Station 9

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»Genau wie bei Strasser«, murmelte sie heiser.

Haase blickte sie befremdet an. Sie hatte den Vorfall im Belvedere noch nicht erwähnt, da sie beim besten Willen keinen ursächlichen Zusammenhang mit ihrem Fall erkennen konnte. Aber jetzt?

»Wird er durchkommen?«, fragte Haase sich selbst kaum hörbar.

Sie schüttelte den Kopf. »Ich fürchte nein.«

Die Augen auf der stumm geschalteten Übertragung aus dem Bundestag, fasste sie die Ereignisse in Wien für ihn zusammen. Am Ende teilte er ihren Pessimismus.

»Armer Kerl«, murmelte er.

»Spüren Sie es auch schon?«, fragte sie düster.

»Wie meinen?«

»Die Hitze unter unseren Füßen. Gleich beginnt der Boden zu glühen, und unsere Ärsche stehen in Flammen.«

»Jetzt, wo Sie es sagen …«

Sein schiefes Grinsen drückte keine Freude über den drastischen Scherz aus, eher Abscheu vor dem, was jetzt auf sie zukommen würde. Keine Stunde verging, bis die Nachricht vom überraschenden und völlig unerklärlichen Tod des Vizekanzlers König über alle Kanäle flimmerte. Erst schien es, die Nation befände sich in Schockstarre. Die Telefone schwiegen. Das war das Schlimmste. Nicht einmal Staatsanwältin Winter meldete sich. Was braute sich hinter dieser Mauer des Schweigens zusammen? Haases Gedanken verliefen wohl in ähnlichen Bahnen. Als er den Fernsehton wieder aufdrehte, seufzte er:

»Da haben wir‘s.«

Die Ereignisse überstürzten sich, aber es kam anders als erwartet, ganz anders. Statt von einer Krisensitzung in die nächste gejagt zu werden, blieben sie unbehelligt, als wagte niemand, ihren Feierabend zu stören.

»Die Linke weiß nicht, was die Rechte tut«, kommentierte er.

Die Todesnachricht war kaum verklungen, da kündigte die Sprecherin die Bildung einer Sonderkommission an: zur Untersuchung der ungeklärten Umstände um den tragischen Hinschied des Vizekanzlers. Der Kanzleramtschef persönlich würde die SOKO leiten, behauptete der Sender. Das BKA war dabei und der Verfassungsschutz.

»Unser Laden ist zwar groß«, murmelte sie, »aber man sollte meinen, die wichtigsten Fäden liefen gegen oben irgendwo zusammen.«

Haase nickte. »Das unkoordinierte Vorgehen bestätigt wieder einmal die Vorurteile.«

Der Schock ließ allmählich nach. Der Adrenalinpegel normalisierte sich. Sie konnte wieder klarer denken und erkannte die unerwartete Chance, die ihr diese Entwicklung bot. Beim Gedanken formten sich ihre Lippen unwillkürlich zu einem Lächeln. Haase interpretierte es richtig. Er konnte Gedanken lesen.

»Jetzt lösen wir in Ruhe unsern Fall«, stellte er ebenfalls schmunzelnd fest.

»Richtig, Kollege. Es gibt allerdings ein neues, nicht zu unterschätzendes Problem.«

Es blieb ihr nichts anderes übrig. Sie musste sich mit der SOKO König kurzschließen, brauchte deren Ermittlungsergebnisse, um herauszufinden, ob es einen Zusammenhang mit ihrem Fall gab. Nicht mehr heute, beschloss sie.

»Wer leitet jetzt den Spider Krisenstab?«, fragte Haase.

Er erwartete keine Antwort, sondern begann, eine Hand auf der Tastatur, die andere am Telefon, seine geheimen Quellen anzuzapfen. Bei dieser Arbeit störte sie nur. Sie wünschte gute Nacht und verließ das Gebäude am Treptower Park.

Die Sonne kitzelte sie früh wach am nächsten Morgen. Keine Wolke hing am stahlblauen Himmel über Dahlem. Nur der Duft von Jamies Omelett und starkem Kaffee fehlte für den perfekten Tag. Sie ging ins Bad, trank einen Schluck Wasser. Statt zu duschen, stieg sie eine Etage höher zum Musikzimmer hinauf. Liebevoll streichelte sie die sinnlichen Rundungen des Altsaxofons. Jamie war nicht da. Irgendwem musste sie ihre Zärtlichkeit schenken an diesem wundervollen Morgen. Es war ein Gershwin-Tag, wie er im Buche stand, blau wie die ›Rhapsody in Blue‹, die sie erotisch bedächtig intonierte. Erst während des Spielens begriff sie, wie lang sie ihre Musik vermisst hatte. Sie nahm sich vor, dem Saxofon wieder mehr Beachtung zu schenken. Schließlich handelte es sich um ein ›Senzo‹ von Buffet Crampon, den einzigen Luxus, den sie sich leistete. Leicht wie der Bussard über dem nahen Feld, bettete sie das Instrument nach dem Konzert in den Koffer und klappte den Deckel zu, ein wehmütiges Lächeln auf den Lippen. Sie hatte den guten Vorsatz noch nie gehalten. Es würde auch diesmal nicht anders sein.

Nach fünf Minuten im Büro ging der schöne Tag zu Ende, und die Kacke begann zu dampfen. Haase entschuldigte sich.

»Frau Schubert möchte Sie sprechen, dringend. Tut mir leid.«

Er blickte sie traurig an, als hätte sie ihn geschlagen.

»Die Chefin, was will die denn von mir?«

Sie brauchte im Grunde nicht zu fragen. Dr. Jana Schubert, Direktorin SO beim BKA, erinnerte sich nur an sie, wenn sie einen Fußabtreter brauchte.

»Schon gut, Haase. Sagen Sie nichts. Ich lass mich überraschen.«

Eine Minute in Schuberts Büro genügte, um alle Musik der Welt und ihr geliebtes Saxofon zu vergessen.

»Das ist nicht Ihr Ernst«, widersprach sie nach der Standpauke. »Ich bin bisher davon ausgegangen, in unserem Land seien alle gleich vor dem Gesetz.«

»Lassen Sie den Unsinn, Dr. Roberts! Sie wissen genau, dass Vizekanzler König eine politisch stark exponierte Persönlichkeit ist – war. Ach, was rede ich da. Es geht einfach nicht an, dass sich ein subalterner Mitarbeiter des BKA in die Familienangelegenheiten eines Vizekanzlers mischt.«

»Ich nehme an, Sie sprechen vom Kollegen Haase«, entgegnete sie mit kaum unterdrückter Wut in der Stimme.

»Von wem sonst?«

»Was hat er denn verbrochen?«

»Das wissen Sie nicht?«, fuhr Schubert auf.

»Ich möchte es von Ihnen hören. Man kann ja nie wissen, was subalterne Mitarbeiter einem alles erzählen.«

»Nehmen Sie mich gerade auf den Arm? Davon rate ich Ihnen dringend ab.«

»Also? Was hat er verbrochen? Ich kann die Frage leider nicht einfacher formulieren.«

Schubert explodierte innerlich. Chris bemerkte es am Feuer in den Augen und am Pulverdampf, der aus den Ohren zischte.

»Die Familie des Vizekanzlers wird nicht mehr belästigt, basta. Sagen Sie das Ihrem Hasen. Und jetzt raus hier!«

Nichts lieber als das, dachte sie erleichtert und trat ab ohne Worte. Nein, sie liebte ihre Chefin nicht, und es beruhte auf Gegenseitigkeit. Kurz bevor sie zu ihrem Hasen ins Büro hüpfte, erkannte sie, weshalb dem so war. Sie mochte überhaupt keine Vorgesetzten. Das war die erschütternde Wahrheit. Damit konnte sie gut leben.

»Mann, Haase, haben Sie mit Frau König geschlafen?«, platzte sie lachend heraus.

Er saß blass am Schreibtisch, die aufgeschlagene Zeitung vor sich, ohne sie eines Blickes zu würdigen. Statt nach frischem Kaffee roch es nach Scham und Selbstzerfleischung.

»Machen Sie sich ruhig lustig über mich«, brummte er. »Ich Depp hab‘s nicht anders verdient.«

»Was ist schiefgelaufen? Ich bin nicht schlau geworden aus der Schubert, wollte nur so schnell wie möglich raus aus ihrem Büro.«

Er schüttelte traurig den Kopf, zutiefst enttäuscht über sich selbst.

»So etwas Blödes ist mir im Leben noch nicht passiert. Es tut mir wirklich leid, dass die Chefin den Ärger jetzt an Ihnen abreagiert.«

»Keine Sorge, das tut sie gern. Jetzt geht es ihr hoffentlich besser. Was war da los mit der Familie König?«

»Ich habe mich echt wie der letzte Anfänger benommen.«

Er brauchte eine Verschnaufpause, bevor er mit der schrecklichen Wahrheit herausrückte.

»Also – ich kenne den Fahrer der Kanzlerin. Der fährt – fuhr oft auch für Vizekanzler König. Daher kennt er wiederum das Kindermädchen der Familie – sehr gut. Ich wollte von ihr wissen, ob es irgendwelche Vorzeichen, ungewöhnliche Vorfälle, Anzeichen von Krankheit bei Max König gegeben habe in letzter Zeit.«

»Hätte ich genauso gemacht, wenn ich die ganze Welt kennen würde wie Sie.«

»Ja, aber Sie hätten sofort gemerkt, dass nicht das Kindermädchen am Apparat war, sondern Frau König höchstpersönlich.«

»Oha, die war wohl nicht begeistert von den indiskreten Fragen. Kann ich ein Stück weit sogar verstehen unter den gegebenen Umständen.«

»Eben – tut mir leid, wie gesagt. Ich habe versucht, mein Vorgehen zu erklären aber damit nur Öl ins Feuer gegossen.«

Während sie überlegte, schrieb er etwas auf einen Zettel.

»Das sind die Namen des Kindermädchens und ihres Freundes«, bemerkte er dazu. »Die Anschrift der Königs steht auch drauf.«

Sie steckte das Papier grinsend ein. »Ich sehe, wir verstehen uns. Haken Sie in der Zwischenzeit noch einmal in Bremen nach.«

Sie schaffte es, das Gebäude zu verlassen, ohne Staatsanwältin Winter zu begegnen. Das Anwesen der Königs lag etwas außerhalb Berlins an einem kleinen Weiher. Eine idyllische, ruhige Lage, wären da nicht die Trucks des Fernsehens aus aller Welt versammelt gewesen. Beamte versuchten, die neugierigen Reporter zurückzudrängen, doch die Belagerung der Einfahrt hielt an. Mit ihrem Ausweis drang sie problemlos bis zur Haustür vor, dann war Schluss. Der alte Butler schickte sich an, ihre Dienststelle anzurufen, nachdem sie sich nicht abwimmeln ließ. Er war höflich aber unnachgiebig.

»Ich bitte Sie, Rücksicht zu nehmen, Frau Kommissarin. Die Familie steht unter Schock, verstehen Sie?«

»Ich verstehe das sehr gut, will die Familie auch gar nicht belästigen. Ich möchte nur kurz mit Frau Frank sprechen.«

Fünf Minuten später saß sie dem Kindermädchen im Gartenpavillon gegenüber. Die junge Frau wirkte verschüchtert, was gar nicht zur robusten Statur passte.

»Keine Sorge, Frau Frank, ich werde Ihnen nur einige Fragen stellen, mit denen ich Frau König im Moment verschonen möchte.«

 

Sie wiederholte im Wesentlichen die Fragen, die Haase am Telefon gestellt hatte. Da Frau Frank zum Haushalt gehörte wie ein Familienmitglied, hoffte sie, mehr über Vizekanzler Königs Gewohnheiten und Verhalten in den Tagen vor seinem Tod zu erfahren. Sie wurde enttäuscht. Das Kindermädchen nahm den Job ernst. Sie betreute die zwei Kinder wie eine Mutter, ohne sich für die anderen Vorgänge im Haus zu interessieren. Zumindest behauptete sie das, und Chris sah keinen Grund, ihr nicht zu glauben. Enttäuscht wollte sie sich verabschieden, als sie ein neuer Gedanke zurückhielt.

»Vielleicht gibt es eine auffällige Veränderung in Herrn Königs Tagesablauf, die weiter zurückliegt?«

Frau Frank dachte angestrengt nach. Chris hatte die Hoffnung schon aufgegeben, als sie antwortete:

»Stimmt, Sie haben recht. Seit dem Urlaub habe ich nie mehr eine Spritze gesehen.«

Chris‘ Gesicht musste ein einziges Fragezeichen sein, was der Frau ein scheues Lächeln entlockte.

»Nicht, was Sie denken, Kommissarin. Herr König litt an Diabetes. Er musste sich regelmäßig Insulin spritzen und den Blutzucker kontrollieren.«

Das war neu. Nicht einmal Haase wusste davon.

»Vielleicht nahm er Tabletten, statt zu spritzen?«

Sie hatte keine Ahnung, ob es solche Medikamente gab. Sie wusste nicht einmal, an welchen Typ Diabetes König gelitten hatte, würde es auch nie erfahren, fürchtete sie. Frau Frank konnte ihre Frage nicht beantworten, und für den Rest sorgte das Arztgeheimnis.

»Es war schon auffällig. Nach dem Urlaub habe ich ihn als anderen Menschen erlebt, als wäre er geheilt zurückgekommen.«

»Nicht ungewöhnlich nach einem erholsamen Urlaub«, bemerkte Chris schmunzelnd.

»Ja, aber nicht so. Er war wie ausgewechselt – überhaupt die ganze Familie.«

Sie wollte mehr über den mysteriösen Urlaub erfahren, herausfinden, wo sich dieser Jungbrunnen befand. Frau Frank musste passen. Sie interessierte sich nur für die Kinder, und die hatten den Urlaub bei den Großeltern auf Rügen verbracht. Frau Frank hatte alles gesagt. Chris beeilte sich, ins Büro zurückzukehren. Ein Anruf in Wien brachte etwas Licht ins Dunkel.

»War er übergewichtig?«, fragte Jamie als Erstes.

»Gertenschlank, sportlicher Typ.«

»Wie lange litt er schon an Diabetes? Seit seiner Jugend?«

»Keine Ahnung. Die Informantin hörte sich an, als hätte er schon immer gespritzt.«

Er zögerte, eine Diagnose abzugeben, äußerte aber dennoch die Vermutung, Max König wäre an Diabetes Typ eins erkrankt.

»Das ist die seltenere Form, eine Autoimmunkrankheit. Solche Patienten sind oft schlank, fast mager.«

»Was heißt autoimmun?«

»Ein Gendefekt veranlasst in diesem Fall das eigene Immunsystem, die Bauchspeicheldrüse außer Betrieb zu setzen. Der Körper kann den Zuckerhaushalt nicht mehr regeln. Der Patient muss das selbst tun, indem er laufend den Blutzucker kontrolliert und allenfalls mit Insulin senkt oder mit der Einnahme von Zucker erhöht.«

»Eine Qual«, murmelte sie nachdenklich. »Ist die Krankheit heilbar?«

»Nein.« Es war ein Nein ohne Wenn und Aber. Nach einer Weile fügte er hinzu: »Man müsste das defekte Gen reparieren.«

»Gentherapie!«, warf sie hastig ein. Ein kalter Schauer erzeugte Gänsehaut. »Ist es denkbar, dass König sich einer solchen Therapie unterzogen hat?«

Wieder antwortete Jamie mit einem entschiedenen Nein.

»Unmöglich. Es gibt keine solche Therapie. Man hat erste Tierversuche durchgeführt, teilweise mit vielversprechendem Ergebnis. Das ist aber auch alles.«

Trotzdem hatte sie Blut geleckt. Mit wenigen Klicks holte sie Fotos der andern Opfer auf den Monitor, die ihrer Meinung nach wie Max König an beschleunigter ALS gestorben waren. Arno Schmitz, der Direktor des ZKA, die Beamtin Anna Schäfer aus Bremen und Ministerin Strasser aus Wien, sie alle besaßen gertenschlanke, fast drahtige Körper. Das musste nichts bedeuten, aber sie war grundsätzlich skeptisch gegenüber auffälligen Zufällen.

Haase bestärkte sie in der Vermutung, endlich einer konkreten Gemeinsamkeit aller Opfer auf der Spur zu sein. Die Krankheitsakten von Direktor Schmitz und Doris Strasser lagen außerhalb ihrer Reichweite, aber Haase hatte von einer verlässlichen Quelle in Bremen erfahren, dass Anna Schäfer seit ihrer Jugend Insulin spritzen musste. Bevor sie in dieser Richtung weiter ermitteln konnte, überraschte der Kollege mit einer weiteren Nachricht aus Bremen.

»Anna Schäfer war zuletzt in Kontakt mit der Schweizer Bundeskriminalpolizei.«

»Weshalb?«

»Eigentlich war es umgekehrt. Die Schweizer Behörden haben vor rund einem Monat durch einen Tipp eine Razzia auf einem Frachter in Bremerhaven veranlasst.«

»Lassen Sie mich raten«, warf sie wie elektrisiert ein. »Der Frachter gehört der SARTRAG.«

Er nickte lächelnd. »Louis Sarasin aus Basel, genau.«

Eine halbe Stunde später lag die Akte über die Razzia auf Sarasins Schiff im Inputfach ihres PCs. Die Bremer Beamten fanden damals keine Hinweise auf Waffenschmuggel, was ihnen einen geharnischten Kommentar des Schweizer Informanten eingebrockt hatte. Der Mann sprach offen von einem Leck beim deutschen Zoll. Seine Schweizer Telefonnummer stand in der Akte. Die Stimme, der man den Kater bis nach Berlin anhörte, meldete sich erst nach einer langen Minute.

»Matter, nicht Blatter, verdammt! Wer stört?«

Wien

Ferdl konnte es immer noch nicht fassen. Der Kleine per du mit Elli, und er stand da wie der große Dillo! Warum zum Geier musste Lorenz ihn ausgerechnet bei der Elli lächerlich machen? Sonst kam doch auch kaum ein Wort aus seiner Goschn. Sie musste sowieso stinksauer sein seit dem Hawelka, dabei war das Intermezzo mit Mizzi nichts weiter als ein gigantisches Missverständnis. Den Vertrag für Lorenz konnten sie sich auch abschminken. Das hatte der Kleine nun davon, der Trottel.

Man müsste die Sache mit der Elli und der Galerie mit Fingerspitzengefühl angehen, die richtigen Prioritäten setzen. Prioritäten waren jetzt überhaupt das Wichtigste. Was sollte er in diesem Augenblick tun, um die Angelegenheit wieder ins Lot zu bringen? Solchen tiefgründigen Fragen musste er sich stellen. Allerdings war es seiner Meinung nach noch niemandem auf diesem irren Planeten gelungen, aus Scherben wieder einen schönen Blumentopf zu zaubern. Er rückte den Rückspiegel zurecht, um sein trauriges Gesicht zu betrachten. Ein zufälliger Passant müsste unweigerlich zum Schluss kommen: Dieser Mann ist am Verzweifeln. So sah es aus und so war es.

Er zuckte zusammen, als sich die Tür der Galerie öffnete und Elli heraustrat. Sein auffälliger Lieferwagen war glücklicherweise kaum zu sehen hinter dem Geländewagen der Stadtwerke. Falls sie ihn dennoch bemerkte, überspielte sie es mit der Meisterschaft, wie ihre Kaminskys malten. Er stand schon den dritten Abend da und hoffte immer noch auf ein Wunder. Keines geschah. Elli bog zügig in die Spiegelgasse ein. Wahrscheinlich nahm sie die U1 zum Karlsplatz und dann die U4 nach Hause wie am Vortag. Das erste Mal hatte sie ihren Wagen dabei gehabt, da konnte er unbemerkt folgen. Sie wohnte zuoberst in einem prächtigen Altbau in der Nähe des Naschmarktes. Nobel, das komplette Programm mit rundem Erker und hohen Fenstern. Lorenz wusste nichts davon. Da war er dem Kleinen einen Schritt voraus. Bloß – was nützte es ihm?

Lustlos fuhr er zur alten Fabrik. Lorenz schien sein Kommen nicht zu bemerken. Er war am Malen, was sonst? Im Kühlschrank herrschte gähnende Leere, kein Bier. Nicht einmal dafür fand der Kleine Zeit, seit die Kunstsachverständigen der Galerie Horvath ihm den Floh vom Genie ins Ohr gesetzt hatten. Der Herr Künstler brauchte offenbar nichts zu trinken und nichts zu essen. Ferdl Grubers Kehle hingegen war trocken vom vielen Nachdenken über Elli und die verlorene Zukunft, und sein Magen knurrte. Er wollte abschleichen zu Frau Swoboda und ins Beisl zum Grantler Toni. Auf dem Weg würde er die Mizzi erwürgen.

»Passt«, brummte er.

Nach zwei Schritten hielt er an und drehte sich langsam zu Lorenz um. Die Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag. Er wusste jetzt, was ihn störte, seit er zur Tür hereingekommen war. Der Kleine stand vor einer neuen Staffelei und malte auf Leinwand. Eine verdammte Leinwand!

»Woher hast du das Zeug?«

Seine Stimme überschlug sich beinahe, so sehr erschreckten ihn die bösen Zeichen aus Ellis Welt.

»Komm runter, Alter. Ein Kurier aus der Galerie hat das Material gebracht. Horvath hat es ja versprochen.«

»Versprochen war da gar nix, nicht ohne Vertrag.«

Die Bemerkung veranlasste Lorenz, kurz von der Arbeit aufzusehen.

»He?«

Er wusch den Pinsel aus, nahm einen feineren. Auch die waren neu.

»Wer braucht Verträge? Die Elli und ich verstehen uns auch so, wie du siehst.«

Er hatte wieder nur Augen für sein Gemälde, die Kopie eines Bildes, das er vorher in mindestens drei Varianten auf Pappe gemalt hatte.

»Sieh mich gefälligst an, wenn wir miteinander reden! Dein Kaminsky kann warten.«

Lorenz dachte nicht daran, pinselte weiter und murmelte beleidigt:

»Kandinsky, der Meister heißt Wassily Kandinsky, und ich kann eine Menge von ihm lernen.«

Ferdl gab sich geschlagen. Die Kaminskys und Kandinskys wirkten wie eine Droge auf den armen Kleinen. In diesem Zustand war nicht mit ihm zu diskutieren. Er verspürte auch keine Lust mehr zu streiten, mit leerem Magen und ohne ein einziges Blech. Auf dem Gehsteig vor Frau Swobodas Trafik stieß er mit Zlatko zusammen, der aus dem Haus stürzte, als hätte ihn die Mizzi hinausgeworfen.

»Ferdl, verdammt! Wo steckst du die ganze Zeit? Der Bubi sucht dich überall.«

»So, tut er das. Ich habe jetzt keine Zeit, Zlatko. Du weißt, ich muss Prioritäten setzen.«

Zlatko schnaubte wütend. »Deine Priro … Dein Schaas geht mir am Oasch vorbei! In einer Woche steigt die Aktion, Mann. Alles ist bereit. Nur der Herr Gruber ziert sich. Also – was ist? Machst du den Transport?«

»Ich überleg‘s mir.«

Er ließ ihn stehen und betrat die Trafik. Es roch herrlich ungesund in Frau Swobodas Bude. Sie betrieb zwar keinen Würstelstand, aber seit das Geschäft mit dem Tabak den Bach runter ging, kochte sie hin und wieder zu viel und verkaufte den Rest an die Stammkundschaft. Kein Brater der Stadt übertraf ihre Eitrige, und woher sie ihren süß-scharfen G‘schissenen bezog, blieb ihr Geheimnis, das sie mit ins Grab nehmen würde. Frau Swobodas Käsekrainer und Senf waren das pure Gegenteil ihres Kaffees, nämlich richtig gut. Er brauchte nichts zu sagen, nickte bloß, und Frau Swoboda verstand.

»Wie immer mit ein paar Glasaugen, nehme ich an«, bemerkte sie, als sie ihm den Pappteller mit der Wurst und den geliebten Silberzwiebeln hinstellte.

Er aß gierig, ausgehungert, wie er war und krank vor Sehnsucht nach seiner Elli.

»Dir geht‘s nicht gut«, diagnostizierte sie.

Er schluckte schwer.

»Sieht man das?«

»So etwas kann ich blind riechen. Ist etwas mit Lorenz nicht in Ordnung?«

Er steckte den letzten Bissen mit dem Rest Senf in den Mund und schüttelte den Kopf.

»Dem Kleinen geht es blendend.«

Sie atmete hörbar auf, als wäre jetzt alles in Ordnung.

»Hast also wieder etwas angestellt.«

»Na, ich bin das Opfer!«

Er hätte besser geschwiegen, denn nachdem er die Geschichte vom Hawelka unter Höllenqualen erzählt hatte, lachte sie ihn kurzerhand aus.

»Was gibt‘s da zu lachen?«

»Ihr Mannsbilder seids doch alle deppert. Ferdl, glaubst du im Ernst, die holde Elli käme eines schönen Tages von allein angekrochen, um sich für den raschen Abgang im Hawelka zu entschuldigen?«

»Sicher nicht, das ist es ja. Ich weiß einfach nicht, wie ich sie ansprechen soll, ohne dass sie es wieder in den falschen Hals kriegt.«

»Deppert, sag ich doch. Ich kenne deine Elli nicht, aber ich nehme an, sie ist eine Frau …«

»Frau Swoboda!«

»Also, die Elli ist eine Frau wie ich. Soll ich dir verraten, was Frauen mögen in so einem schweren Fall?«

Endlich hatte sie es kapiert. Er würde glatt einen Kaffee bei ihr trinken, nur damit sie endlich ausspuckte, was zu tun war. Verzweifelt hing er an ihren Lippen wie zuletzt an denen des Notars nach dem Unfall der Eltern, als er erfuhr, dass die beiden Waisenknaben Gruber nichts erben würden.

»Du musst sie bezirzen mit Rosen und einer romantischen Einladung, so etwas, verstehst? Frauen mögen es, umworben zu werden.«

 

Es waren lauter Dinge, von denen er nichts verstand.

»Bezirzen …«, wiederholte er albern, »wie soll das gehen?«

Frau Swoboda seufzte, während sie abräumte.

»Du zeigst ihr deine Verehrung. Sie soll wissen, dass sie die Einzige ist in deinem Herzen. Das ist doch nicht so schwer, Ferdl!«

Es gab überhaupt nichts Schwierigeres. Romantische Einladung! Er war so gut wie blank. Ein Essen für zwanzig Euro würde Elli nicht bezirzen. Das wusste er, ohne sie zu fragen. Rosen! Plötzlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Wenn jemand diesen ganzen romantischen Schaas kannte, dann war es die Mizzi. Mit der hatte er sowieso noch ein Hühnchen zu rupfen. Auch sie lachte ihn aus, als er auftauchte.

»Mit deinem Auftritt hast du die Zukunft des Kleinen kaputtgemacht«, gab er zu bedenken.

Das wirkte. Sie sah ihn entsetzt an, mit offenem Mund, sprachlos.

»Ja, jetzt sagst du nix mehr, Mizzi. Wenn sich die Elli nicht schnell beruhigt, gibt es keinen Vertrag mit Horvath. Keine Sau wird sich für seine Bilder interessieren und er gerät auf die schiefe Bahn wie ich. Willst du das?«

Ihr Mund klappte zu, auf, zu. Sie verstand offensichtlich nicht, wovon er sprach. Nach seiner Erklärung ging ihr ein Licht auf.

»Jetzt kapier ich, was der Bubi gelabert hat über Lorenz und seine Karriere. Ich dachte, der spintisiert wieder was zusammen in seinem wirren Kopf.«

»Dein Strizzi hat ein Durcheinander im Kopf, da sind wir uns einig. Aber sag mir jetzt lieber, wie ich aus diesem Schaas wieder rauskomme. Ich soll die Elli bezirzen, sagt die Swoboda. Hast du eine Ahnung, was sie damit meint?«

Seit sie sich wegen Lorenz schuldig fühlte, war Mizzi ganz Malteser, wollte nur noch helfen, und sie hatte eine glänzende Idee, die ihn nur einen Rosenstrauß beim Discounter kostete.

An diesem Abend fuhr ein strahlend weißer Fiaker von zwei Schimmeln gezogen bei der Galerie Horvath vor. Ferdl war kaum zu erkennen im geborgten schwarzen Anzug mit Melone. Trotzdem verbarg er sein Gesicht hinter dem Strauß roter Rosen. In der Galerie regte sich nichts.

»Was jetzt, Rosenkavalier?«, fragte der Fiaker.

Er konnte sich die Antwort sparen. Elli verließ das Geschäft pünktlich zur gewohnten Zeit. Er stürzte aus der Kutsche, warf sich mit den Rosen vor ihr auf die Knie. Seine Brust wollte platzen, aber er schaffte es, das »Küss die Hand« Ritual nahezu fehlerfrei durchzuspielen. Ihre leicht geröteten Wangen entgingen ihm nicht. Sie sorgten für neue Selbstsicherheit, das bittersüße Lächeln sowieso. Er lud sie mit einladender Geste und tiefer Verbeugung ein, Platz zu nehmen. Im letzten Moment dachte er daran, den Hut zu ziehen, weil es der Fiaker vormachte.

»Darf ich Sie nach Hause fahren, Gnä’ Frau? Ihr Taxi wartet.«

»Sie sind verrückt, Herr Gruber«, murmelte sie, ohne das Lächeln zu verlieren.

Dabei hielt sie ihm die Hand hin. Er begriff gerade noch rechtzeitig, bevor sie ermüdete, was es bedeutete, und half ihr galant in die Kutsche. Die Schimmel zogen an. Sie lächelte immer noch, und sein Puls wollte sich nicht beruhigen.

»Was hätten Sie getan, wenn ich heute gar nicht in der Galerie gewesen wäre?«, fragte sie, nachdem sie eine Weile schweigend nebeneinandergesessen hatten.

»Ich wäre morgen wiedergekommen und übermorgen, immer wieder, bis sie eingestiegen wären.«

Sie schüttelte den Kopf, glaubte ihm kein Wort.

»Warum tun Sie das?«

»Ich möchte mich in aller Form entschuldigen.«

»Wofür denn?«

Ihr Erstaunen wirkte nicht gespielt. Hatte sie die Episode im Hawelka schon vergessen? Stand es so schlimm um ihre Beziehung, die es noch gar nicht gab? Widerwillig rief er ihren schnellen Abgang in Erinnerung und entschuldigte sich ein zweites Mal für Mizzis Auftritt.

»Ach das meinen Sie … Wir waren doch fertig mit der Besprechung. Wer ist diese Mizzi überhaupt?«

»Eine alte Schulfreundin. Dritte Klasse Hernals.«

Seine Antwort kam wie aus der Pistole geschossen, denn er hatte die Lügengeschichte geübt, unterstrich sie noch mit einer abwertenden Handbewegung.

»Ist hundert Jahre her, schon lange vorbei, Kinderkram.«

Zu seiner Überraschung interessierte sie sich nicht für Einzelheiten. Stattdessen entschuldigte sie sich ihrerseits.

»Ich hätte mich früher melden sollen wegen des Vertrags. Tut mir leid, aber bei uns geht zurzeit alles drunter und drüber. Die Auktion, wissen Sie.«

Er nickte verständnisvoll. »Man muss Prioritäten setzen, nicht wahr?«

Was so ein einziges gebildetes Wort bewirken kann, erfuhr er jetzt.

»Genau! Sie sagen es«, rief sie entzückt und tätschelte seine Hand.

Die Fahrt am Naschmarkt vorbei zu ihrer Residenz dauerte leider nicht so lang, wie er gehofft hatte. Unvermittelt hielt der Fiaker vor der Haustür an. Elli ergriff seine Hand spontan, bedankte sich und sagte den Satz aus seinen Träumen:

»Wissens was, Herr Gruber? Kommen Sie doch auf einen Kaffee mit hinauf, dann können wir den Vertrag in Ruhe besprechen.«

»Passt«, murmelte er albern.

Er folgte ihr wie ein Schoßhündchen, nicht ohne dem Fiaker augenzwinkernd zuzuflüstern:

»Grüß mir die Mizzi und genieß die freie Stunde mit ihr.«

Elli öffnete ihr Heiligtum, führte ihn ins Wohnzimmer, halb so groß wie die alte Fabrik, und bat ihn, Platz zu nehmen. Wo?, fragte er sich. Noch nie hatte er so viele Bücher, Zeitschriften und Kataloge auf einem Haufen gesehen, nicht einmal bei Frau Swoboda. Nicht nur die Wände waren voll davon. Stapel türmten sich hüfthoch am Boden, Tisch und Stühle waren kaum zu sehen unter der literarischen Flutwelle. Er hob vorsichtig einen Stapel auf, unter dem er das Sofa vermutete, und legte ihn auf ein freies Plätzchen am Boden.

»Räumen Sie die Sachen einfach weg«, rief sie aus dem Bad.

Humor besaß sie, musste er ihr lassen.

»Haben Sie das alles gelesen?«, rief er ebenso laut.

»Das muss ich alles noch lesen.«

Die Stimme kam aus der Nähe. Elli stand direkt hinter ihm, hatte sich auf leisen Pfoten angeschlichen wie eine Katze. Er fuhr herum. Sein Herzschlag setzte aus, und sie sagte eine Oktave tiefer:

»Komm, Ferdl.«

Die Stimmlage passte zur hauchdünnen, schwarzen Spitzenunterwäsche, die sie trug. Die übrigen Kleider hatte sie im Bad vergessen. Blind und mit blutleerer Birne trottete er hinter ihr her ins Schlafzimmer. Sein Blut sammelte sich augenblicklich unter der Gürtellinie, und wie! Er registrierte noch: keine Bücher, nur seidene Bettwäsche, die bittersüß duftete wie Elli. Dann setzte der Verstand völlig aus. Das Tier übernahm die Kontrolle wie bei ihr. Sie verstanden sich prächtig ohne Worte. Grunzen, stöhnen und ab und zu ein spitzer Schrei, von dem er nicht wusste, woher er stammte, genügten als Anleitung für Hände, Lippen, Zunge und seine drei Beine.

Der Verstand blitzte kurz wieder auf. Er war über ihr zusammengeklappt, noch halb in ihr drin. Sie lag schwer atmend auf dem Bauch. Er steckte in der Elli, und sie wollte es so! Diese klare Erkenntnis härtete sein Glied abermals schlagartig. Er driftete wieder ab in die Welt der Bonobos.

Im nächsten lichten Moment stellte er fest, dass sie neben ihm auf der Bettkante saß, nackt, die Kaffeetasse in einer Hand, seine Nudel in der andern. Die Elli war so eine Rakete! Da konnten alle Mizzis glatt einpacken. Sie bemerkte seine offenen Augen. Die Hand begann, ihn zu massieren. Er reagierte und konnte nichts dagegen tun.

»So ein Kaffee wäre jetzt …«, murmelte er mit halberstickter Stimme.

»Gleich«, flüsterte sie lächelnd.

Sie stellte ihre Tasse ab. Der bittersüße Mund umschloss sein Glied. Braucht sie Schlagobers in den Kaffee?, schoss ihm durch den Kopf, dann ließ er der Natur freien Lauf. Ein gigantischer Vorrat an Motschker musste sich in seinen Eiern angesammelt haben. Sie hatte es sofort bemerkt und sorgte noch einmal in Rekordzeit für Erleichterung.

Die Lebensgeister kehrten langsam zurück, während er neben Elli auf der Bettkante Kaffee schlürfte, ausnahmsweise mit viel Zucker. Es war der heikelste Moment des Abends. Er fürchtete nichts mehr als die Aufforderung, darüber zu sprechen. Sie überraschte ihn wieder, klasse Frau, die sie war. Kein Ton über die Tierversuche, als hätten sie einen ganz normalen, gemütlichen Abend miteinander verbracht. Das Erste, was sie sagte, war auch eine Überraschung.

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