Dunkle Seite - Mangfall ermittelt

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Die dunkle Seite

Josef hat sich in seinem Büro vergraben. Hat weiter recherchiert zu Carsten Wiesinger. Google zeigt viele Treffer. Zu viele. In München und im ganzen Land. Der Name ist nicht gerade selten. Bilder? Alles Mögliche, nichts Passendes. Schließlich entdeckt Josef den Gesuchten aber doch noch: auf Fotos der Homepage einer politischen Vereinigung in München. Die BMB, die „Besorgten Münchner Bürger“, eine rechte Protestpartei.

Josef kennt die BMB bislang nur vom Hörensagen. Das ist die dunkle Seite der Politik. Jetzt hat er zumindest einen Anhaltspunkt, warum sich der Staatsschutz in den Fall einmischt. Klar, die sind an der rechten Szene dran. Aber welche Rolle spielte Carsten Wiesinger bei dieser Partei? War er ein strammer Rechter, der beobachtet wurde? War er ein Informant? Oder gar ein V-Mann? Alles pure Spekulation. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass Wiesinger Opfer eines simplen Unfalls mit Fahrerflucht ist, geht für Josef gegen Null. Er grübelt weiter. Könnte es ein Attentat gewesen sein? Von radikalen Linken? Oder ist Wiesinger als V-Mann aufgeflogen und ein Opfer von Rechten, denen nicht geschmeckt hat, dass er sie ausspioniert? Josef informiert sich genauer über die BMB und stellt fest, dass diese inzwischen eine feste lokalpolitische Größe sind. Mit guten Chancen, bei der nächsten Kommunalwahl ein zweistelliges Ergebnis einzufahren. Er staunt. Diese politische Entwicklung hat er verpennt. „Nicht gut, wenn man in der eigenen Stadt nicht Bescheid weiß“, murmelt er.

Er recherchiert weiter, liest über die großen Erfolge der Partei mit ihrem radikal konservativen Programm. „Wenn das eine heimatliche Politik sein soll, na danke! Eklig“, findet Josef nach der Lektüre des Parteiprogramms. Neben einigen verständlichen Kritikpunkten an der zum Teil verfehlten Sozialpolitik der Stadt beinhaltet das Programm an vielen Stellen offene Stimmungsmache gegen Ausländer und Flüchtlinge. Und natürlich die Forderung nach einer Asylobergrenze. ‚Damit sind sie zumindest nicht alleine‘, denkt Josef. ‚Was es aber nicht besser macht.‘

Als er den Computer runterfährt, fühlt er sich irgendwie beschmutzt, klebrig, ungut. So als wäre er auf Pornoseiten unterwegs gewesen. War er noch nie. Vielleicht sollte er das einfach mal machen, um zu wissen, was los ist in der Welt da draußen. Nein, das macht er nicht, er sieht schon genug Dreck im echten Leben.

Genug für heute. Er beschließt, zu Fuß heimzugehen, um seinen verwirrten Kopf ein bisschen auszulüften. Vielleicht findet er unterwegs noch einen offenen Blumenladen? Könnte er seiner Frau eine Freude machen. Er sieht auf die Uhr. Es ist kurz nach acht. Keine Chance. Am Hauptbahnhof? Aber da lungern jede Menge unguter Typen rum, verchecken Drogen, warten auf Gelegenheitsjobs aller Art. Hat er jetzt keine Lust drauf. Kein Wunder, wenn die Leute nach mehr Sicherheit schreien und sich einreden lassen, dass das etwas mit der Flüchtlingssituation zu tun hat. Ist das die Logik? Am Hauptbahnhof waren schon immer unangenehme Leute aus aller Herren Länder. Ach, er weiß es doch auch nicht. Nein, heute keine Blumen mehr für seine Frau. Einfach möglichst schnell nach Hause.

Feindbild

Am nächsten Morgen unterrichtet Josef seine Kollegen über seine Nachforschungen zu Carsten Wiesinger. Und über die BMB. Der einzige im Team, der die Gruppierung näher kennt, ist Harry. ‚Kein Wunder‘, denkt Josef, denn er kennt Harrys politische Haltung – links, ökologisch, antifaschistisch. Die Partei stellt ein klares Feindbild für ihn dar.

„Das ist eine der vielen kleinen nationalkonservativen Protestparteien, die diese elende Neiddebatte schüren“, erklärt Harry gerade. „Dass uns die Flüchtlinge alles wegnehmen und wir kriegen nix. Dass der Islam eine Gefahr für Deutschland ist. Dass mit den Flüchtlingen der Terror kommt. Diese ganzen Sprüche.“

„Ja, klar, wir schaffen das“, murmelt Karl und sieht ihn genervt an.

Harry reagiert darauf nicht, sondern fährt fort: „Die BMB haben als Partei großen Zulauf, weil viele Leute denken, dass mit den Flüchtlingen die Kriminalität in der Stadt stark gestiegen ist, dass der eh schon überteuerte Wohnraum in München noch knapper wird und so weiter und so fort.“

„Naja, ein bisschen was ist da auch dran“, sagt Karl. „Warst du in letzter Zeit mal am Hauptbahnhof? Hordenweise junge Männer, viele Afrikaner.“

„Ach komm, am Bahnhof war schon immer kriminelles Gesocks.“

„Ja, red dir das mal alles schön.“

„Ruhe, Jungs!“, geht Josef dazwischen. „Was meinst du, Christine?“

„Ich weiß es nicht. Du glaubst also, dass Wiesingers Tod irgendwas mit den BMB zu tun hat?“

„Ja, irgendwie schon. Wir haben ja sonst keinerlei Hinweise. Und dann ist da seine komplett ausgeräumte Wohnung. Also, er war ja schon ausgezogen. Wir haben keine neue Meldeadresse von ihm. Ich hab starke Zweifel, ob der Tote im echten Leben wirklich Carsten Wiesinger hieß. Ich hab recherchiert. Es gibt eine ganze Reihe von Leuten, die so heißen. Sollen wir jetzt alle überprüfen, um rauszufinden, ob da irgendwo eine Leerstelle entstanden ist? Der Aufwand ist zu groß. Das einzig Konkrete sind die Fotos von ihm bei Veranstaltungen der BMB. Dort war er offenbar Mitglied. Ansonsten hab ich nichts Näheres über ihn gefunden.“

Christine nickt nachdenklich. „Wenn Asche uns zurückpfeift, weil der Staatsschutz da seine Finger drin hat, dann ist das vielleicht ein V-Mann.“

Harry schüttelt den Kopf. „Wenn der vorsätzlich überfahren wurde, von wem denn und vor allem: warum? Die Linken machen so was nicht. Und die Rechten von den BMB? – Weil er ein Maulwurf war? Nein, so weit gehen selbst diese Leute nicht. Die geben sich doch als die netten Nazis von nebenan.“

Karl sieht ihn stirnrunzelnd an.

„Na los, Karl, sag was!“, fordert Harry ihn auf.

„Nette Nazis – dass ich nicht lache! Eine Partei, die in München bei den Kommunalwahlen antritt, ist wohl kaum eine Nazi-Partei. Wenn ich eins dick hab, dann diese blöden Gutmenschenreflexe! Da legt jemand mal den Finger in die Wunde, sagt offen, dass er besorgt ist, ob das noch alles klappt mit dem Zusammenleben mit den Flüchtlingen, mit der Integration, und sofort haben wir eine elende Debatte über Political Correctness am Laufen. Ich hab keine Ahnung, wie die Leute von den BMB wirklich sind, aber ich werd mich schlau machen. Was ich sicher weiß: Wir kommen nicht weiter, wenn wir die gleich zu den Extremen abschieben. Das ist mir zu einfach.“

„Ja, da hast du nicht Unrecht“, meint Josef. „Also, zwei Aufgaben: Rauskriegen, ob die beiden Toten bis auf den sehr nahen Wohnort noch mehr verbindet, und dann machen wir uns schlau, was diese Besorgten Münchner Bürger so treiben. Was ihre politischen Ziele sind. Welche Personen sich da engagieren. Und das alles bitte lautlos. Asche wird sich denken, dass wir da nicht einfach klein beigeben, aber er will keine Konflikte mit anderen Behörden. Ich werd mal schauen, wer mir bei den BMB was über diesen Wiesinger erzählen könnte. Die haben bestimmt einen Pressesprecher.“

„Und wenn der Staatsschutz die observiert?“, fragt Harry. „Dann sehen die doch, dass wir an der Sache dran sind. Und dann hauen sie uns auf die Finger.“

„Dann haben wir Pech. Aber ich glaub nicht, dass die ständig an denen dran sind. Sonst hätte es den Unfall mit Wiesinger doch kaum gegeben. Aber stimmt schon, jetzt sind sie natürlich angespitzt. Wir müssen sehr vorsichtig sein. Also: an die Arbeit!“

Josef zieht sich in sein Büro zurück. Er grübelt. Er mag es gerne klar. Nicht, was ihre Arbeit im Detail angeht, da fischen sie oft im Trüben. Aber er weiß schon gerne, ob er sich überhaupt in seinem Zuständigkeitsbereich befindet. Falls diese politische Partei in die Todesfälle involviert ist, dann geht das über die Standardmotive hinaus, mit denen sie sich als Mordermittler sonst befassen. Die Frau, die ihren Mann aus Hass ersticht – die hat ein klares Motiv. Sogar die Beweggründe eines Stalkers, der mordet, um sich zu beweisen, um damit eine Kriminalkommissarin zu beeindrucken, die sind für ihn irgendwie nachvollziehbar. Solche Irren gibt es leider immer wieder. Aber eine rechte Partei mit einem unangenehmen Weltbild, das ist doch keine Heimstatt für Mörder? Die reden doch nur. Außerdem sind das doch so Law and Order-Typen. Zu denen passt keine heimtückische Auto-Attacke.

Wie macht man so was überhaupt? Genau den richtigen Moment abwarten und dann exakt treffen. Exakt? Schwierig. Und was ist mit dem Tod von Vinzenz Krämer, dem U-Bahnschubser? Hat der Killer in der Nacht zuvor einfach den Falschen umgefahren?

Fett

‚Ja, leck mich fett!‘, denkt Andrea, als der Chefarzt seine Visite abgeschlossen hat. Mit vier Studenten im Schlepptau hat er doziert über posttraumatische Belastungsstörungen, kognitive Dissoziation oder Stockholm-Syndrom. Stockholm! Ausgerechnet sie! Mit diesem Psychopathen, der Leute vor die U-Bahn schubst, verbindet sie rein gar nichts! Was für ein Psycho-Unfug! Diese Visite hat sie weit zurückgeworfen, nachdem sie heute Morgen eigentlich gut ausgeruht aufgewacht war. Klar, ganz ohne Spuren geht so was an einem nicht vorbei. Die Geiselnahme hat ihr Angst eingeflößt, sie hat sich in die Hose gemacht. Aber das ist ja auch nicht verwunderlich. Sie müsste sich eher Sorgen machen, wenn sie keine Angst gehabt hätte. Aber das war’s dann auch. Paul hat ihr zum Glück frische Wäsche mitgebracht. Jetzt wird sie sich umziehen, nochmal bei Tom vorbeischauen und den Laden hier verlassen.

Hinz

Josef besucht den Generalsekretär der BMB. Er hat mit Dr. Josef Hinz einen Termin vereinbart in seinem Immobilienbüro in der Alpenstraße in Obergiesing. Interessiert betrachtet Josef die Angebote im Schaukasten an der Hausfassade.

 

„Was suchen Sie denn?“, fragt Hinz, der auf die Straße tritt und sich eine Zigarette anzündet.

„Was Bezahlbares.“

„Das wollen alle. Mieten oder kaufen?“

„Sie scherzen.“

„Wie viel wollen Sie denn ausgeben?“

Josef lächelt. „Hirmer, wir haben telefoniert.“

„Ah, der Herr von der Kriminalpolizei. Schön. Polizisten sind verlässliche Kunden. Suchen Sie wirklich nichts?“

„Nein, zum Glück nicht.“

„Ja, die Wohnungssituation ist sehr angespannt. Leider. Dafür gibt es zahlreiche Gründe. Nicht nur die Attraktivität des Wirtschaftsstandorts München.“

„Aha?“

„Ungebremste Zuwanderung.“

„Asylanten.“

„Vor allem. Aber lassen Sie uns nicht hier draußen stehen, kommen Sie doch rein. Wir haben eine sehr gute Espressomaschine.“

Als Josef eine Stunde später das Immobilienbüro wieder verlässt, ärgert er sich. Über sich selbst. Er hat sich von dem Typen zutexten lassen, ohne viele Fragen zu stellen. Ein paar sachdienliche Informationen hat er allerdings von Hinz bekommen, allgemein zur Partei, zu Wiesinger eher wenig. Ja, Hinz kennt ihn, ein Parteimitglied der ersten Stunde. Wiesinger sei aber immer seltsam farblos geblieben. „Schrecklich, dieser Unfall“, fand Hinz. „Aber persönlich kann ich nicht viel über ihn sagen. Inzwischen haben die BMB so viele Mitglieder, dass man gar nicht mehr jedes persönlich kennt. Das ist schade, aber eben auch ein klarer Beleg für unseren Erfolg.“ Einem langen Vortrag über die grandiose Entwicklung der einstigen Protestpartei schloss sich eine Tirade auf die unsozialen Verhältnisse in der Großstadt an, in denen die Menschen, die für die Stadt arbeiten, kaum mehr leben könnten.

Josef hatte es sich verkniffen zu fragen, ob Hinz damit auch die türkischen Mitarbeiter bei der Müllabfuhr meinte. Und ob nicht gerade die Immobilienmakler am meisten von der angespannten Lage profitieren. ‚Nein, so einfach kann man solchen Typen nicht begegnen‘, denkt Josef jetzt. ‚Aber egal, wie smart – dieser Hinz ist ein gelackter Anzug-Nazi. Warum hab ich jetzt eigentlich die Unterlagen für diesen neuen Baukomplex in Obergiesing in der Manteltasche?‘

Josef vergegenwärtigt sich das Gespräch nochmal. Ja, Hinz schien im ersten Moment geschockt von Wiesingers Tod, aber gleichzeitig war er auch ganz kühl. So was passiert halt in der Großstadt. Hat er nicht konkret so gesagt, aber ganz offensichtlich gedacht. Nein, Josef glaubt nicht, dass Hinz etwas mit Wiesingers Tod zu tun hat. Solche Leute machen sich die Finger nicht schmutzig. Hinz’ Waffen sind Worte. Aber eins ist schon interessant – trotz aller Teflonbeschichtung hat Josef bei Hinz eine fast schon devote Haltung gegenüber der Ordnungsmacht ausgemacht. Der steht auf Polizei, auf die Sheriffs in der Stadt. Die Einladung zu einer Wahlkampfveranstaltung hat Josef ganz unverbindlich angenommen.

Auch wenn er über Wiesinger kaum etwas erfahren hat, ist ihm jetzt ein bisschen klarer, welche Typen hinter den „Besorgten Münchner Bürgern“ stecken. Keine aufgebrachten Wutbürger, sondern kühl berechnende Geschäftsleute wie dieser Hinz. Für heute ist Josefs Bedarf an politischer Aufklärung jedenfalls gedeckt. Er sieht auf die Uhr. Kurz vor fünf. Nochmal ins Büro lohnt sich nicht. Zumal er jetzt schon im Osten der Stadt ist, nicht weit von zu Hause. Vielleicht macht Yvonne heute auch mal ein bisschen eher Schluss? Er sieht, dass der Blumenladen beim Friedhof noch offen hat. Die machen doch sicher nicht nur Grabgestecke, oder?

Zurückgepfiffen

Andrea geht nach Hause. Endlich! Hoffentlich ist Paul da. Sie hat ihm nicht Bescheid gegeben. Am Ende hätte er versucht ihr auszureden, das Krankenhaus zu verlassen. Sie ist erwachsen, sie hat sich selbst entlassen. Sollen die sich ein anderes Psycho-Opfer suchen. Sie ist Polizistin. Und sie wäre keine geworden, wenn sie zu nahe am Wasser gebaut wäre. Am Nachmittag war sie noch kurz im Präsidium. Josef war nicht da. ‚Bestimmt findet er es nicht so super, dass ich nicht auf die Ärzte höre und mich erst ein paar Tage ausruh‘, denkt sie jetzt. Hat sie ja versucht, aber im Krankenhaus hat sie sich einfach nur elend gefühlt. Tom ist immer noch drin. Erst war er ganz erschrocken, sie auch in der Klinik zu sehen, im Patientenoutfit. Aber dann hat er tatsächlich gemeint, dass das doch schön sei, wenn sie beide … Echt nicht! Zwei Nächte und das war’s für sie.

Dass es Tom nicht schlimmer erwischt hat, ist schon erstaunlich. Nur Prellungen. Wie durch ein Wunder hat ihn keins der Räder der U-Bahn erfasst. Die blauen Flecken im Gesicht sehen eher nach Kneipenschlägerei aus. Ihrer Aufforderung, doch mit ihr gemeinsam das Krankenhaus zu verlassen, ist er nicht gefolgt. Ihr ist schon klar, warum ihn der Chefarzt noch gerne dabehalten will. Weil er mit Tom ein interessantes Anschauungsobjekt hat: das Opfer eines Gewaltverbrechens, das dem Tod ins Auge geschaut hat. Der Chefarzt hat Tom was ins Ohr geblasen von wegen wichtiger Untersuchungsergebnisse, die von großer Relevanz für seine Studien sind. Ja, genau. Und Tom macht ja meistens, was man ihm sagt. Also, wenn es für ihn vernünftig klingt. Und sich selbst zu entlassen, klingt für ihn nicht vernünftig. Sie haben gestritten. Aber sie ist sich sicher: Man kann nicht immer vernünftig sein. Insgeheim bewundert sie Tom aber ein bisschen, weil er eben auch mal die Verantwortung und die Kontrolle abgeben kann. Ja, Tom kann sich in die Hände anderer begeben, ohne gleich misstrauisch zu werden. Egal, sie ist jedenfalls raus aus dieser Krankenhaus-Nummer.

Jetzt also wieder im Dienst. Was ihr die Kollegen gerade berichtet haben, befriedigt sie nicht. Keine erhellenden Infos zu Vinzenz Krämer. ‚Ein stinknormaler Name für einen solchen Psychopathen‘, denkt sie. Leider kann sie selbst nichts zur Aufklärung der Hintergründe und der Motive des U-Bahnschubsers beitragen. Die wenige Zeit, die sie mit ihm zusammen verbracht hat, hat ihr nur gezeigt, dass der Typ einen massiven Dachschaden hatte, ein Stalker war, der sich auf irgendeine Art eine Beziehung mit ihr erhofft hat. Wahnsinn! Und jetzt ist er tot. ‚Gut so!‘, denkt sie und schämt sich nur ein bisschen für diesen Gedanken.

Die Sache mit dem zweiten Opfer erstaunt sie. Ja, das kann kein Zufall sein, dass am Folgetag an der fast gleichen Stelle noch ein Mann überfahren wurde. Und die Geschichte, die ihr die anderen erzählt haben, ist auch merkwürdig. Zurückgepfiffen, weil der Staatsschutz übernimmt. Geht’s noch? Sie werden schon rauskriegen, wer dieser Carsten Wiesinger war. Eins ist jedenfalls klar: Er ist auf dieselbe Art und Weise umgekommen wie der U-Bahnschubser am Tag zuvor. Dr. Sommer hat ihnen unter der Hand die ersten Befunde zukommen lassen. An Wiesinger finden sich exakt dieselben weißen Lackspuren wie an dem Opfer vom Vortag. Was die Staatsschützer wohl mit dieser Information anfangen? Vermutlich sind sie den ersten Fall dann auch gleich los. Aber wer weiß. ‚Dieselben Lackspuren – das ist ja schon mal ein Anfang‘, denkt Andrea. ‚Vielleicht hat der U-Bahnschubser einfach Pech gehabt? Wurde er im Dunkeln verwechselt? Wäre tragisch. Andererseits aber auch gerecht. Das Schwein.‘ Wenn Paul und die Kollegen sie nicht mehr rechtzeitig gefunden hätten! Naja. Ist ja nochmal gut gegangen. Sie ist froh, dass das alles vorbei ist.

Ihr Handy klingelt. Christine. Ob sie noch Lust hat, auf einen Drink zu gehen, sie möchte ihr was erzählen. Andrea wundert sich. Warum hat sie vorhin nicht gefragt? Wobei, ist ja manchmal komisch im Großraumbüro, wenn jeder alles mitkriegt. Jetzt ist sie schon fast zu Hause. Egal. Sie verabreden sich im Maria Passagne in Haidhausen. Andrea zögert kurz. Dahin wollte sie mit Tom nach dem Schwimmbad und einem Abendessen in der Lisboa Bar noch auf einen Absacker. So der Plan. Bevor das ganze Chaos über sie hereinbrach. Aber man muss seinen Dämonen ins Gesicht blicken. Sie kann ja wegen der Sache in der U-Bahn nicht ewig einen Bogen um Haidhausen machen. Zumal es ja eh beim Michaelibad passiert ist. Da wird sie sich allerdings in absehbarer Zeit nicht mehr blicken lassen. Die Lust auf Hallenbad oder Eislaufen ist ihr gründlich vergangen.

Andrea steigt an der Hackerbrücke in die S-Bahn um und fährt bis zum Rosenheimer Platz. Folgt den Tramschienen die Steinstraße entlang in Richtung Max-Weber-Platz. Aus dem Plattenladen an der Ecke Kellerstraße dröhnt Musik durch die gekippten Fenster, Bierflaschen klirren. Monkey Island Records verkündet das selbst gemalte Schild über der Eingangstür – Insel der Glückseligen. Auf Höhe der Metzgerei Vogl wabert noch ein zarter Hauch Leberkäs und Wiener Würste übers Kopfsteinpflaster. Das italienische Lokal Mezzodi ist gut gefüllt. Gäste sitzen an groben Holztischen vor Aperol Sprizz und Weingläsern hinter der beschlagenen Fensterfront. Sie mag das Viertel. Hier hatte sie mal einen Freund. Peter, Fotograf. Ob der noch seinen Laden in der Sedanstraße hat? Nein, da wird sie jetzt nicht vorbeigehen.

Im Maria Passagne sind kaum Gäste. Es ist noch früh am Abend. Christine sitzt an einem kleinen Tisch in einer Ecke und streichelt ihr Handy.

„Liebesbotschaften?“, fragt Andrea.

„Nicht schlecht, Frau Kommissar.“

„Jetzt echt?“

„Jetzt echt. Deswegen wollte ich dich ja treffen.“

Der Barkeeper bringt unaufgefordert zwei Munich Mule.

„Hey?“, fragt Andrea.

„Geht auf mich“, sagt Christine. „Magst du doch?“

„Wenn’s sein muss.“ Sie grinst. „Jetzt erzähl. Was, wer, wo, wie und wie oft?“

Sie lachen und stoßen an. Dann berichtet Christine, was ihr gestern passiert ist, und dass es sie schier zerreißt vor Liebe, vor Zweifeln, vor Unsicherheit. Und überhaupt.

„Jetzt mal ganz langsam und der Reihe nach“, bremst Andrea sie ein und deutet dem Barkeeper an, noch zwei Drinks zu bringen. Die ersten sind irgendwie verdunstet.

„Endlich mal keiner von diesen Stromlinienheinis, die man bei Tinder oder Elitepartner findet“, schwärmt Christine. „Nein, ein echter Typ. Der absolute Hammer. Gutaussehend, intelligent und überhaupt.“

„Wo hast du ihn denn kennengelernt?“

„Im Zug von Augsburg. Ich war gestern Abend bei einer Freundin. Um elf Uhr bin ich zurück nach München gefahren. Und da sitzt mir auf der Heimfahrt dieser wahnsinnig attraktive Typ gegenüber.“

„Und da hast du ihn angesprochen?“

„Ja. Ich hatte schon einen Kleinen im Tee.“

„Und weiter?“

„Wir waren in München noch was trinken.“

„Und dann im Hotel.“

„Spinnst du? Nur ein unschuldiger Drink in einer Bar. Und nach dem Drink haben wir ganz keusch die Handynummern getauscht. Und – ich weiß auch nicht, ich bin total verknallt!“

„Was macht er denn beruflich?“

„Irgendwas mit Sicherheitssoftware.“

„Doch nicht etwa für eine große Sicherheitsfirma am Thomas-Wimmer-Ring?“

„Äh, keine Ahnung. Wie kommst du denn da drauf?“

„Da gibt’s einen Laden mit einem Chef, der ganz gut aussieht.“

„Aha?“

„Aber sonst ein Arschloch. Der Typ spielte eine Rolle in einem Fall, als du auf Reha warst. Interessanter Typ. Dachte ich zuerst. Aber irgendwie kriminell.“

„Naja, wo die Liebe hinfällt.“

Sie lachen und bestellen noch eine Runde.