Dunkle Seite - Mangfall ermittelt

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PIA

Der folgende Arbeitstag verplätschert sich irgendwie. Andrea will es sich nicht eingestehen, aber die U-Bahn-Geschichte hat Spuren bei ihr hinterlassen. Mal ist sie grüblerisch, mal abgelenkt. Sie ist nicht fokussiert. Auf Josefs Drängen hin hat sie sich einen Termin bei der Polizeipsychologin geben lassen. Wenn ihn das beruhigt, dann macht sie das in Gottes Namen. Jedenfalls ist sie unzufrieden mit sich, als sie am frühen Abend zu Hause eintrifft.

Und kaum hat sie die Sachen fürs Abendessen auf den Küchentisch gestellt, da bekommt sie einen Anruf. Polizeiwache Altstadt. Sie soll Paul dort abholen. ‚Oh, Mann!‘, denkt sie. ‚Was hat er diesmal angestellt?‘ Der Beamte hat es ihr am Telefon nicht verraten. ‚Hoffentlich haben sie Paul nicht mit Hasch oder Pillen in der Tasche erwischt, das könnte unangenehm werden. Aus dem gemütlichen Abend zu Hause wird jedenfalls nichts.‘

Jetzt fällt ihr Tom ein. Den wollte sie ja eigentlich noch im Krankenhaus besuchen. Aber geschenkt – sie muss Paul von der Polizei abholen. Oder soll sie ihren kleinen Bruder ein bisschen schmoren lassen? So eine Nacht in der Zelle wirkt ja manchmal Wunder bei jugendlichen Straftätern. Da hat man Zeit zum Nachdenken. Würde Paul sicher nicht schaden. Nein, das bringt sie nicht übers Herz. Außerdem ist Paul kein Jugendlicher mehr.

Als sie um halb acht am Marienplatz aus der U-Bahn steigt, wird sie von den Menschen fast erschlagen. Wo wollen die alle hin? Dahineilende Mumien in dicken Wintermänteln und Anoraks mit lustigen bunten Mützen und Plastiktüten in schreienden Farben? So spät noch? Klar, Shopping bis zur letzten Minute. Countdown läuft. Ein gewaltiger Menschenstrom, der sich in die U-Bahn-Station hinein und aus ihr heraus ergießt. Die Innenstadt, speziell der Marienplatz, löst bei Andrea immer wieder Brechreiz aus. Der ganze Kommerzwahnsinn in der Fußgängerzone, die vielen immer gleichen Klamottenläden. Naja, neue Jeans und Stiefel könnte sie auch mal brauchen. Ihre fadenscheinige Jeans kommt schon etwas derangiert rüber. Löcher in den Hosen sind ja schon wieder out. Aber Mode ist ihr nicht wirklich wichtig. Auf die inneren Werte kommt es an. Und sie hasst Shopping.

Andrea fröstelt es auch beim Sound des Hofbräuhauses, das nur ein paar Meter von der Altstadtwache entfernt ist. Humtata hallt durch die Lederergasse. Das ganze Jahr Oktoberfest.

Sie betritt die Wache. Ein müder junger Beamter schaut sie fragend an. Andrea zeigt ihren Ausweis. „Guten Abend. Ich bin angerufen worden. Mein Bruder sitzt hier ein?“

Der Beamte mustert ihren Ausweis und schaut in den Computer. Er nickt. „Ja, Zelle 2.“

„Was hat er getan?“, fragt Andrea.

„Er hat eine Veranstaltung gestört.“

„Was für eine Veranstaltung?“

„Die Besorgten Münchner Bürger hatten eine Versammlung in einem der Säle im Hofbräuhaus. Ihr Bruder hat zusammen mit einem anderen linken Aktivisten die Tagung gestört. Und sich der Polizei widersetzt, als diese eingetroffen ist.“

„Hat er eine Torte geschmissen?“

„Nein, aber ein Transparent entrollt und lautstark Sprüche skandiert.“

„Da gibt es Schlimmeres.“

„Wie meinen Sie das?“

„Es gibt Schlimmeres, als gegen rechte Parteien zu demonstrieren. Man wird doch noch seine Meinung sagen dürfen?“

„Eben. Das gilt auch für die BMB.“

Andrea ist irritiert. Versteht sie das richtig? Findet der das okay?

„Das war keine öffentliche Veranstaltung“, ergänzt der Polizist.

„Kann ich meinen Bruder mitnehmen?“

„Können Sie. Anzeige folgt noch. Außer die Leute von den BMB überlegen es sich nochmal anders und verzichten auf die Anzeige. Wobei die Kollegen meinen …“ Er bricht ab und dreht sich zur Tür, durch die gerade ein Anzugmensch ins Präsidium stürmt. „Wo ist mein Mandant?“, bellt er den Polizisten an.

„Ganz ruhig. Wer sind Sie?“

„Rechtsanwalt Dr. Hassberger. Wo ist Herr Hassberger?“

„Steht vor mir, nehm ich mal an?“

„Lassen Sie die Witze! Bert Hassberger. Also?“

„Zelle 2. Einen Moment Geduld bitte. Ihr Ausweis?“

Genervt sucht der Mann seinen Ausweis heraus und schiebt ihn über den Tresen. Andrea wirft dem Anzugheini einen scharfen Seitenblick zu.

„Sie warten hier!“, weist der Beamte die beiden an und deutet einem Kollegen an, seinen Platz hinter dem Tresen einzunehmen. Er verschwindet durch eine Seitentür.

Kurz darauf ist er zurück. Im Schlepptau: Paul und einen zotteligen Langhaarigen in bunten Ethnoklamotten.

„Hey, Andrea, gut, dass du kommst! Deine Kollegen würden uns gerne noch länger hierbehalten.“

Jetzt sieht der Rechtsanwalt Andrea schräg an.

„Mangfall, Mordkommission“, stellt sie sich vor.

„Aha.“ Er deutet zu dem Hippie. „Mein Bruder.“

Andrea versucht, die beiden Typen – Anwalt und Batik-Man – unter einen Hut zu bekommen. Gelingt ihr zumindest optisch nicht.

„Das ist Bert“, sagt Paul. „Er war bei der Aktion dabei. Ich sag dir, das war voll krass, wie wir losgelegt haben, da haben die Typen …“ Andrea hebt warnend den Zeigefinger. „Schweig, kleiner Bruder.“

Der Beamte reicht Andrea und dem Anwalt Papiere zum Unterschreiben. Dann gibt er den beiden Delinquenten ihre persönlichen Gegenstände zurück.

„Die Nacht ist noch jung“, meint Bert draußen vor der Wache und grinst.

Sein brüderlicher Rechtsbeistand schüttelt den Kopf. „Bert, du gehst jetzt nach Hause. Ich hab’s langsam dick, dich immer wieder bei der Polizei abzuholen.“

„Hey, es gibt Demonstrationsfreiheit.“

„Ja, bei angemeldeten Demos. Und Hausfriedensbruch gibt es auch. Irgendwann krieg ich dich da nicht mehr so einfach raus. Dann sitzt du ein bisschen länger in deiner Zelle. Arbeitet endlich mit legalen Mitteln gegen diese Typen! Das wäre für mich und auch für dich stressfreier. So, ich muss los. Ciao.“

Bert lacht und sagt zu Paul. „Es ist nicht das Schlechteste, wenn wenigstens einer in der Familie einen ordentlichen Beruf hat.“

„Wem sagst du das?“, meint Paul und grinst Andrea an. „Boh, ich hab einen Wahnsinnshunger.“

Kurz darauf sitzen sie im Paulaner im Tal und warten aufs Essen. Andrea ist nur deswegen dabei, weil sie Paul heute nicht mehr aus den Augen lassen will. Und beinahe wäre ihr rausgerutscht, dass Bier jetzt nicht gerade das zum Anlass passende Getränk ist. Aber was soll das? Die zwei sind erwachsen und sie sind nicht aufgegriffen worden, weil sie besoffen oder bekifft waren, sondern weil sie gegen eine rechte Partei protestiert haben. Das ist ehrenwert. Macht nicht jeder. Die haben sich ihr Bier redlich verdient. Auch wenn sie gar nicht happy ist, dass Paul jetzt schon wieder mit anderen Polizisten als mit ihr Kontakt hat.

Paul stürzt sich halbverhungert auf seinen Schweinebraten und Bert attackiert einen Berg Kasspatzn. „Nichts mit Gesicht“, hatte er beim Bestellen gesagt und ihnen einen langen Vortrag gehalten über Fleischüberproduktion und vegetarische Küche. Und er redet auch beim Essen weiter wie ein Wasserfall, mit wenig appetitlichen Käsefäden im Mundwinkel.

„Und du hast Paul da reingezogen?“, fragt Andrea schließlich Bert und bereut das Suggestive ihrer Frage sofort.

Aber Bert bleibt ganz cool. „Wir haben uns auf einer Anti-Pegida-Demo vor ein paar Wochen kennengelernt. Und Paul fand unsere Ansätze interessant.“

„Das hast du mir nie erzählt, Paul. Also, dass du demonstrieren gehst.“

„Tja, jeder hat so seine Geheimnisse.“

„Und, wer seid ihr, Bert? Also, seid ihr eine Partei, ein Verein?“

„Kein Verein, keine Partei, ein loser Verbund. Wir nennen uns PIA – Politisch Interessierte Antifaschisten.“

„Hui, das klingt aber oldschool.“

„Oldschool ist nicht immer schlecht.“

Andrea nickt. Da hat er recht. „Und, was genau macht ihr?“

„Wir setzten uns inhaltlich mit rechten Parteien auseinander, durchleuchten ihre Programme, Ziele, informieren die Öffentlichkeit, posten Informationen und Hintergrundberichte in Sozialen Netzwerken und demonstrieren im öffentlichen Raum. Es ist wichtig, Gesicht zu zeigen, offen zu sagen, dass man sich nicht alles tatenlos anschaut. Es ist wichtig, den Leuten einen Blick hinter die Fassade dieser angeblich wohlmeinenden, besorgten Bürger zu ermöglichen.“ Er schnauft auf und schiebt sich eine weitere Gabel Kasspatzn in den Mund.

Andrea nickt wieder. Ja, das kann sie unterschreiben. „Und was machst du genau, also hast du eine bestimmte Funktion bei diesen PIA?“

„Ich bin eigentlich kein Mann für die erste Reihe, ich bin Computerspezialist, Entwickler bei einem kleinen Software-Unternehmen. Die Rechten machen heutzutage ihre Propaganda hauptsächlich übers Internet, also muss man sich vor allem die Sozialen Medien genau ansehen, um zu wissen, was die da treiben, wie sie funktionieren. Wir versuchen dann, Kampagnen gegen die Rechten in diesen Medien zu fahren. Das ist mein Job, also vor allem die technische Seite.“

Andrea nickt und sie bestellen noch einen Schnitt, bevor sie aufbrechen.

„Hey, was denkst du?“, fragt Paul auf dem Heimweg.

„Dass du besser aufpassen musst, wenn du nicht willst, dass die Polizei dich gleich wieder einlocht.“

„Hey, komm, da kenn ich dich aber anders. Früher warst du eine glühende Grüne, die für jeden Misthaufen auf die Straße gegangen ist. Und die Polizei war dir damals ziemlich wurscht.“

Sie lacht. „Da hast du ausnahmsweise mal recht.“

Rot und Grün

Tom starrt an die Decke. Scheißkrankenhaus. Die grünen und roten Lämpchen im nächtlichen Zimmer. Grün. Rot. Grün. Rot. So lange schon. Kommt ihm ewig vor. Es geht ihm eigentlich schon ganz gut. Nur Prellungen, eine Platzwunde an der Stirn, ein paar Schürfwunden. Fast schon wieder alles im grünen Bereich. Ein paar weitere Tage wird er aber noch dranhängen. Professor Zauner hat ihn nachdrücklich gebeten, noch etwas zu bleiben für seine Forschungsreihe zu posttraumatischen Belastungsstörungen und ihren physischen Implikationen. Ja, er hat eingewilligt. Denn Zauner hat ja recht. So glimpflich er davongekommen ist, so hat er sich doch noch nie so schwach und verletzlich gefühlt. Psychisch wie physisch. Da ist zweifellos Aufbauarbeit nötig. Da kann er professionelle Hilfe brauchen.

 

Andrea ist da ganz anders gestrickt. Die hat es kaum zwei Tage hier ausgehalten. Ein paar Tage bleibt er noch. Aber die Zeit dehnt sich endlos hier. Und Andrea ist heute nicht vorbeigekommen, sie hat nicht einmal angerufen. Und er hatte tatsächlich die romantische Vision gehabt, dass sie zusammen ein Zimmer … Was für ein Quatsch!

Jetzt denkt er wieder an den Typen, der ihn vor die U-Bahn gestoßen hat. Der ist jetzt tot. Gute Sache. Tom erschrickt selbst über sein hartes Urteil. So darf man nicht denken, oder? Doch, geschieht ihm recht. Der Typ hat ihn vor den Zug gestürzt und Andrea entführt! Und vorher schon zwei Leute umgebracht. Irgendwer hat ein gutes Werk getan, ihn zu überfahren. Unfall oder Absicht? Josef hat ihm heute am Telefon von einer weiteren Person erzählt, die in der Quiddestraße überfahren wurde. Derselbe Tat-hergang. Wenn man das so nennen kann. Sehr sonderbar. Er selbst interessiert sich vor allem für das erste Opfer. Opfer? Täter! Ein Typ, der Menschen vor die U-Bahn gestoßen hat. Gut, dass der das nicht mehr machen kann. Was wäre passiert, wenn er nicht umgefahren worden wäre? Was hätte der Typ mit Andrea gemacht? Hätte er mit dem Morden aufgehört? Müßig, diese Überlegungen. Jetzt beschäftigen ihn andere Fragen: ‚Warum besucht Andrea mich nicht? Warum ruft sie nicht mal an? Liebt sie mich? Banale Frage. Ist das banal? Nein. Die wichtigsten Dinge im Leben sind banal. Liebt sie mich? Natürlich liebt sie mich! Natürlich?‘

Boh, er kann hier nicht nur tatenlos rumliegen. Er muss dringend an die frische Luft. Nur ein bisschen. Morgen hat ihn Professor Zauner wieder als Anschauungsobjekt für seine Studenten zur Verfügung. Jetzt muss er raus. Sonst dreht er durch. Der Vollmond wirft genug Licht ins Zimmer, dass er kein Licht anmachen muss. Er schlüpft in Trainingsanzug und Turnschuhe, öffnet die Tür und späht in den Gang. Die Stationsschwester verschwindet gerade in einem der Krankenzimmer. Er huscht hinaus auf den Flur und am Glaskasten der Schwester vorbei. Treppenhaus, dann endlose Gänge. Er begegnet ein paar müden Pflegern und Ärzten, die ihm keinerlei Beachtung schenken. Er marschiert durch den Haupteingang und ist draußen.

Der Himmel ist unendlich hoch und unendlich schwarz. Ein paar Sterne. Der Mond ist gerade hinter eine Wolkenbank getaucht und lässt deren Ränder glühen. Ein einzelnes Taxi wartet an der Straße. Einfach einsteigen und damit zu Andrea fahren? Nein. Kann er nicht bringen. Am Ende passt ihr das gar nicht. Außerdem hat er keinen Cent Geld dabei.

Er geht die Englschalkinger Straße stadteinwärts, erreicht den Busbahnhof, die U-Bahn-Station Arabellapark. Auch hier ist nichts los. Er geht in die U-Bahn runter. Sieht auf die Uhr. Halb eins. Das Einfahren des Zugs erschreckt ihn. Keine gute Erinnerung. Egal. Er steigt ein. Ohne Ticket. Um die Uhrzeit kein Thema. Hoffentlich. Sein Abteil ist leer. Böhmerwaldplatz, Prinzregentenplatz – menschenleere Geisterbahnhöfe. Am Max-Weber-Platz steigen ein paar Nachtschwärmer ein. Dann Lehel. Zwei Sicherheitstypen mustern ihn. Aber sie sind am Ende ihrer Schicht. Seine Gedanken schweifen ab, er fühlt sich plötzlich furchtbar müde. Theresienwiese. Endstation. Hier? Klar, nach 20 Uhr muss man in die U5 umsteigen, wenn man nach Laim weiter will. Aber wer will schon nach Laim? Er will zur Schwanthalerhöhe, in Andreas Nähe, zumindest von der Straße aus zu ihrem Fenster hochschauen. Will er das wirklich? Das kommt ihm jetzt ziemlich blöd vor. Er ist kein Stalker.

Tom ist der einzige am Bahnsteig, geht zum Ausgang. Die Rolltreppe spuckt ihn auf die Theresienwiese. Wow, der Himmel voller Sterne. Viel mehr, viel näher als über dem Krankenhaus. So kommt es ihm vor. Auf dem Asphalt kommt ihm ein Licht entgegen, in Schlangenlinien, ein singender Radfahrer. Tom sieht zur Bavaria. Mattglänzend im Scheinwerferlicht. Stolze Herrscherin über ihr dunkles Reich. Er sieht die steifen Schatten der Beduinenzelte. Kein Betrieb mehr. Zeltplanen glänzen silbrig. Der Bauzaun um das Tollwood-Gelände attraktiv wie eine Zahnspange. „Gitterfresse“, wie sie damals auf der Schule sagten.

Die Stadt summt leise. Tom friert in seinem dünnen Jogginganzug. Jetzt wäre der richtige Moment für eine Zigarette – würde er rauchen. Aber er raucht nicht. Andrea schon. Nicht der einzige Unterschied. Ist er ein Langweiler? Vielleicht. Nein, ist er nicht. Und jetzt? Zu Fuß. So weit ist das nicht. Nein, er kann nicht einfach so mitten in der Nacht bei ihr auftauchen. Unmöglich. Ihm ist kalt. Bewegung!

Er geht los. Gelenke knirschen, schmerzen ein wenig. Hat er schon vorhin auf dem Weg zur U-Bahn gemerkt, aber ignoriert. Bestimmt nur eingerostet. Er hat sich kaum bewegt in den letzten Tagen. Es strengt ihn an, aber es tut ihm auch gut. Er geht schneller, verfällt in lockeren Trab. Nicht die Geschwindigkeit, mit der er sonst joggt, aber schneller als Gehen. Definitiv. Er findet seinen Rhythmus, stößt weiße Schwaden aus, kalt ist ihm nicht mehr, sein Herz pocht, seine Lungenflügel fiepen. Er schwebt über die Theresienwiese, von einer Laternenlichtinsel zur anderen, durch dunkle Straßen. Schlachthofviertel, Dreimühlenviertel, an der Isar entlang, am Friedensengel den Berg hoch, die Prinzregentenstraße raus, am Ring nach links.

Schließlich sieht er das blaue U-Bahnschild am Arabellapark. Ein paar Meter noch. Locker läuft er aus. Geht doch. Er ist besser in Form als gedacht. Tom sieht zum Haupteingang der Klinik. Dort stehen zwei rauchende Pfleger. Er wartet, bis sie ausgeraucht haben, und huscht mit ihnen zusammen am Pförtner vorbei. Oben auf seinem Stockwerk ist keine Schwester zu sehen. In seinem Zimmer merkt er, dass der Trainingsanzug komplett durchgeschwitzt ist. Er zieht ihn aus und hängt ihn auf den Balkon. Duscht heiß. Legt sich ins Bett. Fühlt sich wie neugeboren. Wahrscheinlich hat er morgen eine Monstererkältung. Oder gerade nicht. Er schläft sofort ein.

Roter Bereich

Paul ist noch im Tiefschlaf, als Andrea morgens die Wohnung verlässt. Die Sonne scheint. Spontan beschließt sie, zu Fuß ins Präsidium zu gehen. Sie genießt den Widerspruch in ihrem Gesicht: der kalte Wind und die schon kräftige Sonne. Wäre cool, heute einfach zur Donnersberger Brücke zu gehen, in die Oberlandbahn zu steigen und ein paar Bahnstationen in Richtung Berge zu fahren. Zum Taubenberg vielleicht. Da war sie schon lange nicht mehr. Auf der windgeschützten Aussichtsterrasse bei dem Wirtshaus oben. Mit dem Blick auf schneebedeckte Gipfel. Ein heißer Kaffee, die warmen Bretter der Hausfassade im Rücken. Ganz allein. Nichts tun, nichts denken, einfach chillen. Jetzt fällt ihr Tom ein. Mist, den hat sie gestern komplett vergessen, nicht mal angerufen. Aber sie hat geträumt von ihm. Dass er plötzlich vor ihrer Wohnungstür steht, im Schlafanzug. Und dass sie ihn nicht reinlässt mit den Worten: „Wer sind Sie? Ich kenne Sie nicht.“ Blöder Traum. Heute muss sie sich unbedingt bei ihm melden. Sie sind ja schließlich ein Paar. Sie wird ihn besuchen. Wenn sie mit der Arbeit gut vorankommt, macht sie heute ein bisschen eher Schluss.

Im Büro recherchiert Andrea im Netz zu den BMB. Dabei stolpert sie über einen Namen, den sie erst kürzlich gegenüber Christine erwähnt hat: Thomas Wimmer. Der gutaussehende Kotzbrocken von der Sicherheitsfirma. Sie denkt auch an den halbseidenen Typen, der für Wimmer gearbeitet und die schmutzigen Aufträge für ihn erledigt hat. Ein Kleinkrimineller, ein Erpresser. Natürlich hatte Wimmer am Ende ihrer Ermittlungen seine weiße Weste behalten. Ist ja meistens so. Und jetzt findet sie seinen Namen ausgerechnet in einem BMB-Positionspapier zur Inneren Sicherheit. Interessant. Sehr interessant sogar. Und garantiert kein Zufall. „Da steckt mehr dahinter!“, murmelt sie.

In der folgenden Stunde bringt sie sich auf den aktuellen Stand zu Wimmer und seinen Geschäften. Schnell findet sie heraus, dass er erst kürzlich einen Entwicklerpreis gewonnen hat, verbunden mit einem Fördervolumen von zwei Millionen Euro für die Entwicklung einer Sicherheits-App, an der sogar das Bundesministerium des Inneren und die Polizeibehörden reges Interesse zeigen.

Andrea schüttelt den Kopf. Wimmer, die Polizei, die Typen von den BMB – ein unguter Dreiklang. Die BMB profitieren von der allgemeinen Verunsicherung der Bürger. Und ein Typ mit kommerziellen Interessen mischt sich in die Aufgaben der Polizei ein. Es wundert sie bei den weiteren Recherchen gar nicht mehr, dass Thomas Wimmer nicht nur im Bereich der Online-Produkte expandiert. Sie findet ihn auch als Geschäftsführer eines Dachverbands der Sicherheitsindustrie mit einschlägigen Dienstleistungen und Produkten: Waffen, Sicherheitskleidung und Selbstverteidigungskurse.

Mit diesen Erkenntnissen geht sie zu Josef und platzt mit ihren Schlussfolgerungen heraus: „Weißt du, was da abgeht? Das ist ein abgekartetes Spiel: Die Politik steht seit den Attentaten der letzten Jahre immer mehr unter Druck, das Sicherheitsgefühl der Bürger zu verbessern. Und das möglichst kostengünstig und nicht zu personalintensiv. Und die Polizei kann nur so gut sein, wie es die politischen Rahmenbedingungen erlauben. Die ehrliche Rechnung lautet aber ganz einfach: Sicherheit braucht Personal. Und das kostet Geld. Und das will keiner zur Verfügung stellen. Genau darauf baut Wimmer seine Geschäftsidee auf, die offenbar sogar das Innenministerium toll findet: Die Leute sollen sich sicherer fühlen, obwohl sich an der Ausstattung der Polizei nichts ändert. Eine kostengünstige Lösung, vor allem auch, weil es für die Bürger Eigenvorsorge bedeutet. Wenn einem die Informationen über die eigene Gefährdung etwas wert sind, bezahlt man dafür. Was Wimmer vorher nur für hochgefährdete Personen angeboten hat – einen Sicherheits-Forecast wie eine Wettervorhersage –, das gibt es offenbar bald für die breite Masse. Und das Bemerkenswerte daran ist: Wimmers App ist keine Zukunftsmusik mehr, sondern bereits im Live-Testeinsatz. Die ersten Einsatzkräfte der Polizei arbeiten schon mit der App, zum Beispiel bei der Sicherung von Großveranstaltungen. Und, was sagst du dazu?“

Josef reagiert auf diese Tirade ganz anders als erwartet. Kein Lob für ihr Durchleuchten der Hintergründe des Wirkens von Thomas Wimmer und seiner Verbindungen zu den BMB und dem Innenministerium, sondern leicht genervtes Zusammenziehen der Augenbrauen. „Andrea, den Wimmer haben wir letztes Mal schon nicht am Arsch gekriegt. Und mit Politikern werden wir uns auch nicht anlegen, mit dem Innenminister schon gar nicht.“

„Hey, Josef, die BMB sind ein rechter Haufen, da geht es um Rechtsextreme und die Vermarktung vermeintlicher Sicherheit durch irgendeine App. Für die Sicherheit der Bevölkerung sind wir zuständig, die Polizei. Wir können doch nicht zulassen, dass solche Apps in Zukunft die Basis zur Einschätzung einer Gefährdungslage sind.“

„Andrea, du hast es selbst gesagt, ein paar Kollegen arbeiten bereits damit. Anscheinend gut.“

„Niemand weiß, woraus sich der Forecast speist, Josef! Was sind das für Daten, wie werden sie erhoben?“

„Naja, es wird ganz ähnlich sein wie bei den Forecast-Daten, mit denen Wimmer vorher Sicherheitskonzepte für seine einzelnen Topkunden entworfen hat. Du musst halt Selbstauskunft geben, zu deinem beruflichen wie privaten Umfeld, deine Bewegungsdaten weitergeben, die werden dann mit anderen Daten und Statistiken abgeglichen. Und so weiter und so fort.“

„Der gläserne Bürger!“

„Ja, natürlich. Wobei wir das ja eh schon sind. Wir geben doch andauernd Daten preis. Sag bloß, du hast kein WhatsApp?“

„Nein, mir reicht eine gute alte SMS. Und so banal ist das nicht mit den Daten. Das ist Big Brother in der Hosentasche.“

„Ja, deine Sicherheits-App weiß dann vermutlich alles über dich. Und die Betreiber der App somit auch. Aber sieh es mal so: Diese App ist auch eine Demokratisierung von Wissen. Warum sollen sich nur Reiche halbwegs verlässliche Sicherheitsprognosen leisten können? Es zwingt dich ja niemand, die App zu kaufen und zu benutzen. Das kannst du immer noch frei entscheiden.“

Andrea schüttelt heftig den Kopf. „Sag mal, Josef, haben sie dir das Gehirn zu heiß gewaschen? Wir haben keine Ahnung, welche Daten für die Einschätzung der Gefährdungslevel dieser App zugrunde liegen. Wer sagt uns, dass die Resultate nicht in die gewünschte Richtung gedreht werden?“

 

„Natürlich werden sie das.“

„Wie, natürlich?“

„Na, so: Dein Forecast wird ein bisschen übertrieben, du sorgst dich deswegen mehr um deine Sicherheit, riskierst lieber nichts. Wenn dann nichts passiert, wirst du nicht enttäuscht sein. Im Gegenteil – du hast ja Vorsorge getroffen. Und deine Aufmerksamkeit für gefährliche Situationen ist geschärft. So schlecht ist das nicht.“

„Das meinst du jetzt nicht im Ernst, Josef? Ich will nicht, dass jemand mit so was Geschäfte macht. Wir sind für die Sicherheit der Bürger verantwortlich! Wimmer und die BMB manipulieren unser Sicherheitsempfinden. Und warum die BMB das tun, ist doch ganz klar: Gesetze lassen sich viel leichter durchsetzen, wenn die Leute Angst haben und sich nach Sicherheit sehnen und dafür auch bereit sind, Einschränkungen in Kauf zu nehmen. Etwa, dass sie nicht so genau hinschauen, was mit ihren Daten so alles passiert.“

Josef nickt langsam. „Ja, so ist es vermutlich.“

„Das sagst du einfach so? Als ob es okay ist?“

„Nein, das ist nicht okay. Aber wir sind Kriminalbeamte in der Mordkommission. Wir kümmern uns um Tote.“

„Nein, tun wir nicht.“

„Natürlich tun wir das.“

„So? Du hast gesagt, dass wir die Finger von dem zweiten Unfallopfer in Neuperlach lassen sollen.“

„Hab ich nicht gesagt. Ich hab gesagt, dass ich beim Chef vorsingen musste und er gemeint hat, wir sollen das den Kollegen vom Staatsschutz überlassen.“

„Und?“

„Wir sollen lautlos ermitteln. Und wir konzentrieren uns offiziell auf Fall 1. Also mach bitte nicht so viel Wind.“

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