sie fragte ihn, ob er rüber wollte. «Im Traum bin ich manchmal plötzlich drüben», sagte er.

«Komisch. Ist mir auch schon passiert.» Das hatte er nicht erwartet.

Der nächste Morgen begann mit einem Beinahe-Unfall in der Prenzlauer Allee, als Hartmut den schlingernden Habicht auf dem glitschigen Pflaster nur knapp zum Stehen brachte. Carola fuhr lieber mit der Bahn, besonders an so einem verregneten Tag, doch dafür war es zu spät gewesen. Sie hatten wenig geschlafen in dieser Nacht, und das trübe Wetter animierte nicht zum Aufstehen.

Im Büro fühlte sie sich unwohl in ihrer feuchten Kleidung. Außerdem standen Antworten auf Eingaben auf ihrem Vormittagsprogramm, also Ablehnungen und Ausreden an Leute ohne Telefon, die sich meistens zum x-ten Mal beschwert hatten. Immer der gleiche verlogene Text, den sie im Schlaf runterratterte, wenn niemand sie störte.

Ausgerechnet heute aber schob sich gegen halb elf eine dickliche Riesenfigur in ihr Zimmer, bekleidet mit einem spermafarbenen Anorak, wie Hartmut die Farbe nannte, und einer zu großen Brille mit violett schimmernden Gläsern auf dem geröteten Nasenzinken. «Ich bin der Norbert», hatte er sich ihr bei seinem ersten Besuch plump-vertraulich vorgestellt, und es hätte nicht des gezückten Klappausweises bedurft, um ihn als Vertreter «der Firma» zu identifizieren.

Mohnholz wandte jedes Mal die Augen gen Himmel, wenn sie den unwillkommenen Besucher meldete. Der feilschte meistens dreist um Extrawürste bei der Fernmeldeversorgung, die man ihm auch prompt briet – oder er wollte irgendwelche Auskünfte einholen, die man ihm ebenfalls nie verweigerte.

Hätte Carola geahnt, dass heute ihr eigener Name und der Hartmuts auf Norberts Wunschliste standen, hätte sie sich das gequälte Lächeln verkniffen, das sie bei seinem Eintritt aufgesetzt hatte. «Verärgern Sie den bloß nicht!», war sie oft genug von Mohnholz gemahnt worden, der sich so leicht vor niemandem fürchtete. «Und lassen Sie ihn immer gleich zu mir, sonst schnüffelt er nur in der Gegend rum!»

Zwischen Mohnholz und ihr herrschte ein ungezwungener Ton. Kaum war der tapsige Besucher diesmal wieder verschwunden, tauchte der Chef aus seinem Gehäuse auf und blickte Carola bedeutungsschwanger an.

«Ist was?», fragte sie.

«Das frage ich Sie.»

«Wieso? Ist der meinetwegen hier gewesen?» Das sollte leichthin klingen, aber es schwang ein unbehaglicher Unterton mit. Unwillkürlich fiel ihr das nächtliche Gespräch mit Hartmut ein.

«Haben Sie irgendwelche Westkontakte?», fragte Mohnholz mit gedämpfter Stimme.

Empört sah sie zu ihm auf. «Wer behauptet denn so was?»

Mohnholz hob begütigend die Hand. «Vergessen Sie’s. Er hat sich nur am Rande danach erkundigt. Wahrscheinlich wegen der VVS-Verpflichtung …»

Carola zog eine Grimasse. Die konnten ihr mit ihrer ganzen Geheimhaltung gestohlen bleiben, und das wusste Mohnholz. Er vertraute ihr und hatte sogar mal gucken lassen, dass seine eigene greise Mutter irgendwo im Westen lebte. Natürlich ohne offizielle Verbindung zu ihm. Sonst hätte er nicht länger auf seinem Posten gesessen.

«Wenn mal was sein sollte, sagen Sie’s mir rechtzeitig», murmelte er und fügte, schon in der Tür, noch hinzu: «Und erzählen Sie Hartmut lieber nichts davon.»

Mit dem war er, wie mit den meisten Ingenieuren und den paar Genossen im Amt sowieso, per du.

Für Carola waren die Schrecken dieses trüben Mittwochs damit keineswegs zu Ende. Am Abend stand die Feier zum 55. Geburtstag der Mutter an, ein Ereignis, vor dem ihr zu Recht graute, zumal Hartmut keine zehn Pferde in die Karl-Marx-Allee gebracht hätten. Außerdem probte mittwochs die Band.

«Du kommst alleine?», fragte die Mutter zwar scheinheilig, doch war ihr die Erleichterung über Hartmuts Ausbleiben deutlich anzumerken.

Der Vater hingegen musterte sie nur prüfend, wie es seine Art war, unterließ aber angesichts der anderen Gäste die übliche inquisitorische Befragung bezüglich ihrer beruflichen, gesellschaftlichen und höchst privaten Entwicklung, ja, er verkniff sich sogar die obligatorische Bemerkung über ihre unpassende Frisur. Dass sie nagelneue Jeans aus dem Westen trug, fiel ihm wahrscheinlich nicht auf.

Ausnahmsweise war Carola nicht die einzige anwesende Verwandte. Aus Mülsen St. Jacob war Vaters Schwester Ursula mit ihrem Mann Ottfried angereist, die zur Zeit in einem Kaff südlich von Berlin ihren Jahresurlaub verbrachten – um dort den ganzen Tag vor dem Fernseher zu verbringen, wie Carola vermutete. In ihrem vorerzgebirgischen Tal war der Westempfang ausgesprochen mies.

Im Gespräch war selbstverständlich nur vom Adlershofer Programm die Rede, wie es sich in Gegenwart eines Referenten der SED-Kreisleitung gehörte, der noch dazu ganz offensichtlich über einen gesamtwirtschaftlichen und globalpolitischen Überblick verfügte, um den ihn die restlichen Anwesenden nicht einmal zu beneiden schienen.

Onkel Ottfried beispielsweise hakte sich an den allzu optimistischen Prognosen des Hausherrn fest und registrierte erstaunt Carolas aufmunterndes Zunicken.

«Bei der Telefonversorgung sieht’s auch ausgesprochen beschissen aus», ergänzte sie Ottfrieds Einwände nüchtern. «Daran kann auch dein Honecker nichts ändern.»

«Ihr könnt immer nur kritisieren!», schnaubte der Vater. «Habt ihr mal überlegt, unter welchen Bedingungen wir anfangen mussten? Der Krieg …»

«… ist seit 27 Jahren zu Ende», unterbrach Carola den allzu vertrauten Sermon. «Irgendwann müssten doch mal normale Zeiten anbrechen.»

 

Dem Vater verschlug es offenbar die Sprache.

«Na, mit Honecker hat sich doch schon eine ganze Menge geändert», mischte sich Mutters Kollegin Hertha ein, ein Trumm von einem Weib, das der Bowle heftiger zusprach als alle anderen. «Nur der Krenz gefällt mir gar nicht. Aber Lamberz …» Sie verdrehte die Augen schwärmerisch. «Solche Leute hätte Ulbricht sich ranholen heute weiß.»

Natürlich wusste das jeder. Es auszusprechen galt dennoch als Sakrileg.

«Beim letzten Plenum hat Ulbricht ja auch viel gesprochen.» Carola kolportierte damit nur einen Witz, der im Amt umging.

Alle sahen sie ungläubig an. Jeder wusste, dass der entmachtete Erste Mann in keinem Plenum mehr sprechen würde.

«Doch, doch», beharrte Carola, «mit dem Pförtner. Er wollte unbedingt rein …»

In den Mienen der Zuhörer sah sie, dass manche lachen wollten, was der Genosse Vater zu verhindern wusste.

«Die Fehler des Genossen Ulbricht sind ein viel zu ernstes Thema, um darüber frivole Witze zu verbreiten!», wies er seine Tochter zurecht.

«Die meisten politischen Witze kommen aus dem ZK», konterte sie.

In diesem Stil ging es weiter. Das grünstichige Geflacker des neuangeschafften Farbfernsehers beeinflusste das Gespräch nur für kurze Zeit. Vergeblich versuchte der Hausherr, die Vorzüge des französischen Farbsystems gegenüber dem westdeutschen herauszuarbeiten.

«Das haben die Freunde für uns entschieden», stellte Hertha lautstark fest, und niemand widersprach. An einer Moskauer Entscheidung war nicht zu rütteln.

Während Carola ihrer Mutter bei der Vorbereitung des Abendessens half, betrat der Vater die Küche, was selten vorkam. «Was ist los mit dir, Mädel? Musst du denn immer provozieren?», fragte er.

«Provozieren nennst du das, wenn ich von den Mängeln eurer Planwirtschaft spreche? Du kannst gerne mal in unser Amt kommen und die Eingaben der Bürger lesen und wahrheitsgemäß beantworten!»

«Man kann in einer zentral gelenkten Volkswirtschaft nicht alle Zweige gleichzeitig und gleichermaßen entwickeln», dozierte der Alte.

«Ach! Und warum können die das im Westen?»

Seine Miene erstarrte. «So etwas möchte ich nicht von dir hören. Der Klassenfeind …»

«Moment mal!» Carola legte ihm die flache Hand gegen die Schulter. «Weil du gerade vom Klassenfeind sprichst: Ich soll euch beide herzlich grüßen!»

«Von wem?», kam die befremdete Frage zurück.

«Von Rainer. Ich habe ihn neulich in Schmöckwitz getroffen.»

Ganz im Gegensatz zu seiner sonstigen Gewohnheit versuchte der Vater, den Dummen zu spielen. «Was für ein Rainer?»

Das war selbst der Mutter zu viel. «Von Erkenbrechers?», fragte sie ungläubig. «Darf der denn so einfach nach Schmöckwitz?»

«Du hast doch gehört: Unter eurem Honecker hat sich eine ganze Menge geändert.»

Den Vater plagten sofort andere Sorgen. «Du hast ihm hoffentlich keine Adresse oder Telefonnummer gegeben!»

Carola blieb ihm die Antwort schuldig. «Er hatte einen alten jüdischen Onkel aus Amerika dabei. Bist du mit dem eigentlich auch verwandt?»

Der Genosse Weigang schluckte. «Für einen echten Kommunisten existieren keine Rassen-, sondern nur Klassenschranken!», erklärte er schließlich. Eine Antwort war das auch nicht.

«Und ich dachte immer, das Judentum wäre eine Religion», entgegnete Carola.

VIER
Juni 1972

PAUL BARZOW musste dringend in die Kreishauptstadt. Zum Arzt, wie er behauptete, was dem 68-Jährigen jeder ohne weiteres glaubte. Er litt an fortgeschrittener Arthrose, rheumatischen Schüben, zu hohem Blutdruck, leichter Altersdiabetes, einer Fehlfunktion der Schilddrüse, einer harmlosen Form von Hautkrebs, Schlaflosigkeit und noch einem weiteren Dutzend von Beschwerden, um die er sich nicht kümmerte. Er fühlte sich eigentlich ganz gesund.

Die Ausrede mit dem Arztbesuch hatte sich jedoch bis jetzt stets als erfolgreich erwiesen. Irgendeine Urlauberfamilie fand sich immer, die den umgänglichen alten Mann im Auto mit nach Bergen nahm, was ihm den beschwerlichen Weg mit dem Fahrrad zur Bushaltestelle und von dort mit dem häufig überfüllten Linienbus ersparte. Das Fahrgeld durfte er trotzdem abrechnen. So kam eins zum anderen, und sein Konto sah gar nicht mal schlecht aus – jedenfalls nicht so schlecht wie das Warenangebot im Landwarenhaus. Jetzt sollte es sogar ausländische Buntfernseher geben, aber natürlich nicht hier oben im hohen Norden. Mal sehen, was sich da machen ließ. Im Sommer kam er ja kaum zum Fernsehen, da saß er abends mit den Feriengästen vor dem Heim, das deren Betrieb ausgebaut hatte, und schwatzte ein bisschen. Zu trinken gab es reichlich, und verhungern ließen sie ihn auch nicht. Er war beinahe der einzige Einheimische weit und breit und gehörte quasi zur Folklore, wie mal einer festgestellt hatte.

Paul Barzow kannte das Wort nicht. Er lebte bescheiden in seinem Häuschen hinter dem Deich, kaum hundert Schritte von dem noblen Ferienheim entfernt und nur dreihundert von dem kleinen Campingplatz, auf dem sich jeden Sommer die gleichen Eingeweihten einfanden, denen es auf dem kargen Inselchen gefiel. Onkel Paul gehörte dazu, als wären sie alle eine Familie. Nur im Herbst, wenn der Nordwest in Böen über die flache Landschaft fegte, und in den langen Wintermonaten bis März oder April wurde es ein bisschen einsam, da kamen einem der wärmende Grog und vielleicht so ein Buntfernseher gerade recht. Wichtig war nur, dass man damit den richtigen Kanal in Farbe sehen konnte. Mit dem richtigen meinte Paul natürlich den falschen, aber darüber sprach er mit niemandem, obwohl er sonst ganz gerne redete. Die Urlauber hörten ihm zu, wenn er von früher erzählte, vom schweren Leben der Fischer und von der Lastenseglerei, die sein Vater noch betrieben hatte. Damals hatte es noch keinen Rügendamm und kaum Straßen auf der ganzen Insel gegeben. Und viel weniger Feriengäste. Hierher, auf das abgelegene Eiland im Bodden, war überhaupt kein Fremder gekommen.

Richtige Straßen gab es auf dem ersten Teil der Strecke noch immer nicht. Wozu auch? Für die paar Fahrzeuge genügten die längsverlegten Betonschwellen allemal, die sich rings um die Deiche zogen. Egal, ob man links- oder rechtsherum fuhr, man landete immer wieder in dem einzigen richtigen Dorf auf der Insel und musste über die einzige Brücke, um sie zu verlassen. Schon war man auf sagten die Rügener. Viele Heimurlauber gaben zu, den Namen vorher nie gehört zu haben.

Paul kannte eine Menge Geschichten, und er erfuhr eine Menge. Manchmal waren die Urlauber hartnäckig und fragten ihn nach Dingen, über die er nicht gerne redete. Aber nach dem freigiebig ausgeschenkten sechsten oder achten Gläschen entschlüpfte ihm doch mal die eine oder andere Bemerkung über die eigene Vergangenheit, derer er sich insgeheim nicht einmal schämte. Gewisse Leute sahen das anders und hielten ihm den Dienst bei der Deutschen Kriegsmarine vor. Nachdem sie herausgefunden hatten, dass er zu den Freiwilligen für die Zwei-Mann-U-Boot-Waffe Seehund gehört hatte, war ihm nichts anderes übriggeblieben, als den schuldbewussten Sünder zu spielen und auf ihre Vorschläge einzugehen. Gedroht hatten sie ihm nicht. Dennoch verstand er, dass einer mit seiner Vergangenheit nur unter bestimmten Bedingungen im sogenannten erweiterten Grenzgebiet wohnen durfte. Vermutlich schätzten sie seinen Widerwillen richtig ein, in seinem Alter das ererbte Haus und die Insel zu verlassen, auf der er bis auf die Marinejahre sein ganzes Leben verbracht hatte. Vor zehn Jahren war seine Frau gestorben, und kurz vorher war deren einziger Sohn verschwunden, mit dem er sich ohnehin nicht verstanden hatte. Der hatte bei den Mollies gedient, der Grenzbrigade in Matrosenkluft, die zum Gespött echter Fahrensleute, wie Paul einer war, nie aufs Wasser kam. Wohin der Junge gegangen war, erfuhr Paul nicht. Es war von Fahnenflucht die Rede. Damals hatten sie ihn zum ersten Mal mit nach Bergen genommen und einen ganzen Tag lang verhört. Und von da an …

Paul war es längst gelungen, sich einzureden, dass er das Richtige tat. Dass es seinem Vorteil diente, war sowieso klar. Hätte er sich sonst in Bergen in das erste Haus am Platz setzen können, um das teuerste Steak und den besten Kognak zu bestellen? Auch wenn der Laden überfüllt, die Bedienung unfreundlich, das Steak trocken und der Kognak nur Weinbrand aus Rumänien war – Paul genoss es. Und er brauchte nicht zu zahlen. Das besorgte ungefragt der zaundürre Mensch namens Rudi, zu dem er sich ebenfalls ungefragt an den abgelegenen Tisch gesetzt hatte.

Rudi sah sauertöpfisch und ein bisschen magenleidend aus, gab sich jedoch alle Mühe, Paul freundlich zu begegnen.

Sie aßen, Rudi nur Klopse mit Kartoffelbrei, tranken einen zweiten Kognak und sprachen leise miteinander. Das war nicht ganz leicht für Paul, denn sein Gehör ließ schon etwas nach. Nur bei dem Thema Buntfernseher hob er seine Stimme doch ein wenig.

Rudi winkte beruhigend ab. «Ich kümmere mich», versprach er.

Das genügte Paul. Auf Rudi war Verlass, das wusste er. Er schob seinem Gegenüber ein paar Notizen hin, mit ungelenker Hand auf liniertes Papier geschrieben, doch durchaus lesbar. «Nicht viel los mit den Neuen», sagte er. «Die meisten sind zu alt oder mit mehreren kleinen Kindern da. Nur ein junges Paar. Sie arbeitet in der Kaderabteilung, und er angelt den ganzen Tag.» Er kicherte.

«Stellt sich ziemlich dämlich an dabei. Aber die Katze freut sich …»

«Fahren sie mit dem Boot?»

«I wo. Gestern sind sie mit dem Trabbi zur Fähre und rüber nach Wittow.»

«Viel Gepäck?»

«Hab sie leider nicht ankommen sehen. Glaube aber nicht.»

Rudi sah ihn an. Er hatte diesen durchdringenden Blick, den Paul nicht mochte. «Glauben genügt nicht», flüsterte er beinahe. «Wir müssen wissen, verstehst du?»

Paul nickte. «Habt ihr irgendwelche Anhaltspunkte?», fragte er und war sich im gleichen Augenblick bewusst, dass er auf diese Frage so wenig eine Antwort erhalten würde wie auf manche andere.

Er hatte sich getäuscht.

Rudi senkte den Kopf, als spräche er zur Tischplatte, und sagte gedämpft: «Der Feind verstärkt seine Wühltätigkeit. Er hofft, im Zuge der Anerkennungspolitik einen Fuß in unsere Tür stellen zu können. Unsere Beziehungen zu Dänemark sind sehr gut. Aber die Dänen sind auch in der Nato. Das darf man nie vergessen.»

Paul nickte gedankenverloren. Während des Krieges hatte er beinahe ein Jahr in Dänemark verbracht. Ein schönes Land. Und friedliche Leute. «Warst du schon mal in Dänemark?», fragte er.

Verbissen schüttelte Rudi den Kopf. «Dafür sind wir hier im Kreis nicht zuständig.» Er schwieg, als hätte er schon zu viel verraten. Der Gedanke an die nördlichen Nachbarn Dänemark und Schweden versetzte ihm jedes Mal einen Stich. Vor fünf Jahren hatte man ihn auf einem Torpedoschnellboot eingesetzt, einem sogenannten Holzpantoffel, weil der metallbezogene Rumpf eben nur aus Holz bestand. Obwohl an Bord kaum jemand mit ihm sprach, fand er den Verdacht bestätigt, dass ein paar von der Mannschaft heimliche Fluchtpläne schmiedeten. Daraufhin waren diese verhaftet und die ganze Truppe vom einen Tag auf den anderen ausgewechselt worden. Ihn selber hatte Monate später jemand, dessen Identität nie festgestellt wurde, nach einem Kneipenbesuch mordsmäßig verdroschen. Dabei hätten die Kameraden eigentlich heilfroh sein müssen, rechtzeitig von dem Kahn runtergekommen zu sein. Als der neue Kommandant, ein besonders scharfer Hund, während der kritischen Augusttage 1968 den Hinweis bekam, aus Lübeck laufe eine größere Nato-Fregatte aus, beschloss er, mit seiner ausgewählten neuen Mannschaft den Weltfrieden und den Sozialismus im Bruderland CˇSSR durch persönlichen Einsatz zu retten und dem Aggressor mit dem torpedobewehrten Holzpantoffel aufzulauern. In nebelverhangener Nacht bemerkte niemand auf der fahrplanmäßigen Schwedenfähre – denn um die handelte es sich bei der angekündigten feindlichen Fregatte – die Kollision. Mit Mann und Maus versank das Torpedoschnellboot 844 in den Fluten der Ostsee.

«Smuke pike elske dei», sagte Paul in seine trüben Gedanken hinein.

Rudi sah ihn verständnislos an.

«Das ist Dänisch», erklärte Paul, «und heißt: Ich liebe dich.»

Nun war Rudi vollends verwirrt. «Ich wusste gar nicht, dass du Dänisch sprichst.»

«Ich auch nicht», brummte Paul. Mein Gott, manchmal war der Kerl wirklich schwer von Begriff. Und immer so steif und ernst. Mit dem Vorgänger hatte er sich besser verstanden. Manchmal hatten sie sogar zusammen gelacht. Immerhin schien Rudi heute ein wenig zugänglicher als sonst. Deshalb wagte Paul zu fragen: «Haben’s wieder welche versucht?»

 

Diesmal verstand Rudi sofort, was er meinte, und blickte ihn prüfend an. «Ein Ehepaar aus der Nähe von Berlin», sagte er, ohne den Mund wirklich zu öffnen. «Katholiken, wie es heißt.»

Paul hätte gerne gewusst, ob sie es geschafft hatten. Wahrscheinlich nicht, sonst hätte Rudi sie gar nicht erwähnt.

«Du kannst dich auf mich verlassen», sagte Paul. «Ich pass schon auf!»

«Na hoffentlich! Und wenn eine besondere Lage eintreten sollte, weißt du ja, wie du uns erreichst.»

Das war der Schluss des Gesprächs.

Paul hätte gerne noch einen Kognak getrunken. Er hob einen Finger, um die Kellnerin aufmerksam zu machen, und sagte: «Genau darüber müssten wir noch mal ausführlich reden.»

Rudi nickte. «Passt gut. Wir treffen uns beim nächsten Mal dort.» Er schob Paul einen Zettel mit einer Adresse hin.

Das war nun gar nicht in Pauls Sinn. Er kannte das schon. Irgendeine fremde Wohnung, wo ihn die Leute auf der Treppe misstrauisch musterten, und drinnen dann Rudi mit lauwarmem Kaffee und staubtrockenen Keksen. «Nee, nee, ich kann dir das auch hier sagen. Ich finde nämlich, wenn wirklich mal was sein sollte, ist das viel zu umständlich, euch zu erreichen.»

Rudi wollte nicht verstehen. «Du gehst ins Ferienheim und sagst, du musst mit deinem Arzt sprechen – weiter nichts.»

«Na eben. Das glaubt der Jahnke mir nicht mehr. Das ist ein ganz misstrauischer Hund. Ich wähl für dich, sagt der. Und dann?» Jahnke war der Heimleiter, und Paul wurde den Verdacht nicht los, dass der ihm misstraute.

Rudi dachte nach. «Was schlägst du vor?», fragte er schließlich.

Paul hob die breiten Schultern. «Keine Ahnung. Wäre eben besser, wenn ich selber so ’ne Quasselstrippe hätte.» Zum ersten Mal zuckte so etwas wie ein Lächeln um Rudis verkniffenen Mund. «Davon träumen ganz andere als du», sagte er. «Wäre auch gegen die Konspiration. Wie willst du erklären, dass ausgerechnet du plötzlich ein Telefon kriegst?»

Das klang einleuchtend. «Telefone soll’s jetzt auch über Genex geben», wandte Paul dennoch ein. «Vielleicht wäre das ’ne Möglichkeit als Begründung. Könnte ja irgendwelche Westverwandtschaft spendiert haben …»

Westverwandtschaft zu erwähnen war natürlich dämlich. Sofort meldete sich das Unbehagen wieder, das ihm die Postkarte eingeflößt hatte, die vor ein paar Tagen eingetroffen war. Von seinem alten Obermaat auf dem Zerstörer Albatross. Würde gerne mal zwei, drei Wochen Urlaub bei dir machen, schrieb der. Soll ja jetzt alles ganz einfach gehen …. Der hatte vielleicht Ahnung, da drüben in seinem Kaff irgendwo im Oldenburgischen!

Rudi wirkte tatsächlich wie elektrisiert, aber aus einem anderen Grund. «Woher stammt dieses Genex-Gerücht?», wollte er wissen.

Paul merkte, dass er mit der Erwähnung des West-Geschenkdienstes für Ostdeutsche einen Fehler gemacht hatte. «Muss irgendein Urlauber erzählt haben», sagte er matt.

«Wer?»

Wieder hob Paul hilflos die Schultern. «Kann mich wirklich nicht erinnern. Da sitzen abends manchmal zehn, zwölf Leute beieinander, und jeder sagt was, und alle reden durcheinander. Und getrunken wird auch was …» Er sah schuldbewusst auf den Kognak, den ihm die Serviererin hingestellt hatte.

«Aber so etwas darf man nicht einfach auf sich beruhen lassen», sagte Rudi eindringlich. «Dem Ursprung solcher Gerüchte muss man nachgehen bis an die Wurzel. Mit derartigen Lügen versucht der Gegner uns zu schaden.»

«Wär’s da nicht einfacher, man zieht ’n paar Strippen mehr, und alle Leute hätten Telefon?», sagte Paul treuherzig. «Da stünde der Gegner schön da …»

Rudi zog die Stirn kraus und schüttelte den Kopf.

«Du hast Ideen!», sagte er, bevor er sich der Serviererin zudrehte, die unter den argwöhnischen Blicken einer Traube Wartender missmutig den Nebentisch abräumte. «Mir auch noch ’n Kognak!»

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