Novemberbegegnungen

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Helfried Stockhofe

Novemberbegegnungen

Helfried Stockhofe: Novemberbegegnungen

Text und Umschlaggestaltung: © 2022 Copyright Helfried Stockhofe

Verlag: Helfried Stockhofe, Untere Ringstr. 22, 93455 Traitsching

Druck: epubli, ein Service der Neopubli GmbH, Berlin

Vorwort

In dieser Geschichte treffen Menschen aus verschiedenen Bundesländern aufeinander. Es wäre reizvoll gewesen, sie in ihren Dialekten sprechen zu lassen. Leider hätte darunter aber die Lesbarkeit des Textes gelitten. Ich habe deshalb auch den Bauersleuten aus dem Bayerischen Wald eine hochdeutsche Sprechweise angedichtet und nur gelegentlich einmal ein bayerisches Wort eingeflochten. Die geneigten Leser können gerne selbst die Übersetzung in einen oberpfälzischen Bayerwalddialekt versuchen. Ist doch kinderleicht … :

Aber überleg doch mal: Ein einzelner Mann in so einem Hausfrauen-Panzer.“

Owa übaleg do amoi: A oanzeina Mo en an afgmozdn Schliddn.“

Natürlich sind alle Handlungen und Namen frei erfunden, auch wenn die Gegend, in der die Geschichte spielt, immer wieder an tatsächlich existierende Orte erinnert.

Schon damals sagte er verbittert: Die Bösen überleben Krankheiten und Anschläge, sie sind zäh und nur schwer umzubringen. Sie bereuen nichts und wenn sie dann doch endlich sterben, kommen sie in den Himmel. Da ahnte er noch nicht, was ihm bevorstand.

Helfried Stockhofe

Novemberbegegnungen

Ein Urlaubsgast macht sich auf die Suche

1

Schon zu Beginn seiner Reise hatte ihn eine verheißungsvolle Unruhe erfasst. Und das war nicht die Vorfreude auf schöne Landschaften oder überwältigende Naturerlebnisse. Es war etwas anderes, etwas lange nicht mehr Gekanntes. Mit einem Kopf voller wirrer Gedanken und schier unstillbarer Gier fuhr er dahin und überließ sich und sein Auto ganz den eingeschliffenen Mechanismen eines erfahrenen Rasers. Er befahl seinem neuen Wagen, „Rammstein“ zu spielen, mehr zur Abreaktion als zur Unterhaltung, und eine sonore Frauenstimme tat so, als wäre sie ihm zu Diensten. So vergingen Stunden wie im Flug. Als er seinem Ziel nahe war, hatte seine Erregung so zugenommen, dass keine Musik mehr zur Beruhigung ausreichte. Alkohol trank er nie während der Fahrt und Zigarettenrauch würde er seinem Neuwagen nicht zumuten. Er fingerte in seiner Westentasche herum, nahm zwei der darin lose herumhüpfenden Beruhigungspillen heraus und schluckte sie trocken hinab. Bald spürte er die entspannende Wirkung.

Eine halbe Stunde vor seiner Ankunft in einem der vielen „Winkel“ des Bayerischen Waldes regnete es „Schnürl“. Sie waren natürlich kein Problem für die Scheibenwischer, doch sie machten ihn jetzt zusätzlich müde und ließen ihn den auch aus anderen Gründen notwendigen Halt hinauszögern. Irgendwann blieb ihm aber nichts anderes mehr übrig. Nachdem er von der Hauptstraße abgefahren war, hielt er kurz vor seinem Ziel an, am Fuß einer steilen Straße, die in den Wald hineinführte. Er stieg aus, zog sein mausgraues Jackett über und stellte sich mit einem übergroßen schwarzen Schirm in den Schnürlregen. Am Waldrand musste es sein und an einem dicken Baum! Auch wenn er die hier seltene Douglasie erkannt hätte, die vor langer Zeit vom Herrn Baron gepflanzt worden war, hätte ihn ihre Adligkeit nicht gestört. Es ging ihm auch nicht um die Markierung seines Reviers, sondern ganz banal um Deckung, was allerdings angesichts des spaziergängerunfreundlichen Wetters und der menschenleeren Gegend völlig unnötig erschien. Die Linke hielt den Schirm und mit seiner Rechten fummelte er an dem Reißverschluss seiner Hose herum, stellte aber fest, dass er mit nur einer Hand den Weg nicht frei bekam. Er musste also auch noch umständlich seinen Gürtel öffnen. In letzter Sekunde konnte er in die Boxershorts greifen und sein Objekt der notdürftigen Begierde herausholen. Nie passt der Begriff der Erleichterung besser, dachte er, und begleitete den im Wind unruhig herumspritzenden Strahl des Urins mit einem wohligen Brummen. Er achtete genau auf seine beiden neuen schwarzen Lederschuhe und schüttelte auch deswegen nicht ab. Zum Auto stakste er breitbeinig zurück, damit seine Hose nicht herunterrutschte. Er öffnete die Tür und ließ sich rückwärts auf den Sitz fallen – wieder begleitet von dem Erleichterungsbrummen. Beim Schirm war ihm das Abschütteln schon sehr wichtig, denn schließlich sollte der Rücksitz nicht nass werden. Er warf den großen Schwarzen nach hinten, verschloss die Tür und, mit einigen Verrenkungen, auch seine Hose.

Durch das Seitenfenster wurde der Blick kaum durch Schnürl behindert, so konnte er nun entspannt und erleichtert den Winkel betrachten, der hier mit bewaldeten Bergrücken ein breites Tal umrahmte. Nur hie und da sah er eine kleine Ortschaft, jeweils mit unpassend großer Kirche, die wohl alle inzwischen von nur einem einzigen indischen Pfarrer samt einem bayerischen Vikar, beide alleinstehend, versorgt wurden. Dominierend war eine Kirche, die auf einem einzelnen Hügel mitten im Tal stand. Sein Interesse galt aber den Einödhöfen. Doch die sah er nicht, denn sie lagen allesamt versteckt in den Fichtenwäldern. Auf ihnen wohnten fleißige Holzbauern mit ihren braven Frauen, die sich um Feriengäste kümmerten und ihre vielen Kinder aufzogen – so stellte er sich das vor. Und nun kam ihm der Gedanke, dass das wirklich sein Revier werden könnte! Er konnte nicht wissen, auf welche Weise sich diese Vorahnung erfüllen würde!

Er kämmte sich seine Haare und startete wieder den Motor. Die sonore Frauenstimme lotste ihn weiter auf nicht-asphaltierte Wege, die ihn an seine Kindheit erinnerten. Damals gab es solche Wege nur als Forststraßen, die irgendwo im Wald als Sackgassen endeten. Lange war er nicht mehr auf solchen Wegen unterwegs gewesen. Hier im Winkel sollten es angeblich Verbindungsstraßen zu den Ferienhöfen sein. Aber so ganz sicher war er sich nicht, dass er darauf wirklich zu seinem Ziel gelangen würde. Immerhin, die Schlaglöcher waren unlängst ausgebessert worden, wie der hellere Schotter verriet, doch viele Kurven und die gelegentlich steilen Stellen erlaubten nicht einmal ein Fahren im dritten Gang. Für seinen SUV war die Straße auch reichlich schmal und die Gräben links und rechts schoben sich verdächtig nahe heran. Der Schnürl-Regen hatte aber etwas nachgelassen und nun hatten die Scheibenwischer erst recht kein Problem, ihm eine gute Sicht zu ermöglichen. Sie ruckelten und quietschten, er müsste sie bald einmal erneuern lassen. Nach einer Kurve sah er schließlich die Hofeinfahrt. Seine Erregung nahm wieder zu.

Aus einem der kleinen Sprossenfenster des alten Bauernhauses wurde er beobachtet:

„Er kommt mir suspekt vor.“

„Wer?“

„Der Mann da.“

Die Frau hinter dem Fenster zeigte auf den großen schwarzen SUV, der sich langsam, scheinbar recht unschlüssig, dem Gehöft näherte. Der Bauer neben ihr schüttelte verständnislos mit dem Kopf. Er konnte nicht einmal erkennen, ob ein Mann oder eine Frau in dem Wagen saß.

„Du siehst Gespenster!“, sagte er. „Bei jedem neuen Gast siehst du Gespenster.“

„Aber überleg doch mal“, erwiderte die Frau, „ein einzelner Mann in so einem Hausfrauen-Panzer. Was hat so einer hier bei uns zu suchen?“

„Aber Frau, es ist doch schon ein Jahr her. Da kommt keiner mehr.“

Die Frau ließ sich nicht beirren: „Der ist von der Polizei, glaub mir! Da hat uns jemand hingehängt.“

Der Bauer rollte mit den Augen. „Dann lässt du dir eben seinen Ausweis zeigen.“

„In seinem Ausweis wird nicht drinstehen, dass er von der Polizei ist.“

„Ich mein den Polizeiausweis.“

Die Frau schaute ihren Mann missbilligend an. „Bist du blöd? Wenn der ein Kriminaler ist, wird er mir doch nicht seinen Dienstausweis unter die Nase halten.“

„Warum denn nicht? Wenn er was wissen will.“

„Du bist wirklich blöd. Der ermittelt doch verdeckt. Der gibt sich als harmloser Feriengast aus, um uns auszuspionieren.“

„Und das Kennzeichen? Das ist doch kein Auto aus unserer Gegend. Meinst du die Kripo kommt aus einem anderen Bundesland?“

„Ja freilich, die Kripo wird mit Kennzeichen aus unserer Gegend rumfahren, wenn sie verdeckt ermittelt!“ Sie verdrehte wieder die Augen und schüttelte mit dem Kopf angesichts der Dummheit ihres Mannes.

Der Bauer gab seinen Widerspruch auf. Er kannte seine Frau. Sie wusste eh immer eine bessere Antwort. Das war schon 35 Jahre so und hatte sich nie geändert. Und natürlich konnte man ihr nichts ausreden. Selbst wenn in dem Verlauf des letzten Jahres für seine Frau jeder zweite Gast ein Kriminaler gewesen war – was sich stets als Irrtum herausstellte. Der Bauer musste allerdings zugestehen, dass sich noch nie ein etwa Dreißigjähriger mit einem Angeberauto hierher zu ihnen verirrt hatte. Er nahm sich vor, ihn doch etwas zu beobachten. Das Ausfragen brauchte er sich nicht vornehmen, das war eine Stärke seiner Frau.

„Und erst sein Name!“ Die misstrauische Frau schaute bedeutungsvoll. „Sein Name ist bestimmt eine Erfindung!“

„Sag schon, wie er heißt!“

„Backenstiel!“

„Wie?“

„Backenstiel.“

„Du spinnst! Du willst mich zum Narren halten!“

„Nein. Wirklich. Ich will dich nicht zum Narren halten. Mit Backenstiel hat er sich angemeldet. Seine Mailadresse heißt auch so: Backenstiel und irgendein de.“

Der Bauer grinste. „Nein, Frau, so einen Namen denkt sich keiner aus. Das wär doch bescheuert: Backenstiel?“ Er schüttelte mit dem Kopf. „Müller, Meier oder Schmidt – so was würde man erfinden, aber doch nicht Backenstiel!“

 

Der Backenstiel fuhr angesichts des kläffenden Hofhunds möglichst weit an die Eingangstür heran, lugte aus dem Auto heraus und war froh, dass eine Frau, so Mitte 50, aus der Tür trat. Sie erschien ihm riesig und ihr düsterer Blick wirkte so, als wollte sie ihn damit auf Distanz halten. Backenstiel fühlte sich fürwahr nicht willkommen und er zweifelte, ob ihm sein Navi den richtigen Weg gewiesen hatte. Froh war er nur, dass der Hund, den er als eine halbhohe Mischung aus Schäferhund und dieser grimmig dreinschauenden Frau definierte, an einer langen Kette hing, an der er zwar wild kläffend herumzog, die aber sicher schon viele wilde Tänze überstanden hatte.

Er stieg vorsichtig aus, ohne Schirm, so dass sich Wind und Regen in seinen dunklen Haaren verfingen und die eben gerichtete Frisur durcheinander wirbelte.

„Bin ich hier richtig bei den Runkelbauers?“, fragte er mit freundlicher Miene. Die Frau tat so, als verstünde sie ihn nicht. „Runkelbauer? Bin ich hier richtig?“, wiederholte er seine Frage.

Hinter der inzwischen angelaufenen Fensterscheibe schmunzelte der Runkelbauer. Er hatte die Frage durch die geöffnete Tür verstanden, aber er kannte seine Frau …

„Wer sind Sie?“, stellte sie sich dumm.

„Backenstiel“, antwortete der SUV-Fahrer. „Ich hatte Ihnen gemailt.“

Die Frau machte keine Anstalten, den Gast ins Trockene zu bitten. „Backenstiel?“, wiederholte sie. „Da muss ich nachschauen.“ Sie drehte sich um und verschwand im Haus. Die Tür schlug sie zu. Es war eine alte, aber schwere Holztür, keine vom Baumarkt, sondern eine aus dem letzten Jahrhundert, vermutlich von einem uralten Schreiner gefertigt. Sie hatte Kratzspuren, vielleicht von einer Katze oder vom Hund, als er noch jung und freilaufend gewesen war. Jetzt kläffte sich dieser die Lunge aus dem Leib. Der Feriengast stand wie ein begossener Pudel an seinem geöffneten Auto und schaute auf die Tür. Sie öffnete sich lange nicht. Sollte er wieder einsteigen?

„Jetzt übertreib es mal nicht!“, mahnte der Bauer. „Das bringt auch nichts.“

„Ich weiß schon, was ich tu!“, erwiderte die Frau. Sie wartete, blickte durchs Fenster, wie der Neue sich irritiert und neugierig umschaute. Er war gut gekleidet, nicht wie einer, der zu Waldwanderungen aufbrechen wollte, ganz in Grau-Schwarz, ein schlanker, gut aussehender Typ.

Backenstiel sah, wie das Gesicht der Frau die eine der vier kleinen Scheiben des Sprossenfensters voll ausfüllte. Sie schien sich nicht zu genieren, ihn anzuglotzen. Schließlich kam sie wieder raus. „Haben Sie einen Ausweis dabei?“, rief sie.

Er nickte, setzte sich in sein Auto, beugte sich hinüber zum Handschuhfach, kramte darin herum. Es dauerte ... Dann stieg er wieder aus. „Ich find den nicht. Auch nicht den verdammten Führerschein. Die Ausweismappe liegt wohl daheim auf dem Tisch. Hab ich vergessen.“

Sie zog die Stirn in Falten, schüttelte verständnislos den Kopf und drehte sich um. An der geöffneten Tür rief sie den Bauern herbei. „Siehst du!“, triumphierte sie mit unterdrückter Lautstärke. „Ein Polizist!“ Der Bauer schien auch etwas verunsichert. Er schob seine Frau beiseite, winkte dem Mann und sagte: „Jetzt kommen Sie erst mal rein!“

Der SUV-Fahrer schnaufte erleichtert durch und machte sich, vorsichtig am kläffenden Hofhund vorbeischleichend, auf den Weg ins Haus. Er war sich nun nicht mehr sicher, ob er nicht statt der Beruhigungspillen etwas Aufputschendes hätte nehmen sollen. Hier war Stärke gefragt und nicht Beruhigung.

Das Haus war ein schon älteres Bauernhaus. Im Erdgeschoss war es mit Granitsteinen gemauert, die hier in den Wäldern überall herumlagen, die Hälfte der Außenwand war weiß verputzt. Die Wände des Obergeschosses bestanden aus dicken viereckigen Holzbalken, teilweise mit schwarz abgeflämmten Holzbrettern verkleidet. Das Hausdach war mit alten roten Ziegeln gedeckt, die hübsche grüne Mooshäubchen trugen. Für diese denkmalverdächtige Behausung hatte Backenstiel aber kein geschultes Auge. Er dachte nur: Hier bin ich nicht willkommen. So, wie er es eigentlich auch erwartet hatte, aber ein wenig unheimlich war ihm doch.

Drinnen im düsteren Flur stellte er sich nochmals als „Backenstiel“ vor und der Bauer, ein kleiner Mann mit muskulösem Oberkörper und einem kräftigen Händedruck, schmunzelte ein wenig, als er den Namen hörte. Sein „Runkelbauer“ erschien ihm aber keineswegs zum Schmunzeln, sondern als ganz normal.

Nun übernahm wieder die Runkelbauerin die Regie: Sie ging ohne große Erklärungen eine unter ihrem schweren Schritt ächzende Holztreppe hinauf, die von dem selbst an den Wänden gefliesten Flur in den ersten Stock führte. Sie drehte sich nur kurz um und bedeutete mit einem Winken, dass der Backenstiel ihr folgen möge. Dieser nickte dem Bauern nochmal zu und stapfte der „Chefin“ nach. Die Alte hat das Sagen, dachte der Backenstiel, wobei er das Alter der Chefin deutlich überschätzte: Jetzt hielt er sie für Mitte 60. Es blieb ihm gar nichts anderes übrig, als ihr beim Hochsteigen auf den respektabel ausgestatteten Hintern zu schauen. Ihre prall ausgefüllte graue Hose war erstaunlich sauber und die Kleidung insgesamt roch nach irgendeinem modernen Waschmittel. Normalerweise hätte er sich die stramme Bäuerin nackt im Bett vorgestellt oder vornübergebeugt auf dem Schreibtisch liegend, doch plötzlich wehte ein anderer Geruch heran und nahm Nase und Fantasie in Besitz: Es war der für einen Milchbauernhof typische Geruch! Touristenbüros nannten ihn Landluft, für ihn war es Bauernhof-Gestank. Er konnte es sich nicht verkneifen:

„Sie haben wohl auch Kühe?“, fragte er.

Die Bäuerin wunderte sich über die Frage, weil ihr selbst der Geruch nicht auffiel. „Nur zwei, da unten.“ Dabei deutete sie Richtung Erdgeschoss, woraus der Backenstiel schloss, dass die Kühe gleich neben der Wohnung der Bauersleute ihr Quartier haben mussten. „Hier ist es!“, sagte die Frau oben angekommen. „Das andere dort ist eine Ferienwohnung und daneben ist noch ein Doppelzimmer. Hier links das ist privat und das hier ist Ihr Zimmer. Sie wollten doch ein Einzelzimmer, oder ?“ Er nickte.

Im Einzelzimmer stand ein Doppelbett. Es war keine Antiquität, hatte aber auch schon viele Gäste beherbergt. Er sah sich um, während die Frau mit verschränkten Armen hinter ihm stand und ihren Waschmittelgeruch verströmte. Neben dem Bett thronte eine übergroße Nachttischlampe aus den 1960er oder 70er Jahren auf einem neuen Kiefernholzkästchen. Links und rechts neben dem Bett lagen Fleckerl-Teppiche auf einem sauber gewischten und gewienerten Dielenboden. Er roch nach Bienenwachs. Die Bienen konnten sich aber weder gegen das Waschmittel noch gegen die Kühe durchsetzen. An der Außenwand stand zwischen zwei kleinen Fenstern mit elfenbeinweißen Scheibengardinen und langen blaukarierten Vorhängen ein wackliger dunkler Schreibtisch mit einem weiß lackierten Ikea-Stuhl, an einer anderen Wand ein Kiefern-Kleiderschrank mit einem breiten Hocker daneben, der für den Koffer gedacht war. Der Wandschmuck war bescheiden: Ein paar billige Drucke mit Motiven aus dem Bayerwald, ein Kruzifix mit einem verwelkten Kräuterstrauß in einer Ecke und ein kleiner Spiegel.

„Das Bad ist draußen auf dem Flur“, sagte die Frau. „Gefrühstückt wird unten bei uns ab sechs Uhr. Sie können aber auch später kommen. Zum Abendessen nachher rufe ich Sie.“

„Schön“, antwortete der scheinbar alles musternde Backenstiel, ohne anzudeuten, worauf genau sich das „Schön“ bezog. „Dann hol ich mal meine Sachen.“

Die Runkelbauerin nickte und ging voraus, er wieder hinterher. Zimmer- oder Haustürschlüssel gab es offenbar keine, zumindest wurden ihm keine angeboten. Beim Herabgehen schaute er der Chefin auf ihr breites Kreuz, auf dem eine zu große Jacke Falten warf, und auf die glatt gekämmten dünnen Haare, unter denen eine wenig einladende entzündete Schuppenflechte durchschien. Ihr macht es bestimmt nichts aus, dass sie angeschaut wird, dachte er sich, sonst würde sie sich besser herrichten. Unten im Flur bemerkte er eine Reihe Schuhe. Es waren keine Kinderschuhe dabei – nun, die beiden waren nicht mehr die Jüngsten. Zwei Paar dunkelgraue Gummistiefel und recht klobige ungeputzte Straßenschuhe, ein Paar gepflegtere Schuhe und mehrere Plastiklatschen standen unter einer Garderobenleiste, an der Jacken hingen, auch eine auffallend grüne. Die Bäuerin trat mit ihrem Gast vor die Tür, zeigte ihm seinen mit am Boden liegenden Fichtenstämmen markierten Parkplatz, dann verschwand sie hinter einer grau lackierten Tür, die zur „guten Stube“ führte. Der Gast ging hinaus, stellte seinen SUV auf den zu engen Parkplatz, ohne darauf zu achten, ob der daneben stehende Kombi noch seine Fahrertür öffnen könnte, und holte einen schwarzen Rollkoffer aus dem Auto. Der Hofhund bellte, was das Zeug hielt.

„Nur ein einziger Koffer“, kommentierte die Runkelbauerin.

„Wieso? Was hast du denn anderes erwartet? Soll er für zwei Tage seinen Hausstand mitbringen?“

„Hast du die Ausbeulung rechts unter seinem Jackett gesehen?“

Der Bauer rollte mit den Augen. „Wahrscheinlich hat er eine Maschinenpistole dabei“, spottete er.

Als der Regen aufhörte, wurde es trotz der späten Stunde heller. Hinter dunkelgrauen Wolken kam die Sonne hervor, so als wollte sie sich schnell noch einmal zeigen, bevor sie den Winkel verließ. Der Backenstiel beugte sich hinab und sah durch das Fenster seines Zimmers, um die Ursache des gelben Scheins an den Wänden zu finden. „Sie scheint also auch hier“, murmelte er. Er richtete sich wieder auf und bemerkte erst jetzt, wie niedrig auch die Raumhöhe war. Doch er stieß trotz seiner stattlichen Körpergröße nicht an. Es klopfte. „Zum Essen!“, rief die Bauersfrau. Backenstiel antwortete mit einem: „Ich komme.“ Ihm wurde wieder etwas bang, weil er eine ganz spezielle Qualität des Abendessens erwartete, doch seinem Vorhaben war es dienlich, dass er „Vollpension“ gebucht hatte.

Er zog sein feines Jackett samt Weste aus und einen Wollpulli an. Vorsichtshalber wechselte er auch seine Schuhe, damit er nicht Dreck und Nässe in die Wohnräume der Bauersleute tragen würde. Er wollte ja nicht unangenehm auffallen. Die Haare wurden wieder gerichtet – dann stapfte er hinab. Zielsicher steuerte er unten im Flur auf die graue Tür zu. Der Geruch des Kuhstalls drang ihm wieder verstärkt in die Nase. Er klopfte und ging hinein in die Bauernstube. Auch sie war niedriger als normal. Und sie entsprach voll dem Klischee: Wände weiß gekalkt, ebenso wie ein Kachelofen ohne Kacheln - also etwas, was man hier „Grundofen“ nannte -, Holzdielen, kleine Fenster und Lampen, die nur ein schwaches Licht gaben. Der große Holztisch mit seinen acht Stühlen drumherum füllte fast den ganzen Raum. Eine offene Tür führte in die Küche. Es roch noch nach den Zwiebeln des Mittagessens und auch die wohlige Wärme erinnerte den Backenstiel an seine Kindheit. Auf dem Tisch standen, neben Geschirr, ein Brotkorb, Butter und ein großer Teller mit Wurst und Käse. Dazu einige Flaschen Bier.

„Bin ich der einzige Gast?“, fragte er.

„Ja“, sagte sie.

„Dann haben wir ja Platz genug“, bemerkte er witzig. „Oder gibt es noch Kinder oder Eltern?“

„Die Kinder sind aus dem Haus“, erwiderte die Chefin. „Da drüben“, ergänzte der Bauer und deutete mit einer Kopfbewegung die Richtung an, in der die Kinder wohl in einem eigenen Haus wohnen würden.

„Die Eltern sind auch nicht mehr hier“, stellte die Bäuerin fest, ohne zu erklären, was das genau heißen könnte. „Wir leben und arbeiten hier ganz allein. Und Sie?“, fragte sie an den Gast gewandt.

„Hab keine Kinder. Und die Eltern sind schon früh verstorben, ein Unfall. Und ... ganz wichtig: Eine Ehefrau wartet daheim auch nicht.“ Er grinste.

Die Runkelbauers schauten sich an. Warum sollten ihnen die Familienverhältnisse des Mannes wichtig sein? Eigentlich hatten sie den Beruf ihres Gastes herausbringen wollen. Also doch direkt: „Und beruflich?“ Sie warteten gespannt.

„Beruflich? Ich hab zwar keine zwei linken Hände, ganz im Gegenteil, brauche aber nur sitzen und schreiben, ab und an spazierengehen und herumschauen. Bin sicher nicht so fleißig wie Sie. Aber das Portmonee klingelt fleißig.“ Dabei rieb er Daumen und Zeigefinger aneinander. Er grinste wieder und begann, sich mit seinem Essen zu beschäftigen. Offenbar hatte er keine Lust, Genaueres preiszugeben.

„Ein Büromensch“, sagte der Bauer zu seiner Frau und beobachtete von der Seite, ob ein Widerspruch oder eine Klarstellung vom Gast käme.

„Schmeckt gut“, sagte dieser und deutete auf das Brot. Auch das Bier lobte er.

Normalerweise hätten sie ungeniert nachgefragt, doch nun waren sie sich sicher, dass sie ohnehin nicht die Wahrheit erfahren würden. Sie stiegen allerdings auch nicht auf seine Ablenkung ein, so dass sich ein unangenehmes Schweigen am Tisch breitmachte und die Kau- und Schluckgeräusche das Abendessen kommunikativ bestimmten. Immerhin wurde das Rülpsen von allen vermieden. Dem guten Bier war der neue Gast besonders zugeneigt und die Bäuerin wunderte sich, dass auch Büromenschen so viel vertragen können.

 

Auf seinem Zimmer suchte Backenstiel nach einem Fernseher. Er konnte sich nicht vorstellen, dass heutzutage Gästezimmer vermietet werden, ohne die Möglichkeit, sich Filme reinzuziehen, es müssten ja nicht unbedingt seine geliebten Pornos sein. Er fand aber leider nichts zur gepflegten Abendunterhaltung. So musste er doch eine mitgebrachte Flasche Korn aus dem Koffer nehmen und viel zu früh den Abend mit seinem Schlaftrunk beenden. Bevor er sich nahezu volltrunken ins Bett legte, sah er noch einmal aus dem Fenster. Es war stockdunkel da draußen. Der bewölkte Himmel gab nicht einmal den Sternen eine Chance, geschweige denn einem Novembermond. Hinter den von seinem Zimmerlicht angestrahlten und vom Wind sanft bewegten Bäumen, schien die Welt zu Ende zu sein. Nur ein blinkendes Licht aus der Ferne ließ erkennen, dass es auch andernorts noch Leben gab.

2

„Jetzt ist das Licht aus“, stellte Jonas fest und setzte das Fernglas ab. „Der Bulle wird wohl schlafen.“

„Was du wieder wissen willst“, entgegnete kopfschüttelnd seine Frau. „Bist eben ganz der Sohn deiner Mutter.“

„Jeder Mann ist der Sohn seiner Mutter!“

„Ja, ja, klar, ist schon gut.“ Hella wusste, dass die Schwiegermutter, die auch sie nicht beim Vornamen, sondern, wie alle, nur „Runkelbauerin“ nannte, ihren Sohn Jonas telefonisch über den neuen Gast informiert hatte. „Wenn der ein Polizist ist, fress ich einen Besen!“, sagte sie. „Fährt er nicht einen fetten SUV? Kennst du einen Polizisten, der sich einen fetten SUV leistet?“

„Aber Hella, du bist naiv. Der kommt doch nicht mit seinem Privatwagen!“

„Glaubst du, die Polizei leistet sich ein solches aufgemotztes Auto?“

„Ich sag ja: naiv! Das Auto ist natürlich konfisziert. Sicher von einem Schwerkriminellen.“

„Ja, ja, du Gscheithaferl.“ So oft sie sich über ihren gescheiten Ehemann auch aufregte, musste sie doch meist konstatieren, dass er Recht hatte. „Aber vielleicht ist es ein Privatdetektiv?“, wollte sie ihn verunsichern.

Er lachte. „Hast du schon mal einen Privatdetektiv gesehen, der sich so einen teuren Wagen leisten kann?“

Sie zuckte mit den Schultern. „Ich hab noch nie einen Privatdetektiv gesehen. Aber egal: Er wird nichts herausbekommen, egal ob Polizist, Privatdetektiv oder sonst was! Auch nicht bei uns.“

„Eben! Das ist doch verdächtig: Er hat bei jedem von uns zwei Nächte gebucht. Bei meinen Eltern, bei uns und meinem Bruder.“

„Bei dem ist er länger“, korrigierte Hella.

„Ist doch wurscht!“, raunte Jonas zurück. „Sehr verdächtig!“

Jonas und Hella lebten mit ihren drei kleinen Kindern in ihrem vor einigen Jahren erbauten Haus. Es lag direkt neben einem alten Bauernhaus, in dem zuletzt der ältere Bruder des Runkelbauer, also ein Onkel von Jonas, gewohnt hatte. Jonas und Hella hatten es gescheut, die alten Gemäuer für sich als Wohnung herzurichten. Lediglich in und auf einer vor Jahrzehnten neu gebauten großen Garage für landwirtschaftliche Gerätschaften und Fahrzeuge hatten sie bauliche Veränderungen vorgenommen, nachdem die Maschinen verkauft waren und der Tourismus auch in diesem Winkel Fahrt aufgenommen hatte. So waren zwei moderne, gut ausgestattete und recht schöne Ferienwohnungen entstanden. Es wunderte sie, dass der SUV-Fahrer nicht gleich seinen kompletten Urlaub hier gebucht hatte, denn die Wohnungen wären frei gewesen. Es gab scheinbar kein Argument dafür, dass sich ein Kriminalbeamter nacheinander in drei Ferienhöfen einmietet, die doch nur wenige Autominuten voneinander entfernt liegen.

„Natürlich ist es aus seiner Sicht sinnvoller, nicht nur bei uns zu wohnen. Da kann er jedes Haus auch von innen ausspähen. Vermutlich wird er Wanzen verstecken oder Kameras, um uns zu beobachten.“

„Ja, klar“, spottete Hella und machte ein vielsagendes Gesicht, „der ist beim Verfassungsschutz.“

„Weib, du kennst dich einfach nicht aus. Auch die Kripo darf Wanzen anbringen.“

„Meinetwegen. Da müssen wir halt aufpassen, was wir sagen.“

„Na endlich siehst du´s ein!“

„Aber die Kinder?“, fragte Hella.

Jonas kam ins Grübeln. „Unser Großer könnte tatsächlich ganz naiv Hinweise geben, da hast du Recht.“ Er kam schließlich auf die Idee, mit seinem Sohn, wenn der Kriminalkommissar bei ihnen wohnen würde, nach Wanzen zu suchen. Das würde dem Dreijährigen sicher gefallen.

Am nächsten Morgen ging Jonas zu seiner Mutter, eigentlich joggte er dorthin, um ganz verschwitzt und unverdächtig seine Eltern und ihr Bad aufsuchen zu dürfen. Jonas hatte mehr von der Statur seines Vaters, doch schmückte er sich schon mit einem Bauch, was dem Vater in der Konkurrenz mit seinem Sohn einen gewissen Vorsprung verschaffte. Der Vater scherzte gelegentlich, er solle den Kindern nicht alles wegfressen. Die Runkelbauerin schaute dann ihren Mann immer streng an. Sie fühlte sich Jonas auch deshalb besonders verbunden, weil sie sich im Wesen sehr ähnlich waren!

Jonas machte die Mutter auf die Abhörproblematik aufmerksam und seine Warnungen fielen auf fruchtbaren Boden. Die beiden suchten in der Stube nach entsprechenden Vorrichtungen, konnten aber zu ihrer Erleichterung noch nichts dergleichen finden. Die Mutter versprach, den Backenstiel genauestens zu beobachten. Der Vater hatte sich derweil um die beiden Kühe gekümmert und wartete bereits auf seinen jüngeren Sohn Peter, der wie jeden Morgen Milch für sich und den älteren Bruder abholen wollte. Peter wunderte sich, dieses Mal seinen Bruder dort anzutreffen. Bevor er aber in die „Verschwörungstheorien“ eingearbeitet werden konnte, machte er sich wieder auf den Heimweg, weil er keine Zeit für das „Geschwätz“ hatte. Er brachte den größeren Teil der Milch zu seiner Schwägerin und den drei Kindern – deren Hof lag auf dem Weg - und ließ sich von Hella über die „Spinnereien“ informieren. Dann fuhr er nach Hause, um sich anschließend sofort auf den Weg zur Stadt zu machen, wo er in einer großen Elektronikfirma arbeitete.

Jonas hatte sich inzwischen an den Tisch bei seiner Mutter gesetzt und wartete auf den Feriengast. Er hatte sich an seinem Arbeitsplatz, einem kleinen Handwerksbetrieb, extra krank gemeldet.

Backenstiel bekam von diesen familiären Aktivitäten in den ersten Stunden des Tages nichts mit. Er war beim Aufwachen froh, dass das lästige Kratzen und Gerenne der Mäuse in den Zwischenböden ein Ende hatte. Einmal hatte er auch Knacken und scheinbar einen dumpfen Aufprall gehört, was er schließlich einem Traum oder einer nächtlichen Einbildung zuordnete. Draußen war es neblig. Beim Lüften bemerkte er, dass der beißende Geruch des Schornsteins ins Zimmer hereinwehte, weil die Runkelbauerin die Abfälle des Vortages verbrannte. Schnell schloss er das Fenster wieder. „Lieber ersticken, als vergiftet werden“, sagte er. Der modrige Geruch in der Dusche störte ihn hingegen kaum. Er war froh, überhaupt eine Dusche im „Etagenbad“ vorzufinden. Sie tat auch seinem Kater gut. Frisch rasiert und mit übermäßig viel Rasierwasser betupft, tauchte er in der guten Stube auf, wo nach getaner Morgenarbeit schon drei Leute frühstückend am Tisch saßen.

Jonas freute sich angeblich, seinen zukünftigen Gast kennenzulernen. Er signalisierte dem Backenstiel deutlich sein Bedauern darüber, dass ihm der Aufenthalt bei seinen Eltern eher „rustikal“ vorkommen müsse, er sich aber bei ihm auf etwas mehr Komfort einstellen könne. Sein Auto zeige doch, dass er Besseres gewohnt sei. Er würde sich auch mal gerne so einen Schlitten leisten können, meinte Jonas, da müsse man aber einen guten Job haben. Bei dieser Bemerkung schaute er den Backenstiel erwartungsvoll an.

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