Die Schattenfrau

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Z serii: Lindemanns #215
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Die Schattenfrau
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Hedi Schulitz

Die

Schatten

frau


Ich widme dieses Buch

Margarete Leopoldine Raif (1862 – 1931),

die als „elegante Frau mit großen Hüten“

in meiner Phantasie herumgegeistert ist.

Ich widme es außerdem meinem

Großvater Richard Ludwig Raif (1886 – 1963),

dem es nun doch nicht gelungen ist, die Erinnerung

an die abtrünnige Tante auf Dauer zu zerstören.

Autorenfoto: Anna Maria Letsch

Lindemanns Bibliothek, Band 215

herausgegeben von Thomas Lindemann

© 2014 · Info Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten.

Nachdruck ohne Genehmigung

des Verlages nicht gestattet.

ISBN 978-3-88190-792-7

www.infoverlag.de

1. Margret

Im Hutladen der Binselle. In den Falten der Vorhänge. Der Musikus und Luftikus. Ein Faden, der die Zeit durchmisst.

Damit die Sache klar ist: Ich bin ein Geist. Nicht, dass es da zu Irritationen kommt. Ich habe das übrigens ganz am Anfang selbst nicht gewusst.

Es war wie ein elektrischer Schlag. Ich erinnere mich, ein leichtes Rieseln zog durch mich hindurch, und plötzlich stand ich mitten in einem Hutladen. Von einer Sekunde zur anderen war ich aus dem Schacht geschleust, mit einem lauen Gefühl in der Magengegend, noch ein wenig schwindlig im Kopf. Wo war ich? Wer war ich überhaupt? Noch während ich mir diese Fragen stellte, betrat eine andere den Raum, eine wahrhaftige Frau, aus Fleisch und Blut, genauso wie irgendwann einmal ich auch, lange vor dem Fall. Vom ersten Moment an fühlte ich, dass mich etwas mit ihr verband. Und je länger ich sie betrachtete, desto mehr hatte ich den Eindruck, dass sie mir aus Gesicht und Körper geschnitten war, mit dem gleichen Haar, dem Scheitel in der Mitte und dem geflochtenen Zopf im Genick. Da war ein Kind an ihrer Seite, doch ich schenkte ihm kaum Beachtung. Noch nicht ahnen konnte ich, welche Bedeutung es später einmal für mich haben würde. In diesem Augenblick galt meine Aufmerksamkeit ausschließlich den Erwachsenen. Zumal mir alles vertraut vorkam, alles hatte ich schon einmal, déjà vu – den Laden, die Hutmacherin, die langsam hinter ihrem comptoir hervortrat, und die Frau, die gerade zur Tür hereingekommen war und mir so ähnlich sah. Ein eigenartiges Gefühl war es, das ich nur vergleichen kann mit einem Band, einem durchlöcherten und brüchig gewordenen zwar ... und an manchen Stellen sogar nur noch an einem einzigen Faden miteinander verbunden, aber eben ein Band, das mich hinzog zu der Frau.

„Was darf ich für Sie tun?“, hörte ich die Hutmacherin fragen, doch es galt nicht mir, die ich als Geist ja nicht sichtbar war, sondern dieser Frau. Statt einer Antwort kam von der zunächst nur ein Räuspern. Aber es glich nicht dem versuchsweisen Streichen einer Geige vor dem Beginn eines Konzerts, es war vielmehr wie ein heiseres Kratzen, ein Scharren, ein Aufderstellestehen, ein instinktives Zurücknehmen ihrer selbst mit der Hoffnung, beim Zuhörer ein Innehalten herbeizuführen, eine Unterbrechung des gewohnten Flusses, oder vielleicht auch die Aufforderung nachzudenken.

Und die Putzmacherin? Es war meine frühere Putzmacherin – ich erkannte sie jetzt –, sie dachte nach, genauso wie ich. Ich konnte spüren, wie es in ihr arbeitete, wie sich die Bilder von einst hinter ihrer blassen Stirn übereinanderlegten, das eine über das andere und wieder ein drittes über das zweite und so fort.

„Das isch doch net möglich, das kann doch gar net sein“, hörte ich sie sagen in dem mir vertrauten Dialekt. Mit ihren Blicken verschlang sie die neue Kundin beinahe.

„Ich, ich bin auf der Suche nach ... nach einem Hut“, brachte diese zögernd nur heraus. Das offensichtliche Staunen der Hutmacherin hatte sie noch nicht einmal wahrgenommen, so sehr war sie mit sich beschäftigt und dem Problem, das sie zu haben glaubte. „Das heißt“, fuhr sie fort, „ich hab Ihne hier einen alten mitgebracht.“ Dabei griff sie in einen Beutel und holte ein in Zeitungspapier gewickeltes Päckchen hervor. Während sie es vom Papier befreite, kamen eine Feder zum Vorschein und ein breites Band, das sich um ein hohes Kopfteil schmiegte.

„Sehen Sie mal, er isch mir zu auffällig. Ich möcht was Schlichtes, Flaches, verstehn Se?“

In ihrer Stimme schwang etwas mit, das mir sofort zu Herzen ging. Da war ein Ton, den ich kannte, von weit her. Es war mehr als der Dialekt. Ich stellte mich direkt neben sie. Es ging ein Lavendelduft von ihr aus, kein ... na, wie heißen sie noch, kein Soir de Paris von Bourjois oder ... Ach Gott, wozu auch am helllichten Tag dort auf diesem Flecken Erde? Ja, ich glaube, es war in diesem Augenblick, dass ich zu ahnen begann, wer ich war und wo ich mich befand. Vage Vorstellungen aber nur, Fetzen von Bildern, wie von auseinandergerissenen Photographien.

Während ich noch versuchte, die Schnipsel zusammenzufügen (wo war ich stehengeblieben damals, wo) sah ich, wie sie, die Frau, ihren Blick senkte. Ich wusste im Voraus, dass sie das tun würde. Sie senkte den Kopf, als trüge sie zu schwer an ihrem Haar. Die eine Hand legte sie auf den Ladentisch, die Nägel im weiß umrandeten Oval, ein Ehering. Wieder dieses Räuspern.

„Sie habbe aber doch en ideales Hutgsicht, Frau äh ...“

„Balewski“, antwortete sie. Doch der Name sagte mir nichts. Und dann, als müsse sie auch sich selbst davon überzeugen: „Ich, ich weiß, ich hab immer gern Hüt getrage, früher, aber jetzt ... Ach, Sie wisse das ja, die Zeite habbe sich geändert!“

Die Putzmacherin antwortete mit einem Seufzer, und kurz danach – sie konnte es jetzt nicht mehr länger für sich behalten: „Verzeihn Sie, wenn ich Sie immer so anstarr: Aber Sie sehe einer frühere Kundin von mir zum Verwechsle ähnlich! Also dermaße aber auch: das gleiche Gsicht, die gleiche Silhouett und die Haar. Es ischt nicht zu fasse. Als Sie vorhin zur Tür reinkame, hab ich en Moment lang gedacht, Sie wäre es.“

Ich weiß noch, dass mir bei diesen Worten irgendwie wohlig warm wurde ums Herz. So etwas, das lässt einen nicht kalt. Sie hatte mich also auch wiedererkannt, die Gute.

„Na, dann wolle mer mal sehn, ob mer was Passendes für Sie auf Lager habbe.“

Damit verschwand sie wie ein aufgedrehter Kreisel hinter einem Vorhang im Zimmer nebenan. Eine kleine, zweigeteilte Gestalt war sie, vom Kopf bis zur Taille zerbrechlich und zart, von der Mitte bis zu den Füßen lief sie in einen Kegel aus. Sonst aber war sie kaum gealtert: feine Züge im Gesicht wie ehedem, und so gut wie keine Falten.

Bald hörte man quietschende Dielen von dort und gemurmelte Fetzen eines Selbstgesprächs: „Was könnte mer ... vielleicht den da ... oder den dort ... Und wie wär’s denn damit überhaupt?“

Dann plötzlich: „Herrgott Sak!“ Etwas war zu Boden gefallen.Gleich darauf tönte es von der Kundin her: „Mache Sie sich doch um Himmels wille net so viele Umständ Frau äh ...“

Eigentlich hätte sie den Namen ihrer Hutmacherin wissen können, aber in der Eile kam sie nicht darauf. Und wie ich sie so im Profil sah mit ihrer wohlgeformten Stirn, der etwas zu langen Nase und diesem Mund, dessen Lippen sich im Erstaunen öffneten, mit dem sich anschließenden Kinn, das sich trotzig nach vorne wölbte, ehe es sich zum Hals zurückzog, da wusste ich plötzlich: Der siehst du nicht nur ähnlich, mit der bist du sogar verwandt! Seltsam, dass mir das damals schon klar geworden war, oder besser gesagt: immer klarer wurde. Ja, sie musste die Tochter eines meiner Neffen sein. Und das vielleicht sechsjährige Mädchen, das im Laden herumwuselte, war eben einfach ihr Kind, warum auch nicht? Ich weiß noch, dass mich beim Anblick des Kindes trotzdem ein kleiner Blitz durchfuhr und ich mich selber fragte nach dem Grund. Doch noch ehe ich weiter darüber nachdenken konnte, schob sich der Vorhang zur Seite, und es erschien ein Turm von übereinandergestapelten Schachteln, dahinter das strahlende Gesicht der Hutmacherin. Mit leuchtenden Augen verkündete sie: „Binselle, Madame Binselle hat die Dame, der Sie so ähnlich sehn, damals immer zu mir gsagt.“ Und in dem Augenblick, als sie den Namen aussprach, den ich ihr gegeben hatte damals, wollte ich schon auf sie zugehen, um mich endlich zu erkennen zu geben. Aber dann fiel mir ein, dass sie mich gar nicht sehen konnte.

Stattdessen steuerte Madame Binselle ohne aufzublicken direkt auf einen Spiegeltisch zu, der im hinteren Bereich des Ladens stand. Sie stellte den Turm darauf ab und erklärte kurz und rigoros: „Also, wenn Se mich frage, Frau Balewski, ich sag Ihne ganz ehrlich: Eine Frau ohne Hut, die ischt auch heute noch“, und hierbei hob sie den Finger, „eifach net agezoge. Komme Se, setze Se sich!“ Während sie ein Licht anknipste, lud sie ihr neustes Modell mit einer Handbewegung zum Sitzen ein.

„Ich bitt Sie, tun Se mir den Gfalle: Nehme Se Platz und lasse Se sich die jetzt alle mal von mir aufsetze“, sagte die Hutmacherin mit dem Blick auf die Kartons. Und fast zärtlich fügte sie hinzu: „Des sin doch alles meine Kinder, müsse Se wisse. Wer weiß, wer die mal trage wird – aber bestimmt werde se keiner so gut zu Gsicht stehn wie Ihne, davon bin ich überzeugt.“

Während sie schon begann, den untersten Karton hervorzuziehen, murmelte sie halb zu sich und halb zu meinem Konterfei: „Außerdem, bevor ich irgendwas tun kann für Sie, muss ich sowieso zuerscht Ihren Typ finde. Erscht dann könne mer überlege, was aus Ihrem alte Hut werde soll.“

Das war beruhigend für die Kundin und rechtfertigte das bevorstehende Vergnügen. Dabei ging es gar nicht darum. Den Typ, den hatte die Hutmacherin längst erfasst, sofort als die Frau zur Tür hereingekommen war. Die Frage war vielmehr: Wie ließ sich ihr Typ anpassen an die heutige Zeit? Und wie ist es überhaupt möglich, sich aus Fixierungen zu befreien? Aus diesen starren Mustern, die so viele Leben bergen und behüten können. Jedenfalls war ich mir in jenem Moment durchaus bewusst: Die Zeit hatte mich in gewissem Sinn zwar zurückgeholt (oder war ich es selbst, war ich aus eigenem Antrieb zurückgekommen?), aber zwischen damals und jetzt, da war etwas geschehen. Was genau, das musste ich erst noch herausfinden.

 

Sie fing mit dem einfachsten Kopfputz an, die Binselle, und steigerte sich dann immer mehr: Die Krempen wurden ausladender, die Formen gewagter, der Schmuck üppiger und die Farben auffallender. Das Mädchen, dessen Name Lena war, verfolgte die Metamorphose der Mutter mit ängstlicher Verwunderung. Plötzlich rief die Hutmacherin und schlug sich die Hand vor den Mund: „Ja, jetzt! Es ischt nicht zu fasse! Wenn Se so, ja genau so, von de Seit her gucke, dann sehn Se aus wie selle frühere Kundin von mir. Diese Dame aus Pariss!“

Das war er, der Augenblick, den ich nicht vergessen kann: Es war wie eine Säule aus Licht, aus wunderbarem sprühenden Licht; tanzende Nadeln, die mich von allen Seiten sanft berührten. Da endlich hatte ich den Eindruck, dass sich auch etwas in der Frau regte. Sie zog die Augenbrauen zusammen, und – ich war den Tränen nahe – einen Moment lang streifte sie mich in Gedanken. „Die Tante?“, hörte ich sie sagen. „Die Tante aus Pariss?“

Von da an blieb ich eine Zeitlang im Hutladen, schon deswegen, weil ich mich dort noch am sichersten fühlte. Am liebsten zog ich mich den Tag über in die Falten der Gardinen und Stores zurück. Was dort folgte, waren Meditationen in deren Refugien, ein Vormichhindösen in den Rundungen des Faltenwurfs, mit dem Ziel, mir Klarheit zu verschaffen über die Dinge und Menschen, die hier meiner harrten oder auch nicht.

In den Nächten vertrieb ich mir die Stunden mit allerhand koboldartigem Tun. Ich konnte schließlich nicht nur in den Vorhängen vor mich hin sinnieren. Einmal, da angelte ich mir genau jenes zauberhafte Gebilde aus flaschengrünem Velours, mit dem diese Kundin mir so ähnlich gesehen hatte, und setzte es auf meinen Kopf. Aber kaum hatte ich mich ein wenig damit im Spiegel bewundert mit dieser breiten Krempe und einem Tuff aus zarten grauen Straußenfedern, da spürte ich ein leichtes Ziehen in der Brust. Dabei hätte ich mich doch wohlfühlen können – immerhin war es mir vergönnt, mich im Schein der Lampe nach Herzenslust zu betrachten. Stattdessen wurde mir immer schwerer ums Herz. Plötzlich wurde ich dermaßen traurig, dass ich anfing, nur noch schwarz zu sehen. Es war, als gingen langsam alle Lichter aus.

Für den Bruchteil einer Sekunde dachte ich: Oh Gott, jetzt ist es so weit. Jetzt wirst du wieder zurückversinken in dein rabenschwarzes Loch. Aber als ich die Augen öffnete, war etwas ganz anderes geschehen: Mein Antlitz war überzogen von einem sehr feinen Wurzelgeflecht. Als sei nur der Spiegel in Minuten gealtert, während ich jung geblieben war. Ich beugte mich vor und verharrte so, mein filigranes Angesicht betrachtend – ich weiß nicht, wie lang. Jeden einzelnen Zwischenraum, den das Netz freigelassen hatte, nahm ich ins Visier. Da plötzlich erkannte ich an der Stelle meines Ohres eine Droschke, in der eine Dame saß mit meinem Hut – ja mit dem Hut, den ich gerade aufhatte. Und bei genauem Hinsehen erkannte ich in der Dame mich selbst. Doch auf einmal war es wie in einem Film: Das Bild bewegte sich! Der Zweispänner fuhr in gemächlichem Trott die Straße entlang und hielt vor einem respektablen Gebäude, das mir bekannt vorkam. Als sie ausstieg, die Dame, die ich war, gab sie dem Kutscher zu verstehen, er solle nicht warten, die Unterredung, die sie zu führen gedachte, könne längere Zeit in Anspruch nehmen.

Ich sah, wie sie die Stufen hinaufstieg: mit einer Grandezza und Eleganz, dass es einem den Atem verschlug. Ein grünes Kostüm trug sie, mit grau meliertem Kragen und Ärmelaufschlägen. Es war tailliert und hinten hatte es den für die damalige Zeit schon etwas aus der Mode gekommenen cul de Paris. Als sie in die Eingangshalle trat, wurde sie von einem Bureaulehrling in Empfang genommen und auf direktem Wege eine Freitreppe hinaufgeführt. Die Herren, die ihr begegneten, unterbrachen das Gespräch und warfen sich fragende Blicke zu, ehe sie grüßten.

„Wer isch denn das?“, flüsterte der eine dem anderen zu, „Kenne Sie die?“

„Das isch doch vom Herr Fiar die Tante, oder net?“, gab der Angesprochene zurück.

Als die Dame sich wenig später im Bureau des Herrn Fiar befand, stand dieser auf, kam ihr entgegen und begrüßte sie. Nach den üblichen Floskeln fragte er rundheraus: „Was ischt es, das dich zu mir führt?“

Da begann sie herumzudrucksen: „Es isch ... ich weiß nicht, wie ich es sagen soll. Ich bin gekomme, um dich um Rat zu fragen. Du mit deine einflussreiche Beziehunge wirsch vielleicht eine Möglichkeit sehn, mir aus dieser misslichen Lage herauszuhelfen ...“ Offenbar bemühte sie sich, kleine dialektale Einsprengsel in ihre Rede einzustreuen.

So wie er sie ansah, dachte ich, die ich am Spiegeltisch saß, würde die Unterredung mit Sicherheit erfolglos sein.

„Ich fürchte, du überschätzt meinen Einfluss, Tante“, meinte er. „Aber sag, um was geht’s genau?“, wollte er wissen. Sie senkte den Blick und nestelte verlegen an den Handschuhen herum.

Eben noch eine Dame von Welt, ließ sie sich plötzlich verunsichern. „Nun, es geht ums Geld, Er-maan“, sagte sie, wobei sie seinen Namen auf die französische Weise ohne H aussprach. Von dem so Angesprochenen kam zunächst keine Antwort, die kleine Falte auf der Stirn vertiefte sich.

„Du weisch“, begann sie zögernd, „dass ich, als ich mich wieder in ‚Karls-Ruhe‘ niederließ, die Absicht hatte, auch tatsächlich meine Ruhe dort zu finden und meinen Lebensabend, wie es so schön heißt, zu genießen. Also anders ausgedrückt: Ich war immer bestrebt, niemandem zur Lascht zu falle. Ich hab, wie Du ja auch sicher weißt, schon sehr früh ... auf eigene Füß stehn müsse.“ Hier räusperte sie sich, doch für Fragen ließ sie keinen Platz. „Und mit dem Vermöge, das ich besaß oder besitze, wär das alles ja auch durchaus möglich gwesen.“

Sie machte jetzt eine Pause, unfreiwillig allerdings, denn sie suchte nach Worten. Da endlich kam ihr der Neffe, aber nur scheinbar, entgegen: „Ich versteh, worauf du hinauswillsch, Tante. Die Zeite sind hart. Dein Vermöge – wo immer du es auch herhaben magsch – es rinnt dir wie Sand zwische de Finger durch!“

„Du sagscht es, Herman“, jetzt sprach sie den Namen mit der deutschen Betonung aus! „Es rinnt mir wie Sand zwische de Finger durch. Wenn das so weitergeht, werd ich am End nur noch mit e paar Sandkörner in de Hand dastehn!“

Mit übereinandergeschlagenen Beinen saß er da, der Neffe. Er nickte und zuckte mit den Schultern: „Und was meinsch du, wie ausgerechnet ich – ausgerechnet ich! – dir helfe kann dabei?“

Einen Moment lang glaubte sie, sie habe sich verhört. Noch lächelte sie und wollte ihn bitten, ihr seine Antwort zu wiederholen, doch da änderte sie brüsk den Ton: „Aber Männer spreche doch immer so viel über Politik“, stieß sie heraus. „Was sagt mer, was spricht mer in euren Kreisen über die jetzige Lage Deutschlands? Was rätsch du mir zu tun?“

Doch der Neffe lehnte sich zurück und strich sich mit den Fingern über das schüttere Haar: „Weisch du Tante, des isch e bissle viel, was du da auf einmal von mir wissen willsch. Ich weiß net, was mer am beschte tun sollte, wenn mer so vermögend ischt wie du. In den Kreisen, in denen ich verkehr, gibts niemand, der sich derartige Sorge zu mache braucht. Und was deine Frage in Bezug auf die Lage Deutschlands angeht: Da wirscht du mich wohl entschuldige müsse, Tante, aber ich werd hier nicht dafür bezahlt, dass ich mit meine Besucher über Politik plaudere. Im Übrige, warum liesch du net einfach die Zeitung? Da steht doch alles drin, was mer zu dem Thema wisse sollt.“

So schnell hat man wohl kaum jemanden aufstehen gesehen. Die Frau, die ich war, schoss in die Höhe wie ein Pfeil.

„Ich danke dir für das Gespräch“, sagte sie und reichte ihm, der sich ebenfalls erhob, die Hand.

„Du bist mir eine außerordentlich große Hilfe gewesen!“, fügte sie hinzu und richtete ihre Augen starr auf sein Gesicht.

Er hielt ihrem Blick stand und sagte mit lauter Stimme: „Wenn du en Sündenbock suchsch, ma chère ...“ Das letzte Wort zog er extra in die Länge, während er aus seinem steifen Kragen auf sie herabguckte. „Ich will dir net zu nahe treten!“ Jetzt nahm er sich die Frechheit und wippte mit den Füßen auf und ab. „Aber er könnte bei deinen über alles geliebten Franzosen zu finden sein. En gewisser Eckschädel namens Poincaré, würd ich sage. Übrigens, nomen est omen! Mit eme bissle Phantasie!“, fügte er mit einem süffisanten Lächeln hinzu.

Ihre rechte Augenbraue zitterte ein wenig, als sie sich auf dem Absatz umdrehte und ging. Auf und davon. Einfach so, zurück in mein filigranes Spiegelbild. Die Turmuhr schlug eins.

Mit ihren schneeweißen Haaren hat mich die Binselle oft an einen Albino erinnert, als flösse Milch in ihren Adern und nicht Blut. Aber was war es, das in meinen Adern floss? Wahrscheinlich weder das eine noch das andere, denn in dieser neuen Existenz brauchte man sich um all diese Befindlichkeiten keine Sorgen zu machen. Nichts brauchte ich. Auch nach Essen und Trinken verlangte es mich nicht. Nach meinem physischen Tod war mir auch jegliche fleischliche Lust abhandengekommen, was vielleicht ganz gut so war. Obwohl ich zu meinen Lebzeiten durchaus nicht prüde gewesen bin. Hingegen wird man als Geist von etwas ganz anderem getrieben, bloß wusste ich nicht gleich, von was. Auf jeden Fall aber steht man über den Dingen: Der Standpunkt ist hoch oben, obwohl man mitten unter den Lebenden weilt. Wenn man es will, kann man sich sogar in ihre Köpfe stehlen. Man kann alles machen: klein werden wie ein Floh, oder ein anderes Mal so groß, wie man zu Lebzeiten gewesen ist; zwischendurch kann man sich auch sichtbar machen und bisweilen sogar fliegen oder einfach auf irgendwelchen Parkbänken herumdösen. Und natürlich kann man die Zeiträume wechseln, so wie man Fernzüge wechselt, um an einen anderen Ort zu kommen. Das habe ich bald begriffen, denn ich blieb damals nicht nur im Hutladen, sondern spazierte natürlich auch in den Straßen und Gärten umher. Das Problem war nur: Ich konnte kaum mehr wiedererkennen, wo ich war. Jede Menge Erinnerungssplitter lagen um mich herum verstreut, als wäre etwas auseinandergeborsten, in mir und außerhalb von mir ebenso.

Selbst im Nachhinein weiß ich nicht, woher ich die Worte nehmen soll, um nachvollziehbar zu machen, was ich empfand. Aber vielleicht ist das auch gar nicht mehr wichtig, heute, so viele Jahre danach? Es war nicht zu leugnen: Die Stadt war eine Invalide, lag am Boden, zerbombt, zerschlagen, bis zur Unkenntlichkeit versehrt. Tage dauerte es, bis sich meine Augen gewöhnen konnten an diese freiliegenden Knochengerüste überall, diese unzähligen klaffenden Wunden. Und immer wieder ganze Häuserzeilen, die fehlten, wie herausgerissene Glieder aus dem Körper der Stadt. Das, was an Mauern noch stand, war mit Einschusskratern übersät, überall rußgeschwärzte Hausfassaden mit Rissen und Narben, alles untrügliche Spuren, die nur ein Krieg so hinterlässt. Und genau das zu begreifen, dagegen stemmte ich mich mit aller Kraft. Niemals hätte ich es für möglich gehalten, dass den Menschen, egal ob diesseits oder jenseits des Rheins, nach all dem Blut, das zu Beginn dieses unglückseligen Jahrhunderts auf beiden Seiten vergossen worden war, überhaupt noch die Kraft zu einem zweiten Feldzug übrig geblieben war. Die Kraft zu töten, anstatt zu leben? Und doch musste es so gewesen sein.

Tagelang irrte ich umher und wusste nicht, ob ich vielleicht träumte oder einfach nur in die falsche Zeit gestiegen war, so wie man sich irren kann und in den falschen Zug einsteigt. Wie ein räudiger Hund streunte ich auf den Straßen und Plätzen umher. In allen Ecken schnüffelte ich herum, vielleicht, weil ich in diesen Augenblicken tatsächlich war wie ein Hund, denn ich ließ mich führen und leiten von meinem Instinkt.

Nach einer Adresse suchte ich, genauer gesagt nach der Wohnung dieses einen Neffen, den ich in meiner Spiegelvision Erman und später Herman genannt hatte. Je näher ich dem Friedrichsplatz kam, desto aufgewühlter wurde ich. Unter den noch stehenden Arkaden, da wäre es dann beinahe passiert: der totale Kollaps, der Zusammenbruch oder wie man das in meinem Zustand noch bezeichnen könnte. Ich musste mich an einer der Säulen regelrecht festklammern. Es war, als wäre eine Sturmböe in mich hineingefahren und hätte mich mit dem Rücken an die Wand geschleudert. Vor mir war fast alles frei. Dort, wo die Arkaden eigentlich weitergehen sollten, stand nichts mehr, nichts. Das Haus, in dem ich den Neffen vermutete, es war nicht mehr. Dabei hätte ich an den Anblick schon gewöhnt sein können, doch diesmal schlug er ein wie ein Granatenwurf. Ich glaube, ich stöhnte laut auf, aber mein Stöhnen wurde sogleich vom Wind geschluckt. Und im selben Moment fiel es mir wie Schuppen von den Augen; ich begriff, wonach ich gesucht hatte: meine Notizen, versteckt in einem Möbelstück in der Wohnung meines Neffen!

 

Ich weiß nicht, wie lange ich mich so an diese Säule klammerte. Irgendwann schlug die Turmuhr Mitternacht, und nach dem letzten Schlag war der Bann gebrochen. Ich konnte wieder auf den Füßen stehen und atmete erst einmal tief durch. Ich hatte das Gefühl, gerade noch einmal davongekommen zu sein.

Auf dem Weg zurück in den Hutladen überkam mich die Gewissheit, dass alles einen Sinn haben musste. Jawohl! Selbst wenn Hermans Wohnung nicht mehr existierte, musste das nicht zwangsläufig heißen, dass damit auch meine Notizen verloren gegangen waren. Irgendwo mussten sie geblieben sein. Wieso sollte ich sonst jetzt und hier gelandet sein, in den Fünfzigern in Karlsruhe?

Was ist die Aufgabe von Geistern? Diesen unglücklichen herumschwebenden Seelen? Dass sie irgendwann Ruhe finden und sich fortan fernhalten von den Lebenden, behaupte ich. Aber was tun, wenn das, was ihnen Ruhe und Frieden geben könnte, einfach nicht zu finden oder zu realisieren ist? Dabei hatte ich doch meine Notizen tatsächlich später wiedergefunden. Aber solange nur ich sie entdeckt hatte und kein anderer, war es, als existierten sie nicht mehr. Doch eins nach dem anderen.

Als die Kundin ihren Hut abholte, folgte ich ihr nach Hause, wenn man diese armselige Behausung überhaupt so nennen konnte. Am Anfang – ich gestehe es – empfand ich sogar so etwas wie Genugtuung. Es war beinahe ein wunderbares Gefühl, meinem ach so hilfsbereiten Neffen, Herman, in diesen elenden Mauern wiederbegegnet zu sein. Das geschieht ihm nur recht, sagte ich mir, dass er ganz offensichtlich, so wie ich einst auch, seinen Hausstand hatte aufgeben müssen und nun in diesen ärmlichen Verhältnissen bei seiner Tochter leben musste.

Was für ein Glück aber, dass Magda Balewski, die Frau, die mir so ähnlich sah, ohne dass sie es ahnte, zur Hüterin meines Möbels und damit meiner Aufzeichnungen geworden war. Das Schicksal hatte mich zu ihr geführt. Als hätten mich unsichtbare Fäden tatsächlich zu ihr gezogen. Ich glaube, sie erinnerte mich auch an meine Mama, als die noch jung und schön war, aber schon Witwe mit fünf Kindern! Magda hatte zwar nur vier, aber Witwe war sie ebenso. Wenn sie sich die Hände wusch, stimmte das Bild bis in die kleinsten Bewegungen mit dem überein, das ich in dieser Situation von meiner Mutter im Gedächtnis behalten habe. Es war mir nicht sofort bewusst, aber im selben Moment dachte ich: Das kennst du, das hast du schon einmal, déjà vu. Diese Schnelligkeit in den Gesten und dieser Eifer, diese hingebungsvolle Geschäftigkeit und Akribie! So stand auch meine Mama immer vor ihrem Waschlavoir und schrubbte sich Hände und Arme mit einer kleinen Bürste bis zu den Ellbogen hinauf. Und zum Schluss fuhr sie mit den Borsten unter die Fingernägel, in kleinen kurzen Stößen, so dass es schäumte und spritzte. Dann tauchte sie Arme und Hände ins Wasser, um den Schaum abzuspülen, und danach goss sie aus der Kanne klares Wasser darüber. Wenn sie sich abgetrocknet hatte, massierte sie in die stark gerötete Haut ihre Hamamelis-Creme, deren Duft ich so liebte an ihr. Manchmal näherte ich mich ihr allein deswegen und schnupperte an ihren Händen. Ich kann mich nicht erinnern, dass ihre Hände jemals nach etwas Unangenehmem gerochen hätten. Die Mama achtete immer darauf, dass keine hässlichen Gerüche an ihnen haften blieben. Nichts sollte darauf hinweisen, dass sie bei ihrer Arbeit als Hebamme mit geronnenem oder frischem Blut und sonstigen, bisweilen übel riechenden Körpersekreten in Berührung gekommen war.

Sie war mit allem vertraut: nicht nur mit dem Leben, auch mit dem Tod. Sie wusste: Wenn der erst einmal seinen Fuß in die Tür bekommen hat, ist es für ihn ein leichtes Spiel. Zuerst nahm er den Vater mit. Anfang Juni 1872 war es, in einer warmen Sommernacht, dann drei Monate später das jüngste Kind. Und im Jahr, das folgte, riss er auch die Mutter mit sich fort. Innerhalb kürzester Zeit schnappte sich dieser gefräßige Geselle drei Seelen aus ein und derselben Familie. Wo ist da die Gerechtigkeit? Und die Mama war schließlich noch nicht alt. 37 Jahre! Je vous en prie! Da steckt man doch noch mittendrin.

Viele sagten damals, sie sei an gebrochenem Herzen gestorben. Sie habe den Tod ihres Mannes nicht verkraftet und die Schande nicht, die über die Familie gekommen war, nachdem bekannt wurde, dass der Mann seiner Frau einen Berg voller Schulden hinterlassen hatte. Ja, der Oboist aus dem ehrwürdigen Leibgrenadier-Regiment war zum Spieler geworden, zum Hasardeur, der in der Spielbank von Baden-Baden sich und seine Familie in den Ruin gestürzt hatte. Der Musikus hatte sich hinterrücks in einen Luftikus verwandelt. Was der Mama und uns Kindern blieb, war das Aushaltenmüssen der Schande und der Scham. Nichts wurde uns erspart, und es kam, was in solchen Fällen kommen musste: die Pfändung, die Auflösung des Heims und der Umzug in eine viel kleinere Wohnung am Rand zum Karlsruher Dörfle hin.

Was folgte, war pure Armut, ein mühseliger Alltag, der niemals Routine wurde. Stattdessen ging eine Katastrophe in die andere über.

Der Blick, die Schau zurück auf die beschrittenen Wege, die abgeschrittenen Ziele, auf die verschrittene und zerschrittene Zeit. Wo ist der rote Faden, der meine Zeit durchmessen hat? Wo ist er und was? Ist er, war er die Musik?

„Du würdescht mir und dem Papa eine große Freude machen“, sagte damals die Mutter auf dem Sterbebett zu mir, „wenn du seinem Beispiel folgen und Musikerin werden würdescht.“

Jedenfalls war es das, was ich von ihrem Stammeln und Röcheln noch verstehen konnte. Wenigstens eines seiner vielen Kinder sollte das musikalische Erbe antreten, nicht zuletzt auch deswegen, um die verlorene Ehre der Familie wiederherzustellen. Das war man sich schuldig, sich und all denen, die es in der Verwandtschaft auf diesem Gebiet zu etwas gebracht hatten.

Als 1873 unsere Mama dann auch von uns ging, brach das Eis unter unseren Füßen nun ganz. Wir standen im Wasser bis zum Hals. Als Vollwaisen fischte man uns heraus, und spätestens da war es mit der Familie aus und vorbei. Noch bis zum Ende des Schuljahres konnte ich in der Obhut des Onkels bleiben, die übrigen Geschwister wurden in Pflegefamilien aufgeteilt. Nach der Schule wurde für mich eine Stelle gesucht, bei der ich Kost und Logis frei haben würde. Es fand sich eine Handwerkerfamilie, die Messer und Bestecke, auch für medizinische Zwecke, herstellte. Unsere Mama musste dort einmal ihre Ausrüstung als Hebamme erstanden haben. Jedenfalls sprach der Mann immer sehr wohlwollend von ihr. Das Wichtigste aber war: Diese Familie wohnte in Baden-Baden. Schon als Kind hatte ich davon gehört. Dort, so hieß es, könnte man nicht nur unserem Großherzog und seiner Gemahlin über den Weg laufen, sondern auch dem König von Preußen oder dem Zaren von Russland. Allein diese Vorstellung verwandelte den Umzug in den schönen Kurort an der Oos zu einem Gang ins Paradies.

Doch dann war es nicht ganz so paradiesisch, zumindest nicht am Anfang. Schließlich war ich abhängig vom Wohlwollen meines Arbeitgebers, der zugleich die Vormundschaft über mich besaß. Oft musste ich im Haus helfen und hin und wieder Botengänge übernehmen, wovon ich Letzteres sehr gerne tat. Dabei schlug ich immer größere Bögen, damit mich meine Wege in die Nähe des Kurparks führten, natürlich in der Absicht, dort den feinen Damen und Herren der Gesellschaft zu begegnen. Was mich dabei am meisten irritierte, war die Tatsache, dass nicht nur ich diejenige war, die andere sah, sondern dass auch ich gesehen wurde. Trotz meiner einfachen Kleidung muss ich schon damals eine recht hübsche Erscheinung gewesen sein, denn ich erntete so manche Blicke, aus denen ich die widersprüchlichsten Dinge las: Bei den Männern war es Bewunderung und bei den Frauen und Mädchen oftmals Neid und Missgunst.