Station 9

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»Eine unbekannte Krankheit?«, murmelte Hendrik und nahm ihr den Obduktionsbefund aus der Hand, um selbst nachzusehen. »Das wäre ein Grund mehr, misstrauisch zu werden.«

»Da drin wirst du nichts finden. Ich spreche nur von den auffälligen Symptomen, die mich eben an einen extrem beschleunigten Verlauf der Amyotrophen Lateralsklerose erinnert.« Winter öffnete den Mund. Sie schnitt ihr das Wort ab: »Es ist übrigens nicht der einzige derartige Todesfall im Einzugsgebiet der Generalzolldirektion.«

Der Pfeil traf ins Schwarze. Beide starrten sie mit offenem Mund an.

»Vor Kurzem verstarb eine gewisse Anna Schäfer, leitende Angestellte im Hauptzollamt Bremen, an exakt denselben Symptomen.« Sie wandte sich an Winter: »Bevor Sie fragen: Ich weiß das, weil ihr Tod möglicherweise das Motiv für die Geiselnahme in Wien gewesen ist, die ich live miterlebt habe. Der Geiselnehmer Oskar Schäfer war ihr Schwager.«

Nach einer Schrecksekunde murmelte Hendrik:

»Ich glaube, du musst uns einiges erklären – und dieser Schäfer soll sofort vernommen werden.«

»Dazu ist es leider zu spät. Oskar Schäfer hat die Geiselnahme nicht überlebt. Die Beamtin in Bremen war mit seinem Bruder verheiratet, und der hat sich kurz nach ihrem Tod erschossen.«

Totenstille kehrte ein, bis Winter sie aufforderte, die ganze Geschichte zu erzählen.

»Am besten von Anfang an«, präzisierte sie.

Chris hielt Nick konsequent aus der Geschichte heraus und Jamie so gut es ging. Hendrik lächelte erleichtert nach dem Bericht.

»Das ist der erste konkrete Hinweis, dass ich keine Gespenster sehe«, sagte er zu Winter, »und es bestätigt mir, dass Chris genau die Richtige ist für diesen Job.«

Sie horchte auf. Es hörte sich zu sehr nach Ärger an.

»Welcher Job?«

Die beiden Juristen tauschten Blicke, die verrieten, dass sie sich nicht einig waren über die Antwort. Winter kostete es offensichtlich Überwindung, den Mund zu halten. Sie hatte keine Wahl. Hendrik war der Senior in der Runde und besaß beste Beziehungen bis hinauf zum allmächtigen Generalbundesanwalt Osterhagen. Er antwortete:

»Es besteht der Verdacht, dass die Operation Spider sabotiert wird. Die ungelösten Todesfälle sind ein weiteres Indiz.«

Haase hatte sie gewarnt.

»Spider sagt mir nichts«, log sie.

»Spider sollte die größte Operation gegen den organisierten Schmuggel deutscher Hightech-Waffen in Kriegsgebiete im Nahen Osten werden. Die Operation musste jetzt sistiert werden, da man gewissermaßen der Spinne den Kopf abgeschlagen hat.«

Deutsche Hightech-Waffen, gibt‘s die?, war sie versucht zu fragen, doch sie biss sich auf die Lippen.

»Ist es nicht Aufgabe des ZKA, solche Ermittlungen durchzuführen?«, fragte sie stattdessen.

Hendrik schüttelte den Kopf. »Nicht bei einer Bedrohung von außen und wenn nationale Interessen auf dem Spiel stehen.«

Genau daran zweifelte Winter. Sie sah es in ihren Augen und musste ihr insgeheim zustimmen. Hendrik bemerkte die Skepsis und doppelte nach:

»Die Sache ist politisch äußerst brisant. Bei der Befreiung von Palmyra vom IS sind deutsche Panzerabwehrwaffen aufgetaucht. Menge und Alter lassen darauf schließen, dass es keine Zufallsfunde sind. Die Waffen werden professionell ins Kriegsgebiet geschleust. Spider ist jetzt zur Chefsache erklärt worden. Vizekanzler König persönlich leitet den Krisenstab.«

»Trotz allem«, widersprach sie, »die zwei ungeklärten Todesfälle müssen nicht mit der Operation Spider zusammenhängen.«

Winter nickte zustimmend. »Sie erwähnten den Krisenstab …«

»Ein hochkarätig besetztes Gremium. Ich kenne nicht alle Mitglieder, aber Generalbundesanwalt Osterhagen ist dabei, Dr. Jana Schubert, Direktorin Ihrer Abteilung für schwere und organisierte Kriminalität im BKA, und Norbert Hahn, Vizedirektor ZKA, Stellvertreter des verstorbenen Arno Schmitz.«

Chris rümpfte die Nase. »Gibt es auch jemanden, der am Fall arbeitet?«

Hendrik lachte kurz auf. »Genau da kommst du ins Spiel.«

Jetzt war es raus. Sie hatte so etwas erwartet seit dem Telefongespräch mit Haase in Wien. Trotzdem schmeckte der Brocken nicht, den Hendrik ihr zum Fraß vorwarf. Je prominenter die Besetzung des Krisenstabs, desto unproduktiver die Arbeit. Diese simple Relation hatte sich immer wieder bestätigt. Winters Problem war wohl ein anderes, aber im Endeffekt zogen sie am selben Strang. Die Staatsanwältin fürchtete sich vor den Grabenkämpfen zwischen Zollbehörden, BKA und Bundesanwaltschaft. Deshalb das Feuer im Dach. Der Name des Vizekanzlers hatte Winter kurzzeitig in Schockstarre versetzt. Sie und Chris öffneten gleichzeitig den Mund, um zu protestieren, doch Hendrik winkte ab.

»Tut mir leid, meine Damen, aber Generalbundesanwalt Osterhagen und Präsident Meister bestehen auf deinem Einsatz.«

Sie hätte sich mit Jana Schubert, der Chefin ihrer Abteilung, ohne Weiteres angelegt, sich jedoch gegen den BKA-Präsidenten zu sträuben, wäre beruflicher Selbstmord. Und Osterhagen … Der attraktive Single imponierte ihr. Sie wusste selbst nicht genau, weshalb. Doch, sie wusste es, aber sie durfte es sich nicht eingestehen. Der letzte Fall, bei dem sie mit ihm zusammengearbeitet hatte, war erfolgreich abgeschlossen worden. Es könnte also klappen.

»Und wie stellt sich das erlauchte Gremium das Vorgehen vor?«, fragte sie nach einer Weile.

»Gar nicht«, war die schnelle Antwort. »Die nächste Sitzung findet heute Nachmittag um vier im Kanzleramt statt. Wir beide sind herzlich eingeladen. Dort wirst du dein Vorgehen präsentieren.«

»Dort werde ich mein Vorgehen präsentieren!«, äffte sie verärgert nach. »Was soll der Blödsinn? Bevor ich festlegen kann, wie ich vorgehen will, muss ich verdammt noch mal wissen, worum es eigentlich geht. Heute Morgen habe ich noch nichts von einer Operation Spider geahnt, und jetzt soll ich einen Plan gegen Saboteure haben? Entschuldige Hendrik, aber bei aller Liebe …«

Sie verzichtete auf das Ende des Satzes. Er kannte ihre Temperamentsausbrüche und versuchte zu beschwichtigen:

»Ich habe mich etwas ungeschickt ausgedrückt.«

»Kann man wohl sagen«, schnaubte sie.

Er beugte sich vor und dämpfte die Stimme. Das sollte sie beruhigen.

»Du weißt doch, wie der Hase läuft. Die Herrschaften wollen dich nur beschnuppern. Sie wollen sich einreden, die Sache wäre in guten Händen. Alle werden verstehen, dass du dich zuerst einarbeiten musst. Du kannst gar nichts falsch machen.«

»Das beruhigt mich ungemein. Und jetzt werdet ihr mich entschuldigen. Ich muss mich einarbeiten.«

Staatsanwältin Winter erwachte aus ihrer Starre, wagte aber nicht, zu widersprechen. Hendrik rief ihr schmunzelnd nach:

»Viertel vor vier am Empfang im Kanzleramt.«

Haase besaß den sechsten Sinn. Vielleicht dachte er auch nur logisch konsequent. Jedenfalls lag ein dickes Dossier mit der Aufschrift SPIDER auf dem Schreibtisch, als sie in ihr Büro zurückkehrte. Wie immer hatte er eine lückenlose Faktensammlung bereitgestellt inklusive prägnanter Zusammenfassung auf zwei Seiten. Management Summary nannte er diesen Teil. Quintessenz fand sie angemessener. Es war auch schon vorgekommen, dass seine Zusammenfassung aus einem einzigen Wort bestand: Blabla. Diesmal nicht. Trotzdem gab die Akte nicht viel her, denn die Operation Spider war noch nicht wirklich angelaufen. Die Kollegen hatten im Wesentlichen Daten, Kontakte und Beweise für illegale Waffenlieferungen zusammengetragen. In keinem einzigen Fall konnte bisher die Spur der Waffen lückenlos zum Hersteller in Deutschland zurückverfolgt werden.

»Das gibt‘s doch nicht«, sagte sie zu Haase. »Bei jeder Scheiß Pistole wird die Nummer beim Verkauf registriert. Der Verkäufer weiß genau, wem er wann welche Waffe verkauft hat, und bei Panzerfäusten soll das nicht möglich sein?«

Er blätterte kurz in seiner Akte. Die Seite, die er aufschlug, war die Kopie eines Lieferscheins.

»Alles ganz legal, wie Sie sehen«, sagte er mit spöttischem Lächeln. »Die Herstellerfirma verkauft die Waffe einer Firma in Schweden, die für die dortigen Streitkräfte arbeitet. Die Lieferung geht auch tatsächlich nach Stockholm. Nur bei der schwedischen Armee kommt sie nie an.«

Sie nickte nachdenklich. »Verstehe, und die Firma, die das Zeug gekauft hat, existiert nicht mehr. Habe ich recht?«

»Genau so ist es. Der Geldfluss kann übrigens auch nicht nachvollzogen werden. Die Zahlung an die Herstellerfirma erfolgte völlig unverdächtig über eine Schweizer Bank.«

»Unverdächtig, na klar, und niemand hat eine Vorstellung, woher das Geld stammt.«

Haase zuckte die Achseln. »Vorstellung schon aber keine Beweise.«

Damit schlurfte er zur Kaffeemaschine. Gegen Mittag hatte sie noch immer keine Ahnung, was sie den Herrschaften im Kanzleramt erzählen sollte – außer der Frage, was denn eigentlich ihr Job sei. Eine weitere Stunde verging, ohne dass sie Hunger verspürte. Ein wenig Brennstoff und Wasser musste sie zu sich nehmen, wollte sie nicht Gefahr laufen, um vier aus den Latschen zu kippen. Ärgerlich schmiss sie den Bettel hin und stand auf, um die Cafeteria aufzusuchen. Sie war noch nicht an der Tür, als sie wie angewurzelt stehenblieb.

»Ich dumme Kuh!«, rief sie aus.

Eilig kehrte sie an den Schreibtisch zurück. Es hatte die ganze Zeit vor ihr gelegen. Eine der Firmen auf der Liste der Verdächtigen war ein international operierender Logistikkonzern mit Hauptsitz in der Schweiz, die Basler SARTRAG. Als Gründer und Hauptaktionär zeichnete ein gewisser Louis Sarasin. Die Firma besaß Frachtschiffe, die hauptsächlich von Bremerhaven aus operierten. Bremerhaven, Bremen!

 

»Das ist doch ein Anfang«, murmelte sie.

Wie durch ein Wunder war plötzlich auch der Appetit da.

Kapitel 3

Wien

Elli Popov, was bist du deppert, dachte sie beim Betreten der Galerie am frühen Morgen. War ja klar. Wie sollte sich ein junger Kerl wie Ferdl für eine vertrocknete Tante wie sie interessieren?

»Schwamm drüber, soll er doch mit seiner Mizzi spielen«, murmelte sie, während sie die bequemen Laufschuhe gegen elegante aus dem Steffl tauschte, die besser in die vornehme Galerie passten.

Enttäuscht war sie schon von Ferdl. Enttäuscht genug, um sich sofort ohne Frühstückskipferl in die Arbeit zu stürzen. Die Auktion musste vorbereitet werden. Damit konnte man nicht früh genug beginnen. Sie saß am Computer im Büro neben dem Ausstellungsraum, die Liste der Einladungen auf dem Bildschirm, die unschöne Szene im Hawelka im Kopf. Die Glocke an der Tür schreckte sie auf. Das Geschäft würde erst in einer Stunde öffnen. Hatte der Chef wieder den Schlüssel vergessen? Ihr Herz tat einen Sprung, als sie den Jungen sah. Sie schloss hastig auf.

»Herr Lorenz, was treibt Sie denn so früh hierher?«

»Sie haben mich eingeladen.«

»Ja, natürlich, möchten Sie ablegen?«

Er behielt die Mütze auf und sah sich neugierig um.

»Sie können ruhig du zu mir sagen, Frau Elli.«

»Wunderbar, und ich bin einfach die Elli. Möchtest du etwas trinken?«

»Red Bull.«

Peinlich. Die Galerie war schlecht auf junge Kundschaft eingestellt. Sie zuckte bedauernd die Achseln.

»Tut mir leid. Darf es auch eine Cola sein?«

»Nicht am Morgen, zu schwach.«

Sie musste schmunzeln. »Also – wenn du in Schwung kommen willst, kann ich unsern Mokka empfehlen. Der ist der Hammer.«

Kannten die Jungen das Wort noch? Es gab heute sicher ein Dutzend Ausdrücke für stark, die sie noch nie gehört hatte. Hammer war O. K. Lorenz nickte.

Er beachtete die Tasse nicht, die sie ihm hinstellte. Wie ein Traumwandler schwebte er durch die Ausstellung, verharrte vor dem einen oder andern Bild und schwieg dazu wie ein Grab. Nicht überraschend fand er die klassischen, fotografischen Landschaftsbilder und Porträts nicht interessant, die zwei abstrakten Farbkompositionen dafür umso spannender. Sie ließ ihm Zeit, beobachtete seine Reaktionen und dachte nicht ans Arbeiten.

»Ist das alles?«, fragte er unvermittelt.

Die Enttäuschung war ihm deutlich anzuhören. Sie konnte ein Lächeln nicht unterdrücken, denn die Werke im Ausstellungsraum allein besaßen immerhin einen Wert von fast einer Million Euro. Die Galerie Horvath führte keine Nullachtfünfzehn-Kunst. Die Heiterkeit irritierte Lorenz. Höchste Zeit, ihm die wahren Schätze zu zeigen, beschloss sie.

»Hinten im Lager befinden sich einige Werke, die wir vor der Auktion ins ZFL schicken werden. Sie sind teilweise schon für den Transport verpackt, aber sieh selbst.«

Es blieb noch eine halbe Stunde, bis die Galerie öffnete. Sie waren allein. Das Licht im fensterlosen Lager ließ zu wünschen übrig, doch das hielt Lorenz nicht davon ab, mit offenem Mund vor dem Basquiat in die Knie zu gehen. Das Werk stand am Boden, bereit zur Verpackung.

»Der muss eine Stinkwut gehabt haben«, murmelte er.

Es war ein wenig bekanntes Bild des afroamerikanischen Malers, dessen kurze Laufbahn ebenfalls als Graffiti-Künstler begonnen hatte. Die typischen schwarzen Fratzen schienen aus dem Gemälde springen zu wollen, um dem Betrachter den Kopf abzubeißen. Dem weißen Betrachter wohlverstanden, der keine Vorstellung vom verschissenen Leben der Schwarzen in den amerikanischen Gettos haben kann.

»Jean-Michel Basquiat«, sagte sie. »Er ist mit achtundzwanzig an einer Überdosis gestorben.«

Sie erzählte ihm vom kurzen, intensiven und tragischen Leben des Künstlers. Lorenz sog jedes Wort auf, als versuchte er, damit seinen Durst zu stillen.

»Krass«, murmelte er schließlich.

Ohne weitere Erklärung zog er Block und Filzstift aus seinem kleinen Rucksack, setzte sich auf den Boden und begann zu zeichnen, immer ein Auge auf den schwarzen Fratzen. Es war eine Freude, dem jungen Künstler zuzusehen. Ihre Gegenwart störte ihn nicht im Geringsten. Er und Basquiat waren eins, alles andere blendete Lorenz aus.

Sie verließ das Lager auf leisen Sohlen, um das Geschäft aufzuschließen. Punkt neun trafen die zwei Sicherheitsleute ein, ständig diskret präsent in der Galerie. Die Versicherung schrieb diese teure Vorsichtsmaßnahme vor. Horvath befand sich schon im ZFL. Das hatte sie in der Aufregung vergessen. Es tat ihr leid, Lorenz beim Zeichnen zu stören, aber der Transport war für 9:30 Uhr angesetzt. Sie ging ins Lager zurück und prallte beinahe mit dem Jungen zusammen.

»Ich muss nach Hause«, sagte er. »Hier gibt‘s keine Farben.«

Die Feststellung reizte sie zum Lachen, doch sie unterdrückte es. Die Galerie explodierte geradezu vor lauter Farben, aber die waren gesetzt, änderten sich nicht mehr, tot gewissermaßen.

»Ich wollte dir eigentlich noch etwas zeigen, falls du Zeit und Lust hast.«

Er war nicht begeistert.

»Wie gesagt, einige ganz besondere Werke sind schon im ZFL.«

»Was soll das sein, das ZFL?«

»Das Zollfreilager. Dort werden Wertsachen aufbewahrt, die man nicht einführen will, weil man sie sonst verzollen müsste.«

»Das ZFL liegt also nicht in Österreich?«

»Doch, das Gebäude befindet sich auf Wiener Boden, aber das Lager gilt als exterritorial, wie die Juristen sagen. Niemandsland, mit andern Worten.«

»Krass.«

»In einer halben Stunde geht der Transport ab. Du kannst mitkommen.«

»Ins Niemandsland?«

Sie nickte. Er zuckte die Achseln, setzte sich aber auf das Sofa in der Lounge und blätterte in seinem Zeichenblock. Sie interpretierte es als ein Ja.

»Falls ihr wieder einmal einen Transport braucht«, bemerkte er, ohne aufzublicken, »Ferdl ist ein guter Fahrer.«

Er sagte es so treuherzig, dass sie diesmal das Lachen nicht unterdrücken konnte. Da er beleidigt aufblickte, beeilte sie sich, das Missverständnis aufzuklären.

»Das ist nett von dir, aber ich glaube, die Versicherung würde nicht mitmachen. Sieh selbst.«

Der gepanzerte Wagen der Sicherheitsfirma fuhr eben vor. Er parkte in der Seitengasse beim Eingang zum Lager. Ein Mann des Wachdienstes und die Begleiterin des Transports begannen, die verpackten Kunstwerke einzuladen.

»Krass«, murmelte Lorenz einmal mehr und widmete sich wieder seinen Zeichnungen.

»Was transportiert denn dein Bruder so?«

»Alles Mögliche. Er ist gut. Die Kieberer haben ihn noch nie erwischt.«

»Ach so, verstehe«, lachte sie. »Du meinst …«

»Ich habe nichts gesagt. Die Zeiten sind hart, meint Ferdl.«

»Dann nimmt man jeden Auftrag an. Willst du das damit sagen?«

»Ich sage gar nichts.«

Der Transport war bereit. Die Wachleute verriegelten das Lager. Die Beifahrerin stieg ein. Der gepanzerte Transporter stieß eine üble Rauchwolke aus dem Auspuff und fuhr ab. Lorenz war aufgesprungen.

»Fahren wir nicht mit?«

»Das wäre gegen die Vorschrift. Wir fahren mit meinem Wagen.«

»Schade.«

Horvath begrüßte den unerwarteten Gast erfreut. Sie trafen sich im Auktionsraum des ZFL. Angesichts der Größe und Bestuhlung schüttelte Lorenz nachdenklich den Kopf.

»Erwarten Sie noch mehr Gäste?«, fragte er den Galeristen.

»Allerdings, aber nicht heute. Hier finden unsere größten Auktionen statt.«

»Hier im Niemandsland?«

Der Ausdruck gefiel Horvath. Er lachte laut heraus, dann stellte er in vertraulichem Ton fest:

»Dieses Niemandsland erstreckt sich über den ganzen Planeten. Da werden Kunstwerke gekauft und verkauft und in alle Welt verschickt, ohne je ein Land zu sehen. Alles bleibt im Niemandsland.« Er sah, dass Lorenz Mühe hatte, zu folgen. »Es ist, als würde man in der Welt herumfliegen, ohne je den Transitbereich zu verlassen.«

Das hatte Lorenz verstanden, dennoch fragte er ungläubig:

»Und was bringt das, Kunst im Niemandsland? Die sieht ja niemand.«

Die Bemerkung amüsierte Horvath, doch er hatte keine Zeit mehr, entschuldigte sich und sagte:

»Elli wird Ihnen das erklären.«

»Sie können ruhig du zu mir sagen«, rief er ihm nach, doch Horvath hatte den Raum schon durch die Tür zum Vorbereitungszimmer verlassen.

Du musst noch viel lernen, Lorenz, dachte Elli schmunzelnd. Da ihr Chef sich um die neue Lieferung kümmerte, blieb etwas Zeit, dem Jungen die andern Einrichtungen des hochmodernen Zollfreilagers zu zeigen. Die Tresorräume mit Panzertüren wie im Gewölbe einer Bank beeindruckten ihn nicht, die Ausstellungsräume schon eher. Der Raum, den Horvath auf Dauer gemietet hatte, glich mit seiner edlen Ausstattung einer Erweiterung der Galerie. Nur die Bilder an den Wänden fehlten. Die Ähnlichkeit der Räume fiel Lorenz auf, wie seine Frage nach dem Sinn dieser Einrichtung bewies.

»Ganz richtig, das ist ein Teil der Galerie. Hier finden Wechselausstellungen statt«, bestätigte sie schmunzelnd. Wie erwartet, verstand er die Antwort nicht. »Du fragst dich, wieso man Bilder im Niemandsland ausstellt, nicht wahr?«

»Allerdings.«

»Das habe ich mich am Anfang auch gefragt. Das Niemandsland ist eben auch bevölkert. Es gibt vermögende Kunden, die ihre wertvolle Sammlung hier im klimatisierten Tresor aufbewahren. Wenn sie Lust und Gelegenheit haben, lassen sie damit diese Räume schmücken und erfreuen sich allein oder mit Gästen an den Kunstwerken. Manchmal steigen hier ziemlich schräge Partys.«

Lorenz schüttelte verwirrt den Kopf und kommentierte den Einblick in diese Parallelwelt mit seinem Lieblingswort:

»Krass.«

Als sie den Raum verließen, drehte er sich noch einmal um und fragte unsicher:

»Warum machen die reichen Säcke das noch mal?«

»Die Sammlung im ZFL lassen? Ganz einfach, um sie nirgends verzollen und versteuern zu müssen. Wir befinden uns schließlich im Niemandsland.«

Sein nächstes »Krass« blieb aus. Stattdessen sagte er etwas Überraschendes:

»Wenn das der Ferdl wüsste …«

»Was dann?«

»Ich sage nichts.«

Sie gingen zurück zum Auktionssaal und betraten das Vorbereitungszimmer.

»Ich sollte sowieso nicht über ihn quatschen«, murmelte er.

»Warum?«

Er zögerte. »Ich glaube, Ferdl ist schwer in dich verknallt.«

Das Lachen blieb ihr im Halse stecken. Sie musste sich abwenden aus Angst, vor dem Jungen zu erröten. Da ihr keine intelligente Antwort einfiel, blieb die Bemerkung im Raum hängen und schwebte noch minutenlang über ihr wie ein Damoklesschwert. Horvath riss sie aus den Gedanken.

»Elli, seien Sie so nett und übernehmen Sie das jetzt. Ich muss zurück in die Stadt. Herr Sarasin hat sich angekündigt.«

Beschäftigung war gut. Sie begann, die Stücke zu kontrollieren, die für die Auktion aus dem Tresor geholt worden waren.

»Ist dieser Sarazene auch so ein reicher Sack aus dem Niemandsland?«, fragte Lorenz, während sie die Hauptattraktion der Auktion vorsichtig aus der Schutzhülle zog.

»Sarasin«, korrigierte sie lachend. Fast flüsternd fügte sie an: »Ja, könnte man sagen. Er ist einer unserer wichtigsten Stammkunden, ein großer Kunstliebhaber.«

Lorenz wollte mehr wissen, doch sie legte den Finger auf die Lippen. Sicherheitsbeamte und Angestellte des ZFL befanden sich im Raum. Über Kunden spricht man nicht vor Fremden in dieser verschwiegenen Branche. Die Aufforderung zu schweigen war unnötig. Sein Kiefer klappte herunter.

»Das ist – krass«, flüsterte er tonlos.

Sie rückte das Bild ins richtige Licht. Er ließ es keine Sekunde mehr aus den Augen.

»Ein Spätwerk von Wassily Kandinsky. Ich wusste, es würde dir gefallen.«

Die klaren und doch äußerst komplexen Formen des Werks, das nicht einmal einen Namen trug, wiesen eine verblüffende Ähnlichkeit mit seinem Graffiti auf. Als wäre Lorenz Kandinskys später Schüler. Das war ihr erster Eindruck gewesen, den er mit seiner Reaktion nun bestätigte. Wie im Lager der Galerie setzte er sich auf den Boden und begann zu skizzieren. Er zeichnete nicht einfach ab, sondern hielt seine Eindrücke von Kandinskys Spätwerk fest, als schriebe er die Fortsetzung der Geschichte, die das Bild erzählte.

 

»Warum hat er es ›981‹ genannt?«, fragte er, ohne die Arbeit zu unterbrechen.

Sie lachte. »Das ist nur die Katalognummer für die Auktion. Man weiß nicht, wie Kandinsky sein Werk getauft hat, falls überhaupt.«

»Morgen in Wien.«

Er sagte es, ohne lange nachzudenken und traf den Nagel auf den Kopf. Das Licht – es war weiches Morgenlicht mit langen Schatten.

»Du hast völlig recht, Lorenz. Nennen wir es ›Morgen in Wien‹.«

Er hatte es plötzlich eilig, stopfte Block und Stift in den Rucksack und zog das Handy hervor, um das Bild zu fotografieren. Sie wollte ihn stoppen, denn Fotos waren tabu in diesen Räumen – normalerweise. Der Chef war nicht anwesend. Die Angestellten kümmerte es nicht, also ließ sie ihn gewähren. Er schoss mehrere Bilder, kontrollierte jedes kritisch und war erst nach dem fünften oder sechsten zufrieden.

»Ich muss nach Hause.«

»Hier gibt es keine Farben, ich weiß«, ergänzte sie schmunzelnd.

Sie setzte ihn bei der alten Fabrik ab, ohne auszusteigen. Ferdls Lieferwagen vor dem Haus versetzte ihr einen Adrenalinstoß, der sie sofort aufs Gaspedal drücken ließ.

»Woher kommst du?«, fragte Ferdl düster.

Seit dem Hawelka herrschte bei ihm aufgeladene Gewitterstimmung.

»Von der Elli«, antwortete der Kleine beiläufig.

Er zog sich in den hinteren Teil der Halle zurück, wo er sein Atelier eingerichtet hatte, warf den Rucksack in eine Ecke und begann, in sein Smartphone zu glotzen. Ferdl pflanzte sich drohend vor ihm auf.

»Es heißt: Frau Elli, wenn schon. Was hast du überhaupt bei ihr zu suchen? Warst du in der Galerie?«

Lorenz nickte. »Und im ZFL – krass.«

»Ich verstehe kein Wort.«

»Frag sie doch selbst. Sie hat mich hergefahren.«

Ferdl glaubte, sein Herz setze aus. Er rannte zur Tür, in den Hof hinaus. Da war keine Elli. Wutschnaubend kehrte er zurück.

»Falls du mich auf den Arm nehmen willst, hast du dich geschnitten, Kleiner. Ich habe nämlich im Moment gar keinen Bock auf Elli-Witze.«

Lorenz grinste unverschämt. »Stimmt‘s also doch: Du bist verknallt in sie.«

»Was soll das jetzt heißen?«

»Ich habe so etwas angedeutet.«

Ferdl explodierte. Wie kam der Kleine dazu, Elli einfach die Wahrheit ins Gesicht zu schleudern?

»Bist du deppert? Ich – du – kannst doch – und übrigens heißt es Frau Elli, kapiert?«

Der Kleine schüttelte frech den Kopf. »Wir sind jetzt per du.«

Ferdl zählte innerlich ganz langsam bis drei. Es half nicht. Zu erregt, um vernünftige Fragen zu stellen und Antworten zu verdauen, stapfte er hinaus. Er brauchte jetzt etwas Starkes.

Berlin

Ihre Uhr zeigte halb sieben, als Chris Winters Büro verließ. Es reichte bei Weitem für heute. Die Sitzung des Krisenstabs, immerhin ohne den Vizekanzler, dann die mühsame Rekapitulation bei der Staatsanwältin. Tage wie dieser bestätigten immer wieder, dass sie sich nach dem Studium richtig entschieden hatte: Ermittlerin statt Managementkarriere. Es musste ein trauriges Schicksal sein, tagein, tagaus in solchen Sitzungen zu verdorren. Wie konnten diese Leute abends überhaupt einschlafen? Fragten die sich nie: Was habe ich heute getan? Wozu bin ich verdammt noch mal überhaupt aufgestanden? Ihr reichte es jedenfalls für die nächsten paar Tage. Entschlossen, den Bettel für heute hinzuschmeißen, räumte sie den Schreibtisch rasch auf, nahm die Mappe und eilte hinaus.

Ein neues, nussiges Aroma strömte aus Haases Büro. Ihr guter Vorsatz war dem göttlichen Geruch nicht gewachsen. Der Kollege empfing sie lächelnd.

»Sie möchten sicher den neuen Brasilianer kosten.«

»Im Moment wäre ich sogar für Omas Filterkaffee mit Eicheln zu haben.«

Wenig später hielt sie die Tasse in der Hand und schnupperte dankbar daran.

»Wenig Säure, zartbitteres Aroma«, schwärmte Haase, »genau richtig nach den Eicheln.«

Sie brauchte eine zweite Tasse, bevor sie bereit war, über den verpfuschten Nachmittag zu sprechen.

»Es bleibt also wieder einmal an Ihnen hängen«, fasste Haase ihren Bericht zusammen.

»An uns beiden«, stimmte sie zu, »mehr oder weniger.«

»Das ist gut, und das wissen Sie. Bis jetzt haben Sie die Fälle allein noch immer am schnellsten gelöst.«

»Vielen Dank für das Kompliment, Kollege. Mit andern Worten, Sie halten mich auch nicht für teamfähig. Haben Sie mit Winter gesprochen?«

Er lachte laut heraus, was selten vorkam bei seiner Selbstdisziplin.

»Immerhin haben Sie jetzt freie Hand und die Unterstützung von ganz oben, Spider zu durchleuchten und die Saboteure zu finden.«

Ihr Blick drückte deutlich aus, was sie davon hielt.

»Sie glauben nicht so recht an die These der Sabotage.«

»Ganz ehrlich? Ich weiß nicht, was ich glauben soll. Solange niemand weiß, woran die Opfer gestorben sind, tappen wir etwas im Dunkeln, würde ich sagen.«

»Ich werde versuchen, Gemeinsamkeiten zwischen der Bremer Beamtin und dem Direktor des ZKA herauszuarbeiten. Mit ihren neuen Kontakten im Zollkriminalamt und in der Generalzolldirektion werden wir vielleicht feststellen, ob die Todesfälle tatsächlich zusammenhängen.«

Sie stimmte zu. Neben der Spur in die Schweiz war es so ziemlich die einzige Richtung, in die sie zurzeit ermitteln konnten – außer der medizinischen. Jamie! Ihr Anruf erreichte ihn im ›Medusa‹, wo er sich mit Nicks Kollegen von der MedUni traf, wie er behauptete.

»Sind sie jung, blond und hübsch, die Kollegen?«, stichelte sie.

»Einer ist blond. Besser gesagt: Er war einmal blond vor etwa zwanzig Jahren. Jetzt ist nicht mehr viel davon übrig.«

Sie hörte das Gelächter an der Bar bis nach Berlin. Er fühlte sich offenbar pudelwohl ohne sie in Wien. Ihr fiel ein Stein vom Herzen.

»Ich will nicht stören, aber hast du Zeit für eine medizinische Frage?«

Sobald sie beschleunigte ALS erwähnte, fiel er ihr ins Wort.

»Genau darüber haben wir gesprochen. Das ist hier das große Thema unter den Kollegen seit dem Tod von Ministerin Strasser. Mangels besseren Wissens schießen die Spekulationen ins Kraut, wie du dir vorstellen kannst.«

»Habt ihr denn wenigstens irgendeine konkrete Vorstellung, was die Symptome ausgelöst haben könnte?«, fragte sie ohne große Hoffnung.

Die Antwort fiel eben so kurz wie verstörend aus:

»Gentechnik.«

»Das musst du mir erklären.«

»Du erinnerst dich vielleicht an meinen Vortrag …«

»Und ob!«

»Dann erinnerst du dich auch an die Off-target-effects, die unerwünschten Nebenwirkungen von Gentherapien. Dabei werden genetische Informationen in Zellen verändert, die man gar nicht ändern wollte. Mal abgesehen von der Möglichkeit, entsprechende Krankheitserreger gezielt einzuschleusen, könnten solche Nebenwirkungen das Muskelgewebe und die Nervenzellen schädigen und tödliche Krämpfe auslösen.«

»Ein Unfall bei einer Gentherapie?«

»Durchaus möglich. Wie gesagt, reine Spekulation.«

»Wie wäre so etwas nachzuweisen?«

»Schwierig, nahezu unmöglich. Das Einzige, was man sicher nachweisen könnte, wäre die Tatsache, dass eine Gentherapie überhaupt stattgefunden hat.«

»Wie das?«

»Chimäre. Patienten werden durch Gentherapie zu Chimären.«

»Du machst mir Angst. Ich kenne Chimären nur als Fabelwesen aus der Mythologie«, murmelte sie erstaunt.

»Als Kreuzung zweier Arten. Genau das ist bei der Gentherapie auch der Fall – auf zellulärer Basis. Solche Patienten besitzen nämlich Zellen mit unterschiedlichem Genmaterial, ihre natürlichen Zellen und diejenigen mit veränderten Genen.«

»Der Nachweis wäre also …«

Haase unterbrach sie wild gestikulierend, was er noch nie getan hatte. Sie entschuldigte sich erschrocken und brach die Verbindung ab.

»Das glauben Sie jetzt nicht!«, rief ihr Kollege sichtlich erschüttert.

Breaking News stand schreiend auf seinem PC-Bildschirm, wo eine Sondersendung des Ersten lief: die Übertragung der Rede des Vizekanzlers zu den Enthüllungen über deutsche Waffen im Nahen Osten. Die ohnehin politisch brisante Stellungnahme im Bundestag hatte sich zu einem Schreckensszenario entwickelt wie nach einem Bombenanschlag. Der Moment, als Vizekanzler König vor laufender Kamera mitten in seiner Rede zusammenbrach, wiederholte sich in Endlosschleife, während Sprecher und Moderatorin aus dem Off hyperventilierten, damit auch der letzte Zuschauer die Dramatik des Augenblicks begriff. Die Szene wechselte. Helfer bemühten sich, den von spastischen Zuckungen geschüttelten Körper auf der Trage zu fixieren, während der Notarzt versuchte, den um Atem ringenden Patienten mit Sauerstoff zu versorgen. Sie kannte diese Bilder, hatte sie in Wien live gesehen. Der Schock saß tief. Sie musste sich setzen, um ihr Zittern zu verbergen.