Aylas Odyssee

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Aylas Odyssee
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

Helma Ritter

AYLAS ODYSSEE

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2016

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Danksagung

Aylas Odyssee

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2016) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte bei der Autorin

Umschlagbild © Sven Ritter

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2016

Herzlichen Dank an

Annabelle

»Strassberger«, meldete sich eine spröde Frauenstimme.

»Guten Tag, hier ist Ayla. Ich möchte Bernd sprechen.«

»Er ist nicht da.«

»Dann rufe ich wieder an. Wissen Sie, wann er kommt?«

»Nein, das kann dauern. Wir haben ihn gestern in Bautzen besucht.«

Ayla begann zu stottern: »Wie, was heißt das?«

»Er wollte nach Prag. Dussligerweise gab er das auch noch zu. An der Grenze wurde er festgenommen.«

»Wieso? Er hat mir nichts davon gesagt.«

»Uns auch nicht! Die ganze Sache finden wir schlimm. Aber nun ist es zu spät!«

»Ich wünsche Ihnen alles Gute. Danke für die Auskunft. Auf Wiederhören.«

»Auf Wiederhören.«

Ayla fiel die Kinnlade runter. Schöne Aussichten.

Was soll nun werden, aus ihr und dem Baby? Sie ging geknickt nach Hause. Ihre Knie waren weich, der Körper erschien ihr wie eine schwere Last, die sie trug. Wie dumm war sie eigentlich? Der wollte nach dem Westen! Hatte er sie nur benutzt? Jetzt saß er im Knast, du meine Güte! An so was mochte sie sonst nicht mal denken.

Sie kam fast wankend zu Hause an. Ihre Mutter saß im Garten und rauchte. »Wie siehst du denn aus? Geht es dir schlecht? Du bist käseweiß!«

Ayla setzte sich auf einen Gartenstuhl, ihr schossen die Tränen in die Augen. »Das kann doch nicht wahr sein!«, brach es aus ihr heraus.

Ihre Mutter drückte die halbe Zigarette aus, wandte sich besorgt zu ihr und fragte: »Was?«

»Dieser Dussel von Bernd ist im Knast!«

»Weshalb?«

»Er wollte nach dem Westen!«

»Was du immer für Freunde hast!«

»Ich kann doch nichts dafür! Schlimm ist nur, dass ich schwanger bin.« Sie heulte nun haltlos. Ihre Mutter brauchte eine Weile, um alles zu verarbeiten. Dann polterte sie los: »Konntest du nicht aufpassen? Was soll jetzt werden? Du hast doch keine Aussicht auf irgendetwas!«

Soweit hatte Ayla bisher nicht gedacht. Für sie war erst mal ihre Beziehung zu Ende. Alles lastete fortan allein auf ihr, ohne einen Partner. Was sich daraus noch ergeben würde, woher sollte sie das wissen!

Ihre Mutter schüttelte den Kopf. »Ich dachte, du bist klüger. Uneheliches Kind, Vater im Knast, du meine Güte! Andere Töchter kommen bestens zurecht, bei dir geht alles abwärts! Ich hatte mir deine Zukunft anders vorgestellt!«

»Was soll ich denn deiner Meinung nach tun? Das alles konnte ich doch nicht voraussehen. Ich bin nicht an allen Fakten schuld.«

»Das stimmt. Aber wir müssen erst mal die Klappe halten, damit du nicht noch in die Angelegenheit reingezogen wirst.«

»Daran dachte ich noch gar nicht, aber ich wusste nichts von seiner Flucht!«

»Gut. Dann darfst du ihn nicht als Vater angeben. Du weißt eben nichts!« Ihre Mutter zündete sich eine neue Zigarette an.

»Gib mir auch eine«, bat Ayla. »Willst du ein krankes Kind? Mit all’ diesen Sachen ist jetzt Schluss, nimm’ dich zusammen … und kein Wort davon zu Vater!«

Ayla schüttelte sich. So sah es aus, wenn man Mutter wurde! Ganz neue Erkenntnis für sie.

Sie ging ins Haus, wusch ihr Gesicht, dann stieg sie die Treppe hoch. In ihrem Zimmer legte sie sich aufs Bett und schloss die Augen.

Als ihre Mutter eine halbe Stunde später nach ihr sah, schlief sie fest. Sie deckte sie zu und stieg sehr langsam die Treppe runter. Was sollte sie denn Christian sagen? Dieses Wochenende war Bernd einfach nicht gekommen. Nun wusste sie, warum. Ihrem Mann hatte der nicht gepasst, ihr auch nicht so richtig, aber nun würde ein Kind kommen. Na, das kommt erst in acht Monaten. Da musste eben einiges vorbereitet werden. Dann noch die Leute in der Siedlung! Mein Gott, das hätte alles nicht sein müssen!

Sie ging in die Küche, bereitete das Abendessen. Als sie das Geschirr ins Wohnzimmer trug, hörte sie Schritte vor der Haustür. Christian kam herein und brummte, dass er endlich fertig sei. Der Garten hätte ausgesehen bei der Alten, die könne auch kaum noch was tun. Aber er hat es angepackt, nun sei Grund drinnen.

»Wir können essen«, sagte Marion. Er wusch sich die Hände, kam an den Tisch und fragte, ob Ayla wieder mit Bernd unterwegs wäre, weil nur zwei Gedecke zu sehen waren. »Nein, sie schläft. Ihr ging es nicht gut, da hat sie sich hingelegt.«

»Was Ernstes?«, fragte Christian.

»Nein, nein, sie kann sicher morgen arbeiten. Vielleicht, weil Bernd nicht kam.«

»Na, der braucht von mir aus hier nicht mehr aufkreuzen, dieses Würstchen!« Marion sagte nichts dazu. Sie aß ihr Brot und trank Tee. »Bist du fertig geworden, mit dem Garten?«

»Da wird man nie fertig, was denkst du, wie es bei der aussieht!«

Sie räumte das Geschirr in die Küche. Noch ein wenig fernsehen, morgen muss sie zeitig aufstehen.

Mit diesem Bernd hatte sich einiges geändert. Durch ihn war Ayla wieder mehr zugänglich geworden. Vorher hatte sie manchmal tagelang nicht mit ihnen gesprochen. Ayla war noch in der Lehre. Was sollte da werden, wenn sie die nicht abschließen könnte? Mit einer Schwangerschaft hatte sie so schnell nicht gerechnet.

Sie schaute in den Fernseher, ein Krimi, interessierte sie nicht, aber sie brauchte nicht mit Christian reden. In ihrem Kopf überschlug sich heute alles. Vielleicht könnte sie morgen mit einer Kollegin sprechen, das überlegt sie sich noch.

Ayla hatte die ganze Woche gearbeitet. Ihr Kopf war leer gewesen. Ihre Arbeit befriedigte sie nicht, den ganzen Tag durchs Mikroskop Abstriche beurteilen, klar war das verantwortungsvoll. Man lernte viele unterschiedliche Zellen kennen. Sie merkte aber auch, dass sie zu wenig wusste. Manchmal gab es Grenzfälle, wo kein eindeutiges Urteil möglich war. Dann die vielen Reinigungsarbeiten, alles musste blitzsauber sein. Ihre Mutter hatte Freude an ihrem Beruf. Sie hatte ihr die Lehrstelle beschafft. Aber Ayla träumte von Bewegung in ihrem Leben. Den ganzen Tag im Labor zubringen, dass stresste sie.

Am Wochenende ging sie zu den Großeltern. Sie wohnten im gleichen Ort. Dort war sie als kleines Kind gewesen. Ihre Mutter arbeitete in Leipzig.

Einen Kindergarten hatte sie nicht besucht. Sie konnte im Garten spielen. Später hatte sie der Oma geholfen, die Tiere zu versorgen, Beeren oder Gemüse zu ernten. Das war für sie eine schöne Zeit gewesen. Immer war eine Katze da, die sich streicheln ließ. Heute wollte sie vor allem von zu Hause weg. Mit der Oma konnte sie über ihre Probleme nicht reden, dass musste sie ihrer Mutter versprechen, Funkstille! Ayla seufzte, gleich ist sie da. Sie wickelte die Blumen aus dem Papier. Ihre Oma liebt Nelken.

»Na, heute kein Rendezvous?«, wurde sie begrüßt.

Ayla lachte. »Nein, ich wollte mal sehen, was ihr macht!«

»Immer dasselbe, viel Arbeit.« Ihre Oma spülte gerade das Geschirr. Ayla nahm ein Wischtuch und trocknete ab. »Wir können dann im Garten Kaffee trinken, ich habe einen Käsekuchen gebacken.«

»Wieso Käsekuchen?«

»Na, du weißt schon, Quarkkuchen, früher hieß es eben so.«

»Wo ist denn Opa?«

»Er sitzt im Wohnzimmer und liest, vielleicht schläft er auch inzwischen. Lass ihn mal. Du kannst ihn zum Kaffee begrüßen.«

»Geht es dir gut?«

»Ach, der Rücken. Wenn du Krankenschwester wärst, könntest du mir mal eine Spritze geben, so reibe ich ihn mir ab und an ein, na, es geht.«

»Vielleicht werde ich noch Krankenschwester. In dem Labor ist es nicht das Wahre.«

»Hast du schon genug von all’ den Zellen?«

»Ach, die ewige Putzerei ist noch schlimmer.«

»Als Schwester musst du auch alles sauber halten, sogar steril.«

»Aber man hat mit Menschen zu tun, ist doch interessanter.«

»Na, komm, wir gucken mal in den Garten.«

»Ihr habt es schön. Bei uns die Enge, überall Nachbarn.«

»Ja, ja. Aber die Arbeit …«

»Mutter hat alles voller Blumen, dauernd kommen neue hinzu, hier ist mehr Platz. Wenn irgendetwas blüht, fällt es viel mehr auf.«

»Ein paar mehr Blumen wären nicht zu viel, der Opa hat keinen Sinn mehr dafür. Früher waren hier Rosenbüsche und Rabatten mit Iris. Jetzt sehe ich manchmal, dass er Blumen einfach ausgräbt.«

 

»Warum tut er so was?«

»Ach, er will überall was ernten.«

Ayla lachte: »Typisch. Als ich klein war, sagte er immer: ‚Pass auf, dass du mir nicht auf die Pflanzen trittst.’«

»Ja, so ist er. Hol’ mal noch einen Stuhl aus dem Schuppen, dann haben wir alle Platz.« Eine Weile saßen sie ruhig da, die Oma rauchte eine Zigarette. Wie immer war sie sorgfältig gekleidet. Die Haare wurden durch ein Band gehalten, sie waren sehr gekräuselt.

»Färbst du deine Haare selbst?«

»Nein, ich gehe zum Friseur. Farben auftragen, das ist mir nichts.«

»Du siehst gut aus. Die Farbe gefällt mir, nicht mehr so dunkel, wie früher.«

»Na, ich weiß nicht. Ich war an meine schwarzen Haare gewöhnt.«

»Ach, so siehst du jünger aus.«

»Findest du? Opa sieht das nicht.«

»Er sagt es bloß nicht.«

Sie standen auf, um den Kaffee zu kochen. »Kann ich Tee haben?«, fragte Ayla, bemüht, nicht unsicher zu klingen.

»Dann nimm die kleine Kanne, Tee steht hier im Schrank.«

Die Wohnzimmertür wurde geöffnet, der Opa kam in die Küche. »Was macht ihr für einen Krach? Da bin ich gleich aufgewacht.«

»Es wird Zeit, Kaffee zu trinken, da möchtest du hoch kommen.«

»Trinken wir hier?«

»Nein, wir gehen in den Garten.«

»Na, weil du da bist«, er gab Ayla die Hand. Sie lachte ihn an: »Ist doch schön in eurem Garten.«

»Schick mal deinen Vater her. Am Zaun muss ein Baumstumpf ausgegraben werden, das schaffe ich nicht!«

»Ich sag’s ihm. Er arbeitet am Wochenende immer bei einer alten Frau. Aber das muss er eben einrichten.«

»Wir können raus. Ayla, nimm den Kuchen, das Tablett nehme ich selbst.«

»Ich öffne euch die Türen«, sagte der Opa fröhlich.

Am Sonntag reinigte Ayla vormittags ihr Zimmer, und in der Maschine wurde für alle die Wäsche gewaschen. Das Wetter war schön, so trocknete alles schnell im Garten. Nach dem Essen legte sich ihre Mutter hin, und Ayla drehte eine Runde mit dem Hund. So verging der Tag in entspannter Atmosphäre.

Beim Abendbrot sagte ihre Mutter, dass sie am nächsten Tag später nach Hause käme. Sie müsse an der Montags-Demo wenigstens ein Mal teilnehmen. Christian knurrte sie an: »Wofür soll denn das gut sein? Es ändert sich doch sowieso nichts. Vielleicht gibt es bei den Russen Glasnost und Perestroika, hier gibt es nicht mal Reise-Freiheit.«

»Das weiß man doch nicht. Von der Uni gehen viele zur Demo. Von unseren Labors gehen alle. Ich kann mich nicht ausschließen.«

»Pass bloß auf, wenn da was passiert. Ich weiß ja nicht!«

»In die Kirche gehe ich nicht, ich bin kein Christ. Dann fahre ich so schnell wie möglich nach Hause.«

»Willst du vielleicht noch nach dem Westen abhauen, dann sag’ mir Bescheid, damit ich mir Ersatz suche!«

»Quatsch! Ich habe meine Arbeit, wir haben unser Haus, da sehe ich keinen Grund.«

»Bin ich beruhigt. Was ist mit dir, Ayla? Gehst du etwa auch zur Montags-Demo?«

Ayla schaute ihre Mutter an. Die schüttelte den Kopf. So sagte sie leichthin: »Nein, ich komme nach Hause und helfe dir.«

»Da siehst du es«, konterte Christian, »die Jugend ist vernünftiger, als man denkt.«

Einige Tage später wachte Ayla auf. Schnell musste sie ihr Bett verlassen, gerade schaffte sie es noch ins Bad zu kommen. Ihr Innerstes krampfte sich zusammen und entlud den Mageninhalt. Ihre Mutter war schon zur Arbeit gefahren. Ihr Vater fragte sie: »Was hast du gegessen?«

»Noch nichts!«, sagte Ayla, »ich bin schwanger.« Ihr Vater schaute sie an, als verstünde er das Wort nicht. Na, gut, dachte Ayla, um so besser! Aber sie hatte sich geirrt. Er setzte sich auf den nächsten Stuhl und schrie sie an: »Sag’ das noch mal!« Ayla sagte nichts, sie drehte sich um, ging ins Bad und schloss zu. Sie duschte, putzte die Zähne, da würgte es wieder etwas, aber sie musste nicht brechen.

Nach einer Weile klopfte ihr Vater an die Tür:

»Komm jetzt raus!«

»Nein, wenn du mich so anschreist, bleibe ich hier.«

»Ich weiß von nichts, da muss ich doch schreien dürfen!«

»Werdende Mütter schreit man nicht an, auch wenn es die eigene Tochter ist.«

»Wenn du nicht aufmachst, muss ich die Tür öffnen, bitte komm’ raus!«

»Bist du freundlich zu mir?«

»Ich versuche es; dem Kerl könnte ich den Hals umdrehen.«

»Zu spät, er wurde eingesperrt.«

»Wie? Das Würstchen sitzt im Knast?«

»Ja.«

»Wieso sagt mir hier keiner was?«

»Weil du immer gleich brüllst.«

»Komm’ raus, dann frühstücken wir, und du erzählst mir, was Phase ist.« Ayla drehte den Schlüssel rum und kam in den Flur. »Ich muss mich noch anziehen.« Sie ging in ihr Zimmer. Ihr Vater kochte inzwischen Tee.

Ayla kam herab und half ihm, das Frühstück zuzubereiten. Sie wusste nicht, ob sie essen sollte oder es lieber bleiben ließ. »Was sagt Mutter dazu?«

»Sie hat Verständnis, fast so wie du.« Hinter Christians Stirn arbeitete es: Ist das eine Frechheit von ihr? Oder hat Marion die ganze Sache gebilligt?

»Ich kann heute nicht ins Labor fahren, sonst kriegen die gleich Wind.«

»Ja, aber, was soll denn da werden? Was hat der gemacht?«

»Er wollte abhauen.«

»Ich kann den nicht ausstehen, aber das ist doch ein dickes Ding.«

»Sie haben ihn an der Grenze geschnappt.« »Wollte der dich etwa mitnehmen?«

»Mir hat er nichts gesagt. Aus der ganzen Sache soll ich mich raushalten, sagt Mutter!« »Klar, bloß gut, dass du hier bist.«

»Kannst du nachher mal im Labor anrufen, dass ich krank bin?«

»Schreib’ die Nummer auf, dann rufe ich von Arbeit aus an.«

Als sich das Brechen häufte und Schwäche-Attacken dazu kamen, fand auch Marion, dass es das Beste wäre, die Lehre abzubrechen, damit Ayla in Ruhe gelassen würde. So war sie nun daheim und kapselte sich immer mehr ab. Je mehr ihr Umfang zunahm, um so seltener verließ sie das Haus. Allenfalls ging Ayla mit dem Hund spazieren, früh oder mittags, wenn sie kaum jemanden traf. Die Folge waren fast depressive Zustände. Sie heulte oft, lag stundenlang und tat nichts. Dann wieder raste sie durchs Haus, damit ihre Eltern nichts von ihrem seelischen Zustand merken sollten. Schließlich zog sie sich auch von ihnen zurück. Sie hatte kein Einkommen, war hauptsächlich auf Geld von ihrer Mutter angewiesen. Dafür dankbar zu sein, fiel ihr zunehmend schwerer. Für das Baby fertigte sie keine Sachen an, es musste alles gekauft werden, da wurde gespart und kein hohes Niveau angepeilt.

Eines Abends saß die Familie vorm Fernseher. Plötzlich wurde der Fall der Mauer verkündet. Christian konnte es am wenigsten fassen. Er hatte schlicht nicht damit gerechnet, jemals ein vereintes Deutschland zu erleben. Marion freute sich, weil sie so ungehindert ihre Verwandten in Süddeutschland besuchen konnte. Ayla erschrak. Sie dachte an Bernd, dessen Opfer ihr nun noch sinnloser erschien.

Am nächsten Tag ging sie zur Post und rief einen Freund von Bernd an. Vielleicht wusste der ja, was aus ihm geworden war. Ronny sagte: »Bernd, der ist schon lange in Giessen. Ich traf vor ein paar Wochen seine Mutter. Sie sagte es mir. Mehr weiß ich auch nicht.«

In der DDR setzte zunächst Aufbruchstimmung ein. Die noch da waren, hofften auf ein freieres, besseres Leben. Im Westfernsehen hatten sie jahrelang die schönen und glücklichen Menschen bewundert, so wollten viele auch leben. Sie hofften auf die D-Mark. Wenigstens konnten sie einen kleinen Betrag als Begrüßungsgeld abholen. Auf den Autobahnen bildeten sich Kolonnen von Trabbis, die auf dem Weg in die grenznahen Städte waren. In Berlin feierten die Menschen am Brandenburger Tor die offene Grenze. Viele warteten darauf, dass schnell die Einheit herbeigeführt würde. Was dabei unterging, war, dass es keine Vereinigung beider Staaten gab. Während sich die Leipziger noch feierten als die Helden der friedlichen Revolution, wurden schon Beschlüsse darüber gefasst, wie ihre Betriebe, Verlage geschlossen werden sollten, wie viele Menschen ihren Arbeitsplatz verlieren würden, dass leitende Stellen mit Wessis zu besetzen seien. Zu den vielen, die vor Öffnung der Mauer die DDR verlassen hatten, kamen nun diejenigen dazu, die ihren Job, ihre Existenz eingebüßt hatten und sich Arbeit im Westen suchen mussten.

Aylas Eltern waren zunächst nicht betroffen. Sie behielten ihre Arbeit, besaßen ihr Häuschen. Ayla merkte zunehmend die Bewegungen ihres Babys. Wenn sie in ihrem Zimmer allein war, streichelte sie ihren Bauch. Manchmal boxte das Kind nach ihrer Hand, als gäbe es eine Reaktion.

Dann fühlte sie sich nicht mehr so isoliert. In ihr war ein Wesen, dass selbständig agierte. So freundete sie sich mit dem Gedanken an, dass nach der Entbindung ein Sinn in ihr Leben käme. Na, wenn es nur schon so weit wäre, dachte sie besorgt, wegen der Aufgabe, die vor ihr war.

Anfang des Jahres 1990 gebar Ayla einen gesunden Jungen. Sie nannte ihn Manuel. Ronny schickte sie eine Karte, um die Geburt mitzuteilen. Seltsamerweise hoffte sie, von Bernd dadurch eine Nachricht zu erhalten. Je länger sie wartete, umso mehr musste sie einsehen, dass da nie etwas passieren würde. So versank Ayla in einem Strudel von Mutlosigkeiten. Ihr Tagesablauf bestand darin: das Baby reinigen, wickeln, füttern. Außerdem musste sie immer wieder versuchen, mit ihren Eltern eine erträgliche Balance zu finden. Sonst hatte sie nur noch Kontakt zu ihren Großeltern.

Alle hatten mit den Veränderungen durch die Wende zu kämpfen. So gab es nicht viel Zuspruch für Ayla. Auch die Oma machte kein Hehl daraus, dass Ayla sich nicht gerade klug verhalten hatte. Ihre eigenen Sorgen waren anderer Art. Durch den Verkauf von Äpfeln konnten sie über Jahre ihre Rente aufbessern. Mit der Wende wurden die Sammelstellen geschlossen. Da ihre Ernte bis zu 100 Zentner jährlich betrug, war das ein harter Einschnitt.

Ayla, die selbst nicht wusste, wie sie jemals Geld verdienen sollte, fühlte sich von allen im Stich gelassen. Für die Sorgen anderer fehlte ihr oft das Verständnis. Schließlich war sie es doch, die litt, verlassen wurde und keinen Silberstreif am Horizont erkennen konnte, oder wie die ganz Klugen das Fehlen von irgendwelchen freundlichen Aspekten ausdrücken würden.

Kurz vor Weihnachten rief sie wieder Ronny an, um etwas von Bernd zu hören. Aber der wusste auch nichts Neues. Insgeheim argwöhnte sie schon, dass die beiden Kerle unter einer Decke stecken würden. Aber weil Ronnys Eltern inzwischen nach dem Westen gezogen waren, fragte er Ayla, ob sie nicht mit Manuel zu ihm ins Haus ziehen wolle. Zuerst hielt sie es für einen Witz, eigentlich kannte sie Ronny kaum. Aber er sagte:

»Ich meine das ernst, überlege es dir!«

Die Stimmung war bedrückend. Ayla versuchte, sich dieser Spannung zu entziehen. Vom Wohnzimmer ging sie die Treppe hoch in ihr Zimmer, öffnete den Schrank, da hingen noch ein paar ungeliebte Sachen, die sie nicht mitnehmen wollte. Sie schloss die Tür. Im selben Moment wurde die Zimmertür langsam geöffnet, Manuel guckte rein:

»Mama. Durst.«

»Ich habe hier noch zu packen, warte, gleich bekommst du Saft.« Ayla hatte keine Lust, herunter zu gehen, die Gesichter ihrer Eltern zu sehen, ständig, die Vorwürfe zu hören. Morgen früh wird sie ihren Koffer und ihr Kind nehmen. Dann fängt für sie ein neues Leben an. Manuel kramte in dem Regal neben seinem Bettchen. Er zeigte seiner Mutter die kleinen Murmeln. »Mit!« sagte er. »Manuel, höre auf, stecke sie in den Rucksack, dann Schluss!«

Die Murmeln rollten über den Boden. Er hielt die Schachtel in der Hand und schaute verdutzt hinunter. »Ach, das fehlt uns jetzt noch! Lies die da drüben auf, sonst fallen wir hin.« Manuel lag auf dem Bauch und versuchte die Murmeln unter dem Bett vorzuholen. Ayla holte einen Besen, damit sie alle erwischt. Sie schaute sich im Raum um, diese Enge, draußen regnete es.

Hoffentlich hat sie morgen besseres Wetter, aber was soll’s! Manuel stand da und bohrte in der Nase. Sie griff in ihre Jacke, nahm ein Tempo und reinigte seine Nase. »Aua!« jammerte er. »Hab’ dich nicht so, das war doch sehr zart.« Sie nahm ihn an der Hand, um nun doch runter zu gehen. Er zog seine Hand weg: »Alleine!« Sie möchte am liebsten weinen, riss sich aber zusammen. In der Küche gab sie Manuel ein kleines Glas Saft. Ihre Mutter bereitete das Abendessen. »Wir können essen, decke mal den Tisch!« Hier bleibt sie doch ewig das Kind, das gehorchen soll. Endlich mal frei sein und tun und lassen, was man will. Das braucht ihre Mutter nicht zu wissen, was in ihrem Kopf abläuft!

 

Sie trugen alles ins Wohnzimmer und setzten sich an den großen Tisch. Ihr Vater kam von draußen rein und setzte sich auf seinen Platz, ohne jemanden anzugucken. Er nahm die Bierflasche, goss sein Glas voll und fing sofort an zu essen. Die Stille wirkte unerträglich, nur Manuel rutschte auf seinem Stuhl rum. »Sitz still!« fuhr ihn der Opa an. Der Junge zog den Kopf ein und legte sein Schnittchen auf den Teller. »Kein Hunger!«

»Hier wird gegessen, in Halle könnt ihr machen, was ihr wollt, von mir aus verhungern!«

»Christian, es reicht!« schaltet sich ihre Mutter ein.

»Na, ist doch wahr. Wir haben alles für die getan. Erst bringt sie uns den Bankert, dann haut sie ab. Wofür arbeiten wir eigentlich?« Ayla steigen die Tränen in die Augen. So eine Gemeinheit! Wie lange hält sie das schon aus? Sie wischte über ihr Gesicht, streichelte ihrem Jungen über den Rücken: »Iß die kleine Schnitte auf, bitte!« Manuel guckte sie mit großen Augen an, dann nahm er das Brot in die Hand und biss hinein. Ihre Mutter schüttelte den Kopf: »Kann nicht heute Abend wenigstens mal Frieden herrschen? Man weiß doch eh’ nicht, wie das alles weitergeht.«

»Nimm’ sie nur noch in Schutz! Ich will mit den ganzen Sachen nichts mehr zu tun haben!« Er hatte vier Schnitten gegessen, trank sein Bier aus, stand auf und ging ins Nebenzimmer. Sie hörten, wie der Fernseher anging.

»Wann geht denn morgen dein Zug?«

»Halb acht, kurz nach neun sind wir in Halle, dann mit der Straßenbahn bis zur Endstelle. Ronny holt uns am Bahnhof in Halle ab.«

»Mein Gott! Hoffentlich geht das alles gut! Rufe mich abends an. So gegen sechs, da bin ich wieder zu Hause.«

Sie ging zum Schrank, gab ihrer Tochter einen Umschlag. »Etwas Geld, Vater weiß nichts davon.«

»Danke!« Ayla umarmte ihre Mutter: »Du wirst mir fehlen.«

»Pass auf euch auf! Wenn es nicht klappt, komm’ wieder zurück!«

»Ronny ist in Ordnung, mach’ dir keine Sorgen!«

Nachts schlief Ayla kaum. So sicher, wie sie sich ihrer Mutter gegenüber gegeben hatte, war sie nicht. Diesen Ronny kannte sie kaum. Sie hatte ihn mal zusammen mit Bernd in Halle getroffen. Da war er ihr unscheinbar erschienen. Jetzt bot er ihr an, mit im Haus seiner Eltern zu wohnen, das er praktisch verwaltete. Ayla erschien dieses Angebot verlockend. Plötzlich hatten sie ein eigenes Haus, auch wenn es ihnen nicht gehörte. Wovon sie leben würden, darüber zerbrach sie sich nicht den Kopf. Ronny hatte sie eingeladen, also sollte er sich kümmern.

Irgendwann war sie eingeschlafen. Sie wachte auf, als ihre Mutter duschte. Sie fuhr jeden Morgen zur Arbeit in die Stadt. Manuel atmete noch ganz tief und schlief fest. Ayla stand leise auf, um sich von ihrer Mutter zu verabschieden. Sie ging in die Küche und kochte Tee für beide. Sie aßen ein Brötchen und beobachteten sich verstohlen. Ihre Mutter fing als erste an zu weinen, da konnte Ayla ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. Sie drückten ihre Körper aneinander, ihre Gesichter waren aufgelöst. Dann musste ihre Mutter gehen. Ayla ging mit bis zum Gartentor. Auf der Straße schritt ihre Mutter allmählich immer schneller aus. Sie drehte sich mehrmals um, dann winkten sich beide Frauen zu. Schließlich war sie an der Kreuzung aus dem Blickfeld verschwunden. Ayla holte tief Luft, laut sagte sie: »Pack’s an!«

In der Küche räumte sie leise auf und stieg dann die Treppe rauf zu ihrem Zimmer. Manuel blinzelte, als sie die Tür öffnete. »Schlaf ’ noch«, flüsterte Ayla und setzte sich aufs Bett. Der Koffer stand gepackt in der Ecke, die Tasche daneben. In Kürze würde ihr Vater das Haus verlassen. Ihm wollte sie nicht mehr begegnen. Dann mussten sie sich beeilen, damit sie den Zug erreichten.

Kurze Zeit später polterte es im Haus. Ihr Vater rief: »Ayla, wo steckst du?« Ihr stellten sich die Nackenhaare auf. Die Tür öffnend, schaute sie die Treppe hinab. Da stand er, von seinem Finger tropfte Blut. »Oh, je, was ist los?«

»Na, was schon, ich habe mich geschnitten. Kommst du endlich runter und hilfst mir?«

»Manuel, steh’ auf, ich komme gleich wieder.«

Sie ging schnell nach unten, nahm Verbandszeug aus dem Fach im Bad und gebot ihrem Vater sich zu setzen. Mit einem Spray säuberte sie die Wunde, tupfte das Blut ab und klebte ein Pflaster drauf. »Das heilt jetzt!« Im Wegräumen entfernte sie sich von ihrem Vater und wollte zur Treppe gehen. Da herrschte er sie an: »Willst du nicht für alle das Frühstück machen? Ich fahre euch zum Bahnhof; auf Arbeit fange ich heute später an«. Staunend sah sie ihren Vater an. War das der Bösewicht von gestern Abend und der letzten Zeit?

»Ja, ja, geht los«, sagte sie so barsch wie möglich, damit keine sentimentale Stimmung aufkommen konnte.

Nach dem Frühstück beluden sie das Auto, setzten Manuel rein, dann fuhr ihr Vater los. Am Bahnhof gab er ihr einen Schein. »Für die Fahrkarten, mach’ mir keine Sachen! Mutter erdrückt das völlig!« Er klopfte ihr auf die Schulter, gab dem Jungen die Hand, drehte sich schnell um und ging zum Auto, ohne sich noch einmal umzuwenden. Da merkte Ayla zum zweiten Mal, wie weh ihren Eltern ums Herz sein musste Sicher war ihr eigenes Leid so groß gewesen, dass sie wenig darüber nachgedacht hatte, wie ihnen zumute gewesen war. Vielleicht würde sich die Trennung für alle auch als heilsam erweisen.

Jetzt kam der Zug. Sie hob Manuel hinein, dann das Gepäck, stieg ein, und schon ging es ab. Sie verstaute alles und setzte sich neben ihren Jungen. Manuel freute sich über die Fahrt. Er drückte sein Gesicht an den Teddy und schaute sich im Abteil um. Von seinem Sitz aus sah er, wie Jugendliche die Treppe hoch gingen. »Oben fahren?«, fragte er seine Mutter.

»Ein anderes Mal, heute haben wir das viele Gepäck.«

Ehe sie sich versahen, hielt der Zug in Leipzig. »Wir müssen laufen, damit wir den Zug nach Halle erreichen. Manuel pass auf, fasse mich lieber an!« Der Zug war ziemlich lang, aber trotzdem voll. Viele saßen schon in den Abteilen, aber immer noch stiegen Leute mit Koffern und Rucksäcken zu. Ein junger Mann half Ayla, ihr Gepäck hereinzuheben. Sie bekam gerade noch einen Platz und nahm Manuel auf den Schoß. Diese Fahrt war beschwerlicher. Der Zug fuhr schnell, da mussten sie achtgeben, dass sie nicht von der Kante kippten.

Ständig drängelten Leute an ihnen vorbei. Manuel wollte immer mal aufstehen, aber bei dem Gedränge hielt sie ihn lieber fest. Endlich kamen sie in Halle an. Ronny hatten sie noch nicht erspäht. Sie schaute suchend über den Bahnhof, überall drängten Reisende an ihnen vorbei. Ayla entschloss sich, eine viertel Stunde zu warten, ob Ronny noch käme. Sie setzten sich auf eine Bank und fixierten die Passanten. Langsam vergingen die Minuten und nichts geschah. Der Bahnsteig, auf dem sie angekommen waren, hatte nur noch sie beide. Wahrscheinlich hatten sie sich verfehlt. Sie standen auf und gingen zur Straßenbahn vor dem Bahnhof. Zum Glück wusste sie die Nummer und die Richtung. So kamen sie allein zurecht. Die Fahrt kam ihr endlos vor, außerdem wusste sie nicht, ob Ronny daheim sein würde. Als sie an der Endstelle ausstiegen, lag noch ein Weg von einigen Hundert Metern vor ihnen. Ayla beglückwünschte sich schon jetzt für ihre tollen Ideen. Der Koffer ließ sich tragen, und Manuels kleine Füße wurden immer schwerer. »Nein!«, rief er fast weinend.

»Dort vorn, das kleine Haus, da wollen wir hin.«

»Kann nicht mehr!«

»Manuel, ich muss den Koffer tragen, wir sind doch fast da.«

»Durst!«

»Ja, ich auch. Streng dich an, dann dauert es nicht so lange.«

Er hockte sich hin. Ayla stellte den Koffer ab, nahm die Tasche runter. Sie strich ihm über den Kopf.

»Du warst doch ganz tapfer. Das kleine Stück schaffen wir nun auch noch!«

»Meine Beine!«

»Du kannst dich dann ausruhen, da geht es dir wieder besser.« Er stellte sich wieder hin und ging weiter.

Sie kamen an den Zaun, das Tor stand offen. Ayla richtete ein Stoßgebet ins All: Hoffentlich ist er da! Sie klingelte, nichts passierte. Schließlich fasste sie sich ein Herz und klinkte an der Haustür, die ließ sich öffnen. Vorsichtig gingen sie ins Haus. Ein röchelndes Geräusch kam aus dem Zimmer, dessen Tür angelehnt war. Dort lag Ronny, halb sitzend, auf der Couch und rang nach Atem. Er lächelte sie an. »Es geht gleich vorbei. Ich hatte mehrere Asthma-Anfälle, deshalb konnte ich euch nicht abholen.« Ayla gab ihm die Hand. »Kann ich dir was helfen?«

»Setzt euch hin! In einer halben Stunde wird es besser sein. Ich konnte erst kein Pulver finden, aber dann habe ich etwas eingenommen.« Er japste nochmals, richtete sich wieder auf und zeigte auf die Sessel, dass sie sich setzen sollten. Ayla zog ihre Jacke aus und half Manuel aus seinem Anorak.

»Hast du in der Küche was zu trinken? Manuel hat großen Durst.«

To koniec darmowego fragmentu. Czy chcesz czytać dalej?