Metamorphose auf dem Mars

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Metamorphose auf dem Mars
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Inhaltsverzeichnis

Impressum

Kapitel 1

Erinnerungen 3

Kapitel 2

Auf der ISS 34

Kapitel 3

Flug zum Mars 66

Kapitel 4

Auf dem Mars 133

Kapitel 4.1 195

Kapitel 5

Metamorphose 249

Kapitel 6

Flucht und Heimkehr 333

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2022 novum publishing

ISBN Printausgabe: 978-3-99107-999-6

ISBN e-book: 978-3-99131-000-6

Lektorat: Marie Schulz-Jungkenn

Umschlagfoto: Sebastian Kaulitzki, Elena Polina, Sergey Khakimullin, Imagesrouges | Dreamstime.com

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

www.novumverlag.com

Kapitel 1

Erinnerungen

Erik Barnard stieß sich leicht von der gewölbten Innenwand der ISS ab und schwebte quer durch den Raum zu einem der Bullaugen der internationalen Raumstation. Er klammerte sich an die Umrandung des Bullauges und blickte hinaus. Er sah die PROMETHEUS neben der Raumstation im grellen Sonnenlicht glänzen und ihr Anblick löste in ihm eine Mischung aus Ehrfurcht und Stolz aus. Dabei glich die PROMETHEUS eher einer flügellosen Libelle als einem Raumschiff und, so wie sie konstruiert war, hätte sie keinen einzigen Höllenritt durch die irdische Atmosphäre überstanden. Aber das war ja auch nicht ihre Aufgabe, fuhr es Erik durch den Kopf. Sie sollte als interplanetarisches Raumschiff eine fünfköpfige Crew zum Mars und wieder zurück befördern. Sie war ein Weltraumvehikel und sollte nie in die dichte Atmosphäre eines Planeten eintauchen – hoffentlich nie, dachte Erik und seufzte.

Er hatte das Schiff wachsen gesehen. Beinahe 5 Jahre hatte es gedauert, bis es aus den Teilen, die Shuttles zur ISS befördert hatten, zusammengebaut war. Nun war es startbereit. Eriks Blick wanderte noch einmal von einem Ende des Konstrukts zum anderen. Es war beileibe nicht schön, aber sehr zweckmäßig. Vorne die kugelförmige Mannschaftskabine, dahinter der kegelförmige Mars-Lander, dann folgte eine 50 Meter lange Gitterkonstruktion mit den verstellbaren Sonnenkollektoren und ganz am Heck der Atomreaktor mit dem Plasmatriebwerk. Eine strahlungsabsorbierende Kunststoffschicht umhüllte die Mannschaftskabine und schützte die Crew vor den harten Gammastrahlen des Weltraums und vor dem Reaktor, und quer zur Gitterkonstruktion befand sich eine Wand, welche die Astronauten vor den radioaktiven Strahlen schützen sollte. Erik kam der Gedanke, dass das Schiff wohl eher einem Fisch als einer Libelle glich. Ein Bild tauchte in seinem Geist auf. Er sah die PROMETHEUS gleich einem riesigen Walfisch durch die Weiten des Alls gleiten. Bei dieser Vorstellung musste er unwillkürlich lächeln. Doch das mächtige Raumschiff war alles andere als vorsintflutlich, es war vielmehr das Modernste und technisch Ausgereifteste, was die Menschen in der Mitte des 21. Jahrhunderts auf die Beine zu stellen vermochten. Aber würde das reichen, um fünf Menschen zum Mars und wieder zurück zu bringen?

„Werden wir zurückkehren?“, dachte Erik wohl zum tausendsten Mal. Es lag ja nicht nur an der Technik, die versagen konnte – nein, Erik glaubte, dass die viel größere Gefahr vom Menschen, von der Besatzung selbst ausgehen mochte.

Man musste sich nur einmal vorstellen, wie Menschen in völliger Schwerelosigkeit und auf engstem Raum miteinander auskommen sollten, dabei in ständiger Gefahr, von Meteoriten getroffen, von Sonnenflares geröstet oder von technischen Pannen getötet zu werden – und schon stellten sich jedem risikobewussten Menschen die Nackenhaare auf. Dann, falls die Landung mit dem Mars-Lander glücken sollte, folgten eineinhalb Jahre Aufenthalt auf der lebensfeindlichen Marsoberfläche und nach dieser Zeit der Aufstieg zur PROMETHEUS in der Umlaufbahn und der Rückflug zur Erde. Erik gab es auf, sich auszumalen, was da alles schiefgehen konnte.

Er ließ das Bullauge los und hechtete gekonnt mit einem einzigen Satz hinüber zu seiner Schlafkoje, denn er wollte sich vor der letzten Mannschaftsbesprechung noch etwas ausruhen. Danach würden sie an Bord der PROMETHEUS gehen. Er schlüpfte in seinen an der Liege festgezurrten Schlafsack, denn in der Schwerelosigkeit musste der Körper selbst beim Schlafen fixiert werden, sollte er nicht durch eine unbewusste Bewegung davontreiben und sich Beulen holen.

Erik schloss die Augen, doch schlafen konnte er nicht. Zu viele Gedanken schwirrten ihm durch den Kopf. Er dachte an die handverlesene Crew, die er führen sollte, für deren unversehrte Rückkehr er sich verantwortlich fühlte, und er schwor sich: „Ich werde alles Menschenmögliche tun, um euch gesund zum Mars und wieder heim zur Erde zu bringen.“ Aber würde das Menschenmögliche genügen? Überstieg dieses Unternehmen nicht schlicht und einfach die Möglichkeiten der Menschen, trotz all ihrer Technik und ihrer minutiösen Vorbereitung?

Die Leute vom Missionszentrum der NASA versuchten zwar, alle denkbaren Notfälle und Eventualitäten zu berücksichtigen und Pläne für deren Lösungen zu machen, aber bei dieser nie dagewesenen Expedition konnte so viel passieren, dass man unmöglich für alle Notfälle Lösungen parat haben konnte. Blitzschnell die richtigen Entscheidungen vor Ort zu treffen, das war eine der Stärken von Erik, und deshalb hatte man ihn zum Kommandanten der Mars-Mission ernannt.

Vor einem Jahr allerdings war er nahe daran, alles hinzuwerfen und von seinem Kommando zurückzutreten. Das war exakt zu dem Zeitpunkt gewesen, als er erfahren hatte, dass eine Frau mitfliegen würde. Im Nachhinein erschien ihm seine Reaktion natürlich lächerlich, doch damals meinte er es bitterernst. Er hatte sich sofort das Dossier des zukünftigen Crewmitglieds besorgt und, nachdem er es durchgelesen hatte und vor allem ihr Bild zu Gesicht bekommen hatte, sah er erst recht rot. Mit der Akte in der Hand stürmte er wie ein gereizter Stier zum Büro des Missionsleiters Ernest Pullok. Vergeblich versuchte ihn die erschrockene Sekretärin aufzuhalten, aber Erik schob sie einfach zur Seite und drang wutschäumend in das Büro ein.

Beim Knall der Tür war Pullok hinter seinem Schreibtisch zusammengezuckt, hatte sich aber gleich wieder gefangen, als er Erik erblickte. Dieser stürmte mit hochrotem Kopf auf den Schreibtisch zu, schmetterte die Akte auf die blankpolierte Teakholzplatte und schrie: „Ernst, das kann nicht dein Ernst sein, jetzt soll auf einmal eine Frau mitfliegen!“ Pullok verzog keine Miene angesichts des wütenden Kommandanten und schon gar nicht wegen der Verballhornung seines Vornamens. Er deutete gelassen auf einen Sessel und meinte trocken: „Beruhige dich erst einmal und nimm Platz, Erik.“ Aber der wollte sich auf keinen Fall beruhigen, blieb stehen und starrte seinen Chef wütend an. Dieser jedoch wirkte überhaupt nicht eingeschüchtert, sondern blickte Erik, ein ironisches Lächeln auf den Lippen, fest in die Augen. Nach einer Weile, nachdem keiner der beiden Anstalten machte, den Blick zu senken, knurrte Erik: „Also, was ist, ich warte auf eine Antwort.“ Pullok erwiderte lakonisch: „Ja, sie fliegt mit, das ist definitiv.“ Da kochte die Wut in Erik erst richtig hoch. Mühsam um Selbstbeherrschung ringend, umklammerte er die Stuhllehne vor sich, bis seine Knöchel weiß hervortraten. Schwer atmend stieß er hervor: „Du und die Leute von der Einsatzleitung seid wohl alle auf einmal meschugge geworden! Hast du die junge Frau schon einmal angesehen. Sie ist erst 33 Jahre alt und würde bei jedem Schönheitswettbewerb als Siegerin vom Platz gehen. Glaubst du, ich bin scharf darauf, das Kommando über eine Gruppe von balzenden Hähnen zu übernehmen?“ Pullok meinte kopfschüttelnd: „Willst du ihr ihr gutes Aussehen zum Vorwurf machen? Im Übrigen werden sich deine Teamkollegen nicht so leicht den Kopf von ihr verdrehen lassen, sie sind immerhin alle, außer dir, verheiratet.“ „Als ob das ein Hinderungsgrund wäre“, knurrte Erik. In dem Bestreben, sein Gegenüber zu überzeugen, beugte sich Pullok nach vorn, wobei er seinen mächtigen Oberkörper mit seinen nicht minder gewaltigen Armen auf der Schreibtischplatte abstützte und erklärte: „Sieh es doch einmal von der positiven Seite! Dass ihr einen guten Arzt an Bord braucht, wirst nicht einmal du bestreiten. Nun, Julia Winter ist sowohl Fachärztin für Innere Medizin als auch für Chirurgie. Außerdem hat sie einen Master in Psychologie und besitzt einen Pilotenschein. Nur ein Blinder würde ihre Qualifikation infrage stellen. Ich bin mir sicher, dass ihr in ihr ein kompetentes Crewmitglied bekommt, das auch noch die Zustimmung der ESA hat.“

 

„Du kannst dir ja gar nicht vorstellen, welches Gezerre es bei der Auswahl der Crewmitglieder gegeben hat. Jeder Staat, der Geld in das Marsprojekt gesteckt hat, will einen seiner Leute zum Roten Planeten schicken. Wenn es nach dem Willen prestigehungriger Politiker ginge, müssten wir an die 30 Leute zum Mars katapultieren. Letztendlich einigten wir uns mit Abstrichen darauf, dass die Hauptzahler auch die größte Mitsprache bei der Auswahl der Besatzung der PROMETHEUS erhielten – ganz nach dem bekannten Sprichwort: wer zahlt, schafft an.

Noch im Nachhinein scheint es wie ein Wunder, dass wir die 3 Billionen Dollar für das Projekt den Staaten aus dem Kreuz geleiert haben. Du hast ja selbst die Werbetrommel für unser Projekt gerührt und kennst auch die Argumente unserer Gegner, wie: gigantische Geldverschwendung, schafft mit diesem Geld doch erst mal Ordnung auf unserer Welt, bekämpft den Hunger in der Dritten Welt, etc., etc. Allerdings hatten auch wir von der NASA gute Gründe für unsere Expedition zum Mars. Neben den Erkenntnissen für die Wissenschaft war es vor allem die Einigung der Staaten auf der Erde unter einem gemeinsamen Projekt, die wir ins Feld führten, die womöglich Kriege verhindern könnten, und du weißt, Kriege, das war bisher wohl, abgesehen vom Leid, das sie über die Menschen brachten, sicherlich die größte und sinnloseste Ressourcenverschwendung.

Diese Argumentation hat die Staaten letztendlich dazu veranlasst, sich an der Marserforschung zu beteiligen. Allerdings gab es dann das schon erwähnte Gezerre um die Crewmitglieder, alle wollten dabei sein.“ Hier unterbrach Erik Pullok: „Du sprachst doch davon, dass man die Auswahl der Crewmitglieder von der Höhe der Geldbeträge abhängig machen wollte, den jeder Staat für das Projekt ablieferte. Wie steht es da mit Amerika? Die haben schließlich 40 Prozent der Gesamtsumme beigesteuert und müssten demnach auch zwei Astronauten losschicken dürfen.“ „Das ist richtig“, räumte Pullok ein, „aber dann hätten wir die anderen Geberländer nicht ausreichend berücksichtigen können, denn mehr als fünf Leute können wir in der PROMETHEUS nicht unterbringen. Überlege doch mal: Amerika und die NASA 40 %, Europa mit der ESA 25 %, die Chinesen und Japaner zusammen15 % und die Russen und die Südamerikaner je 10 %. Das sind schon einmal zwei Organisationen und mindestens sechs große Länder und wir haben nur fünf Plätze zu vergeben! Kannst du dir das Gerangel hinter den Kulissen vorstellen?

Am schwierigsten gestaltete sich die Suche und Auswahl eines geeigneten europäischen Kandidaten. Sowohl Deutschland, als auch Frankreich und England, wollten unbedingt einen ihrer Landsleute durchboxen, ja selbst Spanien und Italien waren sehr interessiert. Schließlich einigte man sich auf die hochqualifizierte Julia Winter. Vielleicht verschaffte ihr der Umstand, dass sie eine Frau ist, den Job eher, als es einem Mann gelungen wäre, denn einem deutschen Mann hätten die Franzosen oder Engländer wohl kaum zugestimmt. Nach langer Debatte gelang es uns jedenfalls, die Engländer und Franzosen so weit zu beruhigen, dass sie die deutsche Kröte schluckten. Die Franzosen köderten wir mit dem Hinweis, dass der Kommandant der Mission – also du – ja ein halber Franzose wärst, da deine Vorfahren vor 200 Jahren in die Staaten ausgewandert seien. Die Engländer konnten wir damit beruhigen, dass die Kommandosprache auf der PROMETHEUS Englisch sei und Engländer und Amerikaner sich schon seit jeher wie Brüder verhalten.

Du siehst also, Erik, du bist unser politischer Kompromiss-Kandidat, auf den wir nicht verzichten können.“ „Ich fühle mich geehrt“, brummte Erik.

„Aber das waren nicht die einzigen Schwierigkeiten, die wir hatten. Rate mal, wie sich das Kandidatenkarussell weiterdrehte.“ „Die Chinesen und Japaner?“, vermutete Erik. „Volltreffer!“, schnaufte Pullok. „Jeder der beiden großen Nationen wollte natürlich einen der ihren bei der Mission dabeihaben. Wir suchten lange nach einem Kompromiss und fanden ihn schließlich in Han Li, einem Hongkong-Chinesen, in dessen Adern sowohl chinesisches als auch japanisches Blut fließt. In Südamerika einigte man sich ziemlich schnell auf den Brasilianer Louis Vargas. Dazu trug nicht nur seine hervorragende Qualifikation als Planetologe und Astronom bei, sondern auch sein fröhliches Naturell und sein ungebremster Optimismus. Du bist ihm ja schon begegnet.“

„Ja, ich traf ihn auf einem astronomischen Kongress, ein wahrer Sonnyboy!

Das kann man von Gregori Danilov nun nicht gerade behaupten. Der wirkt eher miesepetrig und wortkarg, und diesen Finsterling habt ihr zu meinem Stellvertreter ernannt, ausgerechnet einen Russen!“ „Aber Erik, dass du unsere Entscheidung gerade in diesem Punkt infrage stellst, wundert mich doch sehr“, empörte sich Pullok. „Schließlich waren es die Russen, die als Erste eine Sonde in eine Umlaufbahn schossen, also sind sie die eigentlichen Pioniere des Weltraums. Ein Flug zum ‚Roten Planeten‘ ohne einen Vertreter Russlands ist doch schlichtweg nicht vorstellbar. Deine Aversion gegen Gregori ist unbegründet. Er ist wie du Testpilot gewesen. Außerdem gilt er als begnadeter Ingenieur, von dem man munkelt, er könne mit ein wenig Draht und einigen Transistoren wahre Wunderdinge zaubern.“

„Mag sein“, gab Erik zu, „doch ich tat mit ihm wohl zu lange Dienst auf der Internationalen Raumstation und das kann schon mal zu Aversionen führen. Zudem ist da sicherlich auch Konkurrenzdenken mit im Spiel, wie so häufig zwischen Amerikanern und Russen.“

Pullok wirkte aufgebracht, er hob den Zeigefinger und schnaubte: „Aversionen und Konkurrenzdenken bei einem langen und risikoreichen Raumflug kann zum Scheitern der ganzen Mission führen, Erik, das solltest du wissen! Die Psychologen haben mir steif und fest versichert, dass alle ernannten Crewmitglieder miteinander können, oder, wie sie sich in ihrem Kauderwelsch ausdrückten, dass deine Leute mental miteinander kompatibel sind, und nun muss ich so was von dir hören.“ „Die Sache mit Greg ist halb so wild“, beeilte sich Erik zu versichern. „Im Großen und Ganzen verstehen wir uns ja auch und jeder hat Achtung vor der Leistung des anderen. Übrigens, bin ich heute etwas gereizt, wie du sicherlich bemerkt hast, also solltest du meine Worte nicht auf die Goldwaage legen.“

Doch Pullok wollte sich anscheinend nicht beruhigen, sondern lamentierte weiter: „Da hat man nun alles Menschenmögliche für diese wichtige Expedition getan, hat sich abgerackert, hat versucht, alle Eventualitäten mit in Rechnung zu stellen, nur um am Ende festzustellen, dass die wichtigste Person, nämlich der Kommandant der Mission, selbst ein Risiko für das Unternehmen darstellt.“ Und Pullok wischte sich seufzend den Schweiß von der Stirn. Hätte es für Erik noch eines Fingerzeigs bedurft, dass Pullok wieder einmal seine Ablenkungsmasche durchzog, so machte diese theatralische Geste alles klar. „ Ach du Gauner, du Gauner!“, rief Erik entrüstet, „jedes Mal, wenn man dich in die Defensive drängt oder eine unangenehme Entscheidung von dir verlangt, weichst du aus oder redest einen besoffen. Hier geht es doch gar nicht um mich – Julia Winter ist das Problem, aber du redest wie ein Wasserfall, nur damit man das Offensichtliche aus den Augen verliert. Ich bezweifle ja gar nicht, dass diese Ärztin fachlich kompetent ist, sondern mir macht Sorge, dass sie die einzige Frau unter lauter Männern ist. Sie wird damit automatisch zu einem Objekt der Begierde, und das kann zu Zwietracht und Konkurrenzdenken unter der Mannschaft führen.

Nimm dazu die drangvolle Enge in der Mannschaftskabine und den Mangel an Intimsphäre für jeden Einzelnen von uns und du wirst zugeben, wie explosiv die Lage mit einer Frau an Bord werden kann. So alltägliche Dinge wie Toilettenbesuche oder Umkleiden werden angesichts einer gemischten Mannschaft bestimmt nicht einfacher. Außerdem glaube ich, dass eine Frau den Strapazen dieser Expedition einfach nicht gewachsen ist.“ Pullok gab ein ersticktes Lachen von sich, wurde jedoch gleich wieder ernst und sagte mit gefährlich leiser Stimme: „Deine Argumente sind so lachhaft, dass es einem nicht schwerfällt, sie in der Luft zu zerreißen. Eure männliche Begierde dürfte einen argen Dämpfer erhalten, wenn ihr eure Astronautenkost verdrückt, sie enthält nämlich ein Libido hemmendes Medikament. Außerdem ist Julia Winter als Ärztin bestimmt nicht prüde und weiß, worauf sie sich einlässt. Dein drittes Argument ist allerdings köstlich, denn es hat mir gezeigt, dass du von den wahren Stärken der Frauen keine Ahnung hast. Nach deinem Machoverständnis haben Frauen wohl nur etwas an Heim und Herd zu suchen. Frauen, mein Lieber, sind psychisch wesentlich stabiler, deutlich leidensfähiger und gehen weniger Risiken ein als Männer. Wenn wir nur genug technisch versierte Frauen hätten, würden wir eine reine Frauenmannschaft zum Mars schicken, denn die hätten eine deutlich bessere Überlebenschance.“ Erik fühlte, wie die Wut wieder in ihm hochstieg. „Na dann stell doch bitteschön eine reine Frauenmannschaft zusammen!”, rief er mit überkippender Stimme, „aber ich wette, wenn sie so risikoscheu sind, wie du behauptet hast, werden sie auf dein Angebot pfeifen! Im Übrigen – was würdest du sagen, wenn ich dich vor die Wahl stellen würde, entweder auf die Ärztin oder auf mich zu verzichten? Wie würdest du dich dann entscheiden?“

Pullok schüttelte in gespieltem Bedauern den Kopf. „Eine leere Drohung, Erik, halte mich nicht für dümmer, als ich bin. Ich weiß, du würdest sonst was anstellen, um bei diesem Raumflug dabei zu sein, eine Julia Winter ist für dich kein Hinderungsgrund. Ich kenne deinen Ehrgeiz und die Sehnsucht, die dich in den Raum zieht. Wie gern würde ich mit dir tauschen! Aber sieh mich an: keine Kondition, massives Übergewicht und dazu noch Diabetes. Die Ärzte würden mich zu ihren verdammten Gesundheitschecks nicht einmal einladen. So bin ich also an diesen verfluchten Drehstuhl in meinem Büro gefesselt und muss von hier aus versuchen, mein Bestes für die Mission zu geben. Nun gut, das ist wohl mein Schicksal, doch dir will ich einen Vorschlag zur Güte machen. Lerne Julia Winter erst einmal persönlich kennen, beobachte sie, studiere sie und wenn du dann immer noch Zweifel hast, ob sie in eure Crew passt, können wir immer noch einmal miteinander reden.“

„Ein fairer und akzeptabler Vorschlag“, brummte Erik und gab Pullok, der sich erhoben hatte, die Hand. „Was ich noch gerne wissen wollte: Weshalb fliegt sie eigentlich mit, welchen Grund könnte sie haben, ein solches Risiko einzugehen?“ Pullok wand sich, gab sich jedoch einen Ruck und erklärte: „Die Psychologen haben bei ihr einen ausgewachsenen Vaterkomplex festgestellt. Sie bewundert und liebt ihren Vater abgöttisch, der vor 5 Jahren den Nobelpreis für Medizin erhalten hat. Offenbar will sie sich ihm als ebenbürtig erweisen. Falls sie allerdings von ihrem Marsabenteuer zurückkehren sollte, wird sie ihn sicherlich an Berühmtheit übertreffen.“ „Hm, ich verstehe“, sagte Erik leise, obwohl er es nicht verstand, und marschierte gedankenversunken aus Pulloks Büro.

Die Sekretärin im Vorzimmer sah Erik erstaunt nach, wie er mit langsamen Schritten, scheinbar nichts um sich wahrnehmend, an ihr vorüberging. Dieser Mann wirkte auf sie wie verwandelt und hatte keine Ähnlichkeit mehr mit dem aufgescheuchten Irren, der vor einer guten halben Stunde ins Zimmer ihres Chefs gestürmt war.

Nachdem er den quadratischen Gebäudekomplex des Kontrollzentrums verlassen hatte, ging Erik wie ein Schlafwandler zu seinem Quartier hinüber. Die Unterkünfte der Astronauten befanden sich lediglich 100 Meter vom Kontrollzentrum entfernt, in ebenerdigen, schmucklosen Plattenbauten. Sie umschlossen das Kontrollzentrum von drei Seiten, während zur vierten Seite hin, in circa 400 Meter Entfernung, ein gewaltiger Rundbau, der an ein riesiges Silo erinnerte, in den Himmel ragte. Dies war das Trainingszentrum für die Astronauten, mit den Beschleunigungskarussellen, dem Unterwasserbecken als Übungsbecken für die Schwerelosigkeit und den Flugsimulatoren für die Space-Shuttles und nun auch für die PROMETHEUS. Auf dem Weg zu seinem Quartier ging Erik das Gespräch mit Pullok nicht aus dem Sinn.

Besonders erbost war er über die Äußerung des Missionschefs, er habe keine Ahnung von Frauen und er verhalte sich wie ein typischer Macho. Dabei hatte er, obwohl unverheiratet, durchaus Erfahrungen mit allen möglichen Frauen gesammelt. Zugegeben, sie hatten es ihm leicht gemacht, ihn als Test- und Shuttlepilot angehimmelt und vermutlich hatte ihn das ein wenig stolz und überheblich gemacht, doch als Macho empfand er sich nicht. Allerdings waren seine Beziehungen zu Frauen immer sehr flüchtig gewesen, sie gingen wohl niemals tiefer als bis ans Ende einer Vagina, musste er einräumen. Doch dies war nicht seine Schuld, denn schon von Berufs wegen führte er ein ruheloses Leben und nichts hielt ihn für längere Zeit an einem Ort. Wie sollte man unter diesen Umständen eine vertrauensvolle, tiefere Beziehung aufbauen?

 

Aber alle diese Überlegungen, die er zu seiner Beruhigung und zur Herstellung seines inneren Gleichgewichts anstellte, konnten nicht verhindern, dass die Worte Pulloks weiter an ihm nagten. Und plötzlich glaubte er, eine gemeine Stimme in seinem Kopf zu hören, die höhnisch fragte: „Na, du Held, wenn du schon meinst, so fabelhaft mit Frauen umgehen zu können, weshalb vermag dich dann eine Julia Winter so auf die Palme zu bringen?“ „Das kommt von meiner Überzeugung, dass eine Frau bei einer derart gefährlichen Expedition nichts zu suchen hat“, wies er die Flüsterstimme barsch zurecht. Doch diese ließ sich nicht einschüchtern, sondern fuhr hämisch fort: „Vielleicht liegt es daran, dass sie keines deiner Betthäschen ist, die du nach Herzenslust herumkommandieren konntest. Jetzt triffst du endlich einmal auf eine Frau, die auf gleicher Augenhöhe mit dir ist, und ich bin schon ganz gespannt, welche Figur DU dabei abgeben wirst.“

Mit Schrecken musste Erik feststellen, dass sein vorlautes, widerspenstiges ICH nicht so unrecht hatte. Diese Frau konnte ihm gefährlich werden, sie hatte sogar die Macht, ihn aus dem Verkehr zu ziehen. Eine eisige Woge schien ihn zu streifen, als ihm eine Zeile aus dem Missionsprotokoll wieder einfiel. Danach hatte der Psychologe, in dem Fall die Psychologin der Crew, das Recht, den Kommandanten abzusetzen, falls sie eine psychische Erkrankung bei ihm feststellen sollte. Sie musste dazu nur noch das Kontrollzentrum auf der Erde kontaktieren und er wäre seinen Job als Kommandant los. Der Russe Gregori Danilov würde ihn dann ersetzen; ein ungeheurer Affront, fand Erik, und zwar nicht nur ihm gegenüber, sondern gegenüber der ganzen amerikanischen Nation. Sofort beschloss er, seine Psychotests ausschließlich bei Louis Vargas zu absolvieren, denn den kannte er bereits und er hatte den Eindruck, dass der Brasilianer es mit der Psychologie nicht so genau nahm. Er stellte sich vor, wie er bei Louis in lockerer Atmosphäre – z. B. bei einem Glas Bier – die psychologischen Fragebögen ausfüllen würde. Danach könnten sie sich gegenseitig versichern, dass sie völlig normal seien.

Rechtzeitig fiel ihm allerdings ein, im Weltraum würde es kein Bier geben, nur diese unsäglichen Nahrungsmittel in Tuben. Er beglückwünschte die Missionsleitung zu ihrer weisen Voraussicht, alle Qualifikationen der Crewmitglieder doppelt besetzt zu haben, sodass sie sich gegenseitig ersetzen konnten. Louis Vargas, der Astronom und Planetologe, hatte zusätzlich Philosophie und Psychologie studiert, sodass er Julia Winter bei ihren psychologischen Tests ersetzen konnte. Diese wiederum war nicht nur Ärztin, sondern auch eine passable Biologin und konnte die wichtigste Aufgabe der Marsmission, nämlich die Suche nach primitivem Leben auf dem Planeten, fortsetzen, falls Han Li etwas zustoßen sollte.

Umgekehrt konnte Han Li, der gleichzeitig Arzt war, Julia Winter in dieser Funktion ersetzen. Er selbst war in der Lage, die Aufgaben von Gregori Danilov zu übernehmen, was natürlich auch umgekehrt galt. Schließlich konnte Erik darüber hinaus zur Not noch die Aufgaben von Louis Vargas übernehmen, da er Astronomie und Geologie studiert hatte. Und jeder von ihnen, also alle fünf Astronauten, waren darin unterwiesen worden, die PROMETHEUS und den Mars-Lander zu steuern, sodass selbst, wenn alle Stricke reißen sollten, ein einzelner Überlebender vom Mars zurückkehren konnte. Daran mochte Erik allerdings gar nicht denken, obwohl die Einsatzleitung diese allerletzte Möglichkeit mit sichtlichem Stolz verkündet hatte.

Das Schnarren seiner Armbanduhr ließ Erik von seiner Liege in der ISS hochfahren. Er hatte die Uhr gestellt, um sich vor der letzten Einsatzbesprechung vor Abflug der PROMETHEUS noch etwa frisch zu machen, falls er einschlafen sollte. So aber hatte er nur gedöst und sein Geist hatte in der Vergangenheit verweilt. Laut seiner Digitalanzeige blieb ihm noch eine gute Stunde bis zur letzten Einsatzbesprechung. Er fühlte sich zwar etwas abgespannt, doch nicht so müde, dass er einzuschlafen drohte. Deswegen blieb er liegen, genoss die Schwerelosigkeit und sträubte sich nicht, als seine Erinnerungen ihn wieder in die Vergangenheit zogen, damals, als er Julia Winter zum ersten Mal begegnete.

Er traf die Deutsche zum ersten Mal im Casino des Astronautentrainings-lagers in Houston, einen Tag nach seinem Gespräch mit Pullok. Da das Training für die Besatzung der PROMETHEUS tags darauf beginnen sollte, war er nicht überrascht, sie beim Mittagessen im Casino anzutreffen. Schon eher überrascht war er, als er Gregori in einer Ecke des Raumes beim Schachspiel entdeckte. Der Russe hatte nämlich die Angewohnheit, erst auf den letzten Drücker zu erscheinen. Von Louis Vargas und Han Li fehlte noch jede Spur. Erik war sich für einen Augenblick unschlüssig, wen von seiner Mannschaft er zuerst begrüßen sollte. Da Julia Winter noch beim Essen war, entschied er sich für Gregori.

Er schlenderte auf die Ecke zu, in der der Russe über seinem Schachspiel brütete, und sagte leise: „Hallo Greg, lässt du dich schon wieder von deinem Schachcomputer zur Schnecke machen?“ Gregori gab einen unwirschen Laut von sich und blickte zornig von seinem Schachbrett hoch. Als er Erik erkannte, verzog sich sein Gesicht zu etwas, was er wohl für ein Grinsen hielt, und brummte: „Ich staune, dass du dich überhaupt schon auf den Beinen halten kannst, bei der ungewohnten Schwerkraft.“ „Wahrscheinlich schaffe ich das besser als du“, griff Erik den flapsigen Ton seines Freundes auf, „schließlich war ich zwei Wochen in Florida beim Schwimmen, ehe ich hierher nach Houston flog. Und du, was hast du so getrieben, seit wir vor 3 Wochen von der ISS gelandet sind?“ „Familie“, antwortete der Russe in einer Art betrübten Stolzes, „ich habe selbstverständlich die ganzen 3 Wochen bei meiner Familie in Petersburg zugebracht. Bewegung im Wasser mag zwar gut sein für geschwächte Muskeln, doch Familienaktivitäten sind da wesentlich effektiver, wenn auch strapaziöser. Na, gestern konnte ich mich dann schließlich hierher nach Houston absetzen, doch morgen werde ich das vermutlich schon wieder bereuen, denn dann beginnt die Schinderei beim Training und das bei unseren schlaffen, vom Weltraum geschädigten Muskeln.“ „Wird schon nicht so schlimm werden, das haben wir ja schon oft überstanden“, meinte Erik tröstend. Dann nickte er mit dem Kopf in Richtung Julia Winter und fragte gedämpft: „Hast du dich schon mit unserer neuen Kollegin bekannt gemacht?“ „Nein, sie hat noch bis vor Kurzem gegessen, da wollte ich nicht stören. Entwickelt einen ganz schönen Appetit, das Mädel, hat das ganze Menü samt Nachtisch weggeputzt“, meinte der Russe. „Geh du schon mal vor, ich komme nach, sobald ich meinen Computer vernichtend geschlagen habe.“ „Das kann dauern“, brummte Erik und machte sich auf den Weg.

Erik ging zögernd auf den Tisch zu, an dem Julia Winter saß. Die junge Frau blätterte in einer Zeitschrift, während sich neben ihr das schmutzige Geschirr stapelte. Die Kantine wurde zur der Zeit nur von wenigen Leuten besucht, doch es kam Erik so vor, als ob alle Anwesenden ihn anstarrten, während er sich der hübschen blonden Frau näherte. Aufatmend kam er vor ihrem Tisch an, räusperte sich und sagte: „Miss Winter, wenn ich mich nicht irre?“ Die junge Frau blickte von ihrer Zeitschrift rasch auf und musterte ihn aus blitzenden blauen Augen, wie man ein störendes Insekt mustert. Als sie das Astronautenembleme auf seiner Uniform bemerkte, wurde ihr Gesichtsaus-druck eine Nuance freundlicher und sie erwiderte: „Erik Barnard, wenn ich mich nicht irre?“

Da haben wir’s, dachte Erik verärgert, kaum angekommen, äfft sie mich nach und macht sich über mich lustig. Aber geschieht mir ganz recht, meine Anrede war auch zu dämlich. In seiner Verlegenheit streckte er ihr die Hand entgegen und stotterte: „Freut, freut mich sehr, Sie kennenzulernen, Miss Winter.“