Station 9

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»Sie meinen, man könnte das Zeugs verkaufen?«, platzte er wie elektrisiert heraus.

Der Kleine rettete ihn, dämpfte die Wirkung der deplatzierten Frage mit der altklugen Bemerkung:

»Es geht doch jetzt nicht ums Geld.«

Elli stimmte lächelnd zu. »Jetzt nicht, Herr Lorenz, aber ich denke, die Werke hätten gute Chancen auf dem Markt, wenn es klassische Bilder wären und man sie in geeignetem Rahmen ausstellte. Herr Horvath wird mir sicher zustimmen.«

Der Galerist widersprach jedenfalls nicht, doch Lorenz warf Ferdl einen vorwurfsvollen Blick zu.

»Da hast du es! Richtige Leinwand müsste her.«

Es war Horvaths Stichwort. »Das ist das kleinste Problem, Herr Lorenz. Wir können Ihnen Leinwand und Keilrahmen zu sehr günstigen Bedingungen besorgen.«

Ferdl wollte es genau wissen. »Was heißt günstig?«

»Zum Beispiel, indem wir einfach die bescheidenen Materialkosten vom Erlös der Bilder abziehen. So brauchen Sie a priori nichts zu investieren.«

Schon wieder unbekannte Wörter, aber Horvath hörte sich sehr seriös an.

»Sie meinen …«

»Besuchen Sie uns doch in den nächsten Tagen in der Galerie, dann besprechen wir alles Weitere in Ruhe.«

Ferdl sah den Kaffeebecher, kalt und immer noch voll. In diesem Augenblick fiel ihm die Idee seines Lebens ein.

»Ich habe einen Vorschlag«, sagte er zu Elli gewandt. »Wie wär‘s, wenn wir uns ganz unverbindlich zu einem richtigen Kaffee in einem gemütlichen Kaffeehaus treffen würden, um die Sache in Gang zu bringen? Lorenz kann in der Zwischenzeit schon mal in der Galerie schnuppern. Was sagen Sie dazu?«

Horvath schien nicht eifersüchtig zu sein, ein gutes Zeichen. Der Galerist war ein Kerl, wenn auch etwas degeneriert, aber er hatte verstanden und grinste bis über beide Ohren. Elli bekundete mehr Mühe. Als Lorenz ihr die Skizze überreichte, die er mit Filzstift angefertigt hatte, brach das Eis.

»Warum nicht«, sagte der bittersüße Mund.

Abends auf dem Weg zum Beisl in der Kuhgasse sickerte Ferdl allmählich ins Bewusstsein, welch ungeheure Chance sich für den Kleinen und ihn nun eröffnete. Die Gasse hieß nur unter Freunden Kuhgasse, weil es da nachts dunkel war wie in einer Kuh. Die Straßenlaterne diente seit Jahren nur noch den Hunden und Besoffenen als Pissoir und Orientierungshilfe, dass es da links zum Grantler Toni ging. Tonis Wirtsstube war eine der wenigen übrig gebliebenen Beisln im Grätzl, wo es sonst nur noch Wettcafés, Handyläden und Kebabs gab, die den Namen Würstelstand nicht verdienten.

Als er eintrat, hatte er einen Entschluss gefasst. Heute würde er eine Runde schmeißen. Es war an der Zeit, Großzügigkeit zu zeigen. Es spielte keine Rolle mehr, dass er im Grunde nur den Zlatko mochte. Seinem Bruder Mirko hingegen traute er nicht. Ohne Zlatko wäre er nie mit denen ins Geschäft gekommen. Die beiden saßen am Stammtisch. Einer fehlte noch.

»Wo ist der Bubi?«, fragte er ohne sonderliches Interesse statt eines Grußes.

»Beim Rennen, wo sonst«, brummte Zlatko.

»Was hockt der dauernd im Wettcafé herum, statt sich um seine Damen zu kümmern?«

Die Mizzi tat ihm leid. Seit das ganze Viertel Verbotszone war, gab es keine Möglichkeit mehr, legal auf der Straße anzuschaffen. Woher sollten die Freier wissen, dass über der Eisdiele so ein heißer Feger wie die Mizzi auf Kunden wartete? Sie war nicht allein mit diesem Problem. Die lieben Nachbarn wollten ihre Ruhe haben. Seither waren die Damen gezwungen, illegal anzuschaffen, immer mit den Kieberern im Nacken. Nicht, dass er sich selbst groß um die Gesetze gekümmert hätte, aber wenn der Schaas wie hier sogar durchgesetzt wurde, kamen Jobs in Gefahr. Da hörte der Spaß auf. Es war echt kein Leben mehr für die Mizzi. Bubi Vesely sollte sich viel mehr um sie und vor allem um Kundschaft bemühen. Bei solchen Zuständen konnte man direkt selbst zum Strizzi werden, dachte er. Sein Bier stand schon auf dem Tisch, als er sich setzte.

»Danke, Toni.«

Der Wirt blickte ihn zornig an und knurrte:

»Dein Fassl ist jetzt lala, nur noch Luft drin, verstehst?«

Ferdl zog grinsend Horvaths zweitletzten Hunderter aus der Tasche.

»Und jetzt?«

So schnell hatte er noch nie einen Geldschein verschwinden sehen.

»He! Dafür geht heute alles auf mich. Und her mit den Stamperln. Auch eins für den Bubi.«

Der Strizzi fiel eben mit der Tür ins Haus.

»Burschen, das glaubt’s jetzt nicht!«, rief er aus, kaum saß er am Tisch.

»Sag nicht, du hast gewonnen«, staunte Mirko, der manchmal zum Strizzi aufschaute, als wäre er Bubi Scholz persönlich.

»Eh nicht, die bescheißen dich doch, wo sie können.«

»Warum tust du‘s denn?«, wunderte sich Ferdl.

»Schon mal was von Investitionen gehört? Ist wahrscheinlich nichts für einen wie dich. Da brauchst du langfristiges Denken, verstehst?«

»Ehrlich gesagt nein. Ich dachte immer, verluderte Marie eigne sich nicht zum lnvestieren.«

Bubi wischte die zwingend logische Bemerkung mit einer Handbewegung ärgerlich vom Tisch.

»Du kapierst rein gar nix, Ferdl. Ich sage nur: Negativzins! Aber ich wollte über etwas ganz anderes reden. Hörts her.«

Wie immer, wenn die Sitzung vertraulich wurde, hielten alle die Köpfe über dem Tisch zusammen. Es war gleichzeitig das Zeichen für Toni, mit den Schnäpsen zu warten. Bubis gedämpfte Stimme war kaum zu vernehmen im Lärm des fast vollen Beisls.

»Ich habe da einen ganz großen Fisch am Haken. Der bringt mindestens das Zehnfache vom Baumarkt.«

»Ja klar, und du kassierst endlich den Fünfer Häfn, wenn was schiefläuft«, warf Ferdl ein. »Bubi Vesely ist auf Bewährung, vergiss das nicht.«

»Was soll schiefgehen? Hör doch einfach zu, statt zu raunzen.«

Bubis Plan war erstaunlich O. K., musste er zugeben. Die ganze Lieferung Spielkonsolen und Computer der neusten Generation einfach umleiten – eigentlich genial. Aber bei so viel Geld musste es einen Haken geben, darum schüttelte er entschieden den Kopf.

»Ohne mich. Das ist mir zu heiß und überhaupt – ich muss jetzt Prioritäten setzen.«

»Prioritäten!«, brauste der Strizzi auf, »was für ein Schaas ist das jetzt wieder?«

»Ich glaube, der Ferdl beginnt gerade ein neues Leben«, spottete Zlatko und winkte endlich die Schnäpse herbei.

»Wisst ihr, ich werde jetzt meine Verantwortung wahrnehmen. Der Kleine hat eine ganz große Zukunft vor sich, müsst ihr wissen.«

»Dein Lorenz ist von der Schule geflogen«, brummte Bubi.

»Wie du, aber im Gegensatz zu dir kann er was und zwar verdammt gut. Darum muss ich mich jetzt kümmern. Burschen, ich glaube, ihr müsst einen andern Fahrer suchen.«

Bubi durchbohrte ihn lange mit seinen Blicken, bis er sich an die Brüder wandte.

»Glaubt der Herr Gruber, er sei der Einzige am Tisch mit Verantwortung? Bin ich etwa nicht verantwortlich für die Mizzi und die Svenja und die Petra?«

»Genau«, stimmte Mirko zu, heftig in Richtung Ferdl nickend.

Bubi erinnerte sich, dass er mit am Tisch saß, und fragte ihn direkt:

»Was glaubst, warum ich so scharf bin auf diesen Deal?«

»Geld?«

»Genau, jetzt hat er verstanden, der Herr Gruber. Ich habe nämlich Großes vor mit meinen Strichkatzerln, weil ich eben auch eine Verantwortung wahrnehme, Herr Gruber.«

Damit hatte er nicht gerechnet. Der Strizzi schmiedete Pläne für seine Damen, ganz was Neues. Auf seine verblüffte Frage antwortete Bubi mit einem Rätsel:

»Soschel Meedia, verstehst?«

Er brauchte eine Sekunde oder zwei, um zu begreifen, so ungewohnt waren Wörter wie diese aus seinem Mund.

»Du meinst das moderne Internet Zeug? Was hat das mit der Mizzi zu tun?«

»Frag sie doch selbst.« Er zeigte seine fünfzig Zähne, das Zeichen, dass jetzt ein ganz cooler Spruch fällig war. »Aber nur gegen Barzahlung«, fügte er zu Mirkos großer Freude an.

Allmählich ermüdete ihn die Unterhaltung.

»Ich habe noch immer bezahlt«, murmelte er eingeschnappt.

»Also, was ist jetzt? Du kannst uns nicht hängen lassen«, drängte Zlatko.

»Wie viel liegt drin?«

Bubis Antwort ließ nicht lange auf sich warten.

»Zehn Riesen für jeden – mindestens.«

Die Brüder stießen einen kollektiven Fluch aus, und er musste zugeben: Die runde Zehn hatte schon etwas für sich. Vielleicht konnte man ja das eine tun, ohne das andere zu lassen. Alle Augen richteten sich auf ihn.

»O. K., ich überleg‘s mir«, sagte er, um die Spannung zu lösen, »aber jetzt stoßen wir erst einmal auf die Zukunft des kleinen Lorenz an.«

Zwei Bier und zwei Schnäpse später betrat er Mizzis Wohnung.

»Was darf‘s denn heute sein?«, fragte sie schnippisch.

»Nicht, was du denkst. Ich brauche deinen Rat.«

»Du willst labern? Mir soll‘s recht sein.«

Sie streckte die Hand aus. Er gab ihr den Schein. Ordnung musste sein, vor allem jetzt, da das Geschäft harzte.

»Sag mal, habe ich den Bubi richtig verstanden? Der will was auf dem Internet aufziehen?«

Sie lachte laut heraus. »Hat er das behauptet?«

Er nickte. »Im vollen Ernst. Social Media hat er erwähnt.«

»Der Bubi weiß doch nicht einmal, wie man das ausspricht. Abgesehen davon könnte ich gute Werbung schon brauchen. Lorenz ist doch ein ganz Heller. Kann der nicht …«

»Lorenz hat jetzt andere Prioritäten«, unterbrach er schnell.

Prioritäten rückte zu seinem neuen Lieblingswort auf. Die Mizzi wusste es noch nicht und starrte ihn daher mit offenem Mund an.

»Ja, du hast schon richtig gehört. Darum bin ich gekommen.«

 

»Wegen Prioritäten?«

»Ja, nein, indirekt.«

Mizzi dachte an ihren eigenen zukünftigen Erfolg auf Social Media.

»Also der Bubi packt das nicht«, murmelte sie, »das kann ich dir gleich sagen.«

»Wie kommt er überhaupt auf so eine irre Idee?«

Wieder lachte sie auf, diesmal mit bitterem Unterton. »Erst wollte er uns in ein Laufhaus stecken, der Oasch.«

Mizzi stammte zwar aus einer Gegend ziemlich weit östlich von Wien, aber ein paar wichtige einheimische Ausdrücke hatte sie voll drauf.

»Ich habe ihm gesagt: Bevor ich das mache, lauf ich schneller davon, als er laufen sagen kann.«

Diesmal war es an ihm, zu lachen. »Darum also jetzt das Internet.«

»Der Lorenz könnte doch …«

»Fang nicht wieder davon an, Mizzi. Der Kleine hat echt keine Zeit mehr für solche Sachen, der steigt nämlich jetzt wie eine Rakete die Karriereleiter hoch, bis wir ihn nicht mehr sehen.«

»Du spinnst doch, Ferdl Gruber.«

Er glaubte felsenfest daran. Die Entdeckung des Ausnahmekünstlers Lorenz Gruber durch die über jeden Zweifel erhabene Magistra Elli erfüllte ihn mit Stolz. Er platzte förmlich vor Stolz. Sein Redeschwall ergoss sich über die verblüffte Mizzi wie sonst nur Schmäh und Motschker.

»So, jetzt weißt du alles«, schloss er, »und ich muss jetzt wissen, wie ich die Elli am schnellsten herumkriege.«

»Das fragst du ausgerechnet mich?«

»Sowieso, du bist eine Frau und kennst die Männer.«

»Die Männer, die ich kenne, sind doch alle nicht ganz dicht.«

Er ignorierte die Spitze.

»Die Idee mit dem Kaffeehaus ist schon genial, oder?«, fragte er unsicher.

Mizzi verzog den Mund zu einem spöttischen Lächeln. »Im Kaffeehaus gibt‘s auch nur ganz gewöhnlichen Kaffee wie bei Frau Swoboda.«

Das durfte nicht unwidersprochen bleiben.

»Normal ist gar nichts an ihrem Kaffee. Frau Swobodas Gebräu eignet sich nicht einmal als Salatessig, zu sauer.«

Die Zeit war fast um. Ein zweiter Zwanziger lag nicht drin. Immerhin gab sie ihm am Ende noch einen brauchbaren Rat mit auf den Weg:

»Frauen mögen Kerle, die sie zum Lachen bringen.«

Ihrem Gesicht nach zu urteilen, war der Rat ernst gemeint. Dann dachte sie wieder ans Geschäft.

»Wir haben noch fünf Minuten. Soll ich dir einen blasen?«

Elli sah eine fremde Frau im Spiegel. Die alte Elli blickte ihr entgegen, als wäre nichts geschehen. Wie konnte das sein? Es war Frühling geworden im September. Das musste man ihr doch ansehen. Die Frau im Spiegel verzog keine Miene. Kein Lächeln, nichts, was auf Sonnenschein im Herzen hindeutete, nur der Weltschmerz und der pflichtbewusste, kritische Blick. Keine Spur vom Besuch in der alten Fabrik.

Jener Abend hatte ihr die Augen geöffnet, und das sollte die Welt da draußen ruhig bemerken. Lorenz hatte sie sofort erobert. Sie konnte sich schon nicht mehr vorstellen, ihn sechzehn Jahre lang nicht gekannt zu haben. Der Junge weckte Muttergefühle in ihr. Sie musste es zugeben und staunte selbst darüber, dass so etwas in ihr schlummerte. Sie hatte stets einen großen Bogen um Teenager seiner Generation gemacht, mit guten Gründen. Lorenz aber belehrte sie eines Besseren. Es gab also Sechzehnjährige, die wunderbar in ihr Weltbild passten wie die starken Farben zu van Gogh. Sie war unverhofft Mutter geworden. Damit konnte sie gut leben. Sie freute sich auf die Aufgabe, Lorenz auf seinem Weg in den Olymp zu begleiten. Lächle, Elli! Die Frau im Spiegel versuchte es, und es sah aus, als wollte sie gleich in Tränen ausbrechen.

Mit der Zeit würde sie es lernen. Was aber löste der ältere Bruder bei ihr aus? Der erste Eindruck hatte sich an jenem Abend nicht bestätigt. Ein Taugenichts, hatte sie gedacht, aber so einfach war es nicht. Wie Ferdl Gruber sich rührend um Lorenz und die Gäste gekümmert hatte – schon beeindruckend, musste sie zugeben. Auf seine Art sorgte er sich um die Zukunft des Bruders wie ein Vater. Ferdl war also der Vater des jungen Künstlers, sie die Mutter. Was lag da näher als …

Sie wagte den Gedanken nicht zu Ende zu denken. »Das geht sich nicht aus«, bestätigte auch die Frau im Spiegel. Sie wirkte allerdings nicht sehr überzeugend. Keine Unbekannte in Wiens Kaffeehäusern, würde sie sich diesmal doch ganz anders fühlen. Normalerweise lud sie die Kunden ein und bezahlte die Rechnung aus Horvaths Schatulle. Wann war sie das letzte Mal eingeladen worden, noch dazu von einem feschen jungen Mann, der ein Auge auf sie … Sie durfte nicht weiter fantasieren. Bisher hatte sie diese Seite zwischenmenschlicher Interaktion keine Sekunde vermisst. Der Job, die Kunst, die Galerie, die exklusive Kundschaft füllten sie aus. Die Frau im Spiegel war vollkommen zufrieden mit ihrem Leben. Warum sollte sich das jetzt ändern? Es ist eine ganz gewöhnliche, geschäftliche Besprechung, versuchte sie sich einzureden. Einladung – was bedeutete das schon. Ferdl war einfach nett, nichts weiter, vergiss den Rest. Was bildete sie sich überhaupt ein? Sie könnte fast auch seine Mutter sein. So sah es aus. Jetzt lächelte die Frau im Spiegel.

Das Hawelka war angenehm ruhig, die Gästeschar übersichtlich, als sie gegen vier Uhr eintrat. Nach einem kurzen Blick in die Runde atmete sie auf: keine Bekannten, die vielleicht falsche Schlüsse ziehen würden. Ferdl Gruber saß am Tisch in der Ecke und beobachtete eine hübsche Blondine, die in der Nähe Zeitung las. Elli hatte ihn schon fast erreicht, als er sie bemerkte. Er sprang auf, stieß dabei an den Marmortisch, dass die Mokkatasse tanzte, und errötete.

»Warm hier drin, nicht wahr?«, spottete sie.

Er erholte sich rasch, spielte das »Küss die Hand, Gnä‘ Frau« Ritual perfekt wie in der alten Fabrik und bat sie formell an den Tisch. Das Theater passte so gar nicht zu seinem Typ, dass sie unwillkürlich lachen musste.

»Habe ich was falsch gemacht?«, fragte er entsetzt.

»Eben nicht!«

Die Antwort verwirrte ihn noch mehr. Von wegen geschäftliche Besprechung! Der Mann war ein einziges Nervenbündel. Dagegen wirkte ihre Nervosität geradezu beruhigend. Der Kellner trat auf sie zu.

»Also, die Buchteln kann ich sehr empfehlen, Frau Elli«, warf Ferdl hastig ein.

»Ich weiß«, sagte sie lachend und bestellte »das Gleiche wie der Herr«.

»Sie sind zu bescheiden, Frau Elli.«

In seiner Stimme schwang Enttäuschung mit. Eine peinliche Pause entstand, bis der Mokka auf dem Tisch stand.

»Tja, da sitzen wir nun, wir beide«, sagte sie, »und die Hauptperson fehlt.«

»Der Lorenz! Richtig, um ihn geht es ja, nicht wahr?«

»Nur um ihn.«

»Es ist halt so eine Sache mit dem Kleinen«, seufzte er mit schlecht gespieltem Bedauern. »Er geht nicht gern unter die Leute, fühlt sich nicht wohl in Gesellschaft.«

Das passte zum Ausnahmetalent. Die Künstler, die sie kannte, waren entweder Einsiedler oder Partylöwen. Sie nickte lächelnd.

»Verstehe, ihm genügt die Kunst.«

»Die schöne Welt der Kunst.«

Er musterte sie verträumt und ungeniert, dass sie sich fragen musste, was er mit der schönen Welt genau meinte.

»Täuschen Sie sich nicht, Herr Gruber. Schön sind oft nur die Werke. Der Rest des Kunstbetriebs ist knallhartes Business.«

Das Stichwort Business riss ihn aus den Träumen.

»Jetzt verstehen wir uns«, unterbrach er grinsend. Er rückte etwas näher. »Glauben Sie ernsthaft, die Bilder des Kleinen könnten einen Markt finden?«

»Mit der richtigen Förderung und Connections, kein Zweifel.«

»Connections, genau! Die sind entscheidend – auch in meinem Geschäft.«

»Was ist denn eigentlich Ihr Geschäft, Herr Gruber?«

Er zögerte kurz, als suchte er das passende Wort.

»Logistik – ich besitze ein kleines Transportunternehmen. Läuft ganz gut, aber wie Sie richtig sagen: Ohne Connections geht gar nix.«

Er schwärmte so begeistert vom kleinen Geschäft, dass sie kein Wort glaubte. Vom Lieferwagen schweifte er zu Horvaths Bentley ab, dann zu seinem Traum vom Lamborghini Gallardo, in dem sie mit wehenden Haaren … Sie musste einschreiten.

»Sportwagen finde ich uncool. Ich bin eher der romantische Typ, wissen Sie.«

Bevor sein Mund zuklappte, sprach sie weiter:

»Ich muss Sie das jetzt fragen, Herr Gruber. Lorenz ist ja noch nicht volljährig, kann also keine rechtsgültigen Verträge unterzeichnen, deshalb die Frage. Haben Sie das offizielle Sorgerecht für Lorenz? Sind Sie seine rechtsgeschäftliche Vertretung?«

Die juristischen Fachausdrücke verwirrten den Kleinunternehmer Gruber. Er nickte nur stumm.

»Es geht nämlich darum, dass die Galerie Horvath gern mit Herrn Lorenz ins Geschäft kommen möchte. Zu diesem Zweck hat Herr Horvath vorgeschlagen, einen Vertrag aufzusetzen.«

»Vertrag? Was für ein Vertrag?«, fuhr Ferdl misstrauisch auf.

Sie lächelte beruhigend. »Keine Angst, es kostet Sie nichts. Es geht nur darum, die Zukunft Ihres Bruders Lorenz als Künstler zu sichern.«

Er wusste nicht, was er sagen sollte.

»Habe ich Sie jetzt erschreckt?«, fragte sie lächelnd.

»Nein – Nein – natürlich nicht. Ich bin nur etwas erstaunt, wie schnell das alles geht.«

»Ganz so weit sind wir schon noch nicht, aber Herr Horvath sagt immer: Man muss die Gelegenheit beim Schopf packen.«

»Meine Rede, Frau Elli, meine Rede. Aber ich bitte Sie, nennen Sie mich doch einfach Ferdl. Ich meine jetzt, wo wir miteinander so schön ins Geschäft kommen, wir beide.«

Er stutzte. Sein Gesicht, das sich eben noch fürs Geschäft echauffierte, fiel auseinander.

»Das darf jetzt nicht wahr sein«, seufzte er mit Verzweiflung in der Stimme, die Augen auf zwei junge Damen gerichtet. Sie steuerten in aufreizender Kleidung auf ihren Tisch zu, dem einen oder andern Herrn über fünfzig zuzwinkernd.

»Kennen Sie die Damen?«

Er brauchte nicht zu antworten. Die beiden süß parfümierten Frauen nickten ihr kurz zu, dann drückte jede Ferdl drei herzhafte Küsse auf die Wangen, bevor sie sich setzten.

»Ihr gestattet doch?«, fragte eine der Form halber, ohne eine Antwort zu erwarten.

»So, Ferdl, willst du uns deine neue Bekanntschaft nicht vorstellen?«

»Mizzi …«

Seine Stimme erstarb aus reiner Verzweiflung. Er wagte nicht mehr, sie anzusehen.

»Ich denke, wir sind uns einig, Herr Gruber«, sagte sie und erhob sich. »Ich melde mich, sobald der Vertrag aufgesetzt ist, und freue mich auf unsere Zusammenarbeit.«

Sie verabschiedete sich mit dem gleichen kurzen Nicken von den Damen und wandte sich zum Ausgang.

In der Ecke neben den Büsten von Leopold und Josefine Hawelka änderte sich der Tonfall schlagartig. Chris unterbrach die Lektüre des Kuriers. Sie würde ohnehin nichts Neues mehr erfahren, nachdem sie bereits die Presse, das Heute, die Krone und den Standard nach Informationen zum Tod von Ministerin Strasser durchkämmt hatte. Der Friede des ungleichen Paares auf der Eckbank war dahin, als die beiden etwas laut gekleideten Blondinen auftauchten. Chris fragte sich, wie sich der Stenz wohl aus der peinlichen Affäre ziehen würde. Die Blondinen schienen nichts von seiner neuen, um einiges älteren Freundin zu halten und setzten sich dreist an seinen Tisch. Sie kannten den jungen Mann offenbar sehr gut. Die Affäre ist vorbei, ehe sie richtig begonnen hat, dachte Chris amüsiert, froh über die heitere Unterbrechung ihrer düsteren Gedankengänge.

Die Affäre nahm die Handtasche, stand auf und verließ das Kaffee ohne einen Blick zurück. Nach einer Schrecksekunde sprang ihr Galan auf, wollte ihr nachrennen und prallte in den Herrn Ober.

»Der Herr möchten bezahlen?«, sagte der Kellner, unbeeindruckt von der Eile des Gastes.

Dieses Haus war voller Geschichten. Es lebte nicht nur von den Legenden, die man über das Lokal erzählte. Etwa über Leopold Hawelkas gescheiten Kommentar, nachdem er den Krieg in der Wehrmacht unversehrt überlebt hatte: Im Krieg soll man nicht ehrgeizig sein. Das Haus erzählte selbst Geschichten, erfand sie jeden Tag neu.

Die SMS von Jamie weckte sie aus ihren Träumen. In einer Stunde am Mumok. Das ließ sich einrichten. Das Museum für moderne Kunst im Museumsquartier gehörte nun mal zum Programm, auf das sie sich eingelassen hatte, ohne lange nachzudenken. Damals vor der Abreise in den ersehnten Kurzurlaub war die Vorstellung von Wien als Ort der Erholung und kulturellen Bereicherung noch intakt gewesen. Jetzt war es eine Stadt wie Berlin, in der schlimme Dinge geschahen, nichts Besonderes also.

 

Zeitgenössische Kunst – auch so ein Thema. Die meisten Kunstwerke erkannte man gar nicht ohne Beschriftung. Das sah sie als erwiesen an, seit sie einmal aus Versehen die Documenta besucht hatte. Aber was soll‘s, dachte sie. Jede Ablenkung war willkommen, um diesen Urlaub zu retten. Immerhin hatte Jamie wieder mit ihr zu kommunizieren begonnen nach dem Schock im Belvedere.

Die beiden Blondinen saßen allein am Tisch in der Ecke und aßen kichernd ihren Topfenstrudel, als sie das Hawelka verließ. Kaum draußen, klingelte das Handy. Haase war am Apparat.

»Langweilen Sie sich im Büro?«, fragte sie lachend.

»Ich wollte Sie nur warnen. Da braut sich etwas zusammen.«

Er sprach leise, wie hinter vorgehaltener Hand.

»Ist die Staatsanwaltschaft in der Nähe?«

»Staatsanwältin Winter hat jedenfalls schon zweimal gefragt, wann sie wieder auftauchen würden.«

»Steht doch im Kalender. Sie braucht nur den PC einzuschalten.«

»Vielleicht hat sie das Passwort vergessen. Was ich sagen wollte: Es gibt einen prominenten Toten.«

»Noch einen?«

»Wie meinen?«

»Nicht wichtig. Erzählen Sie.«

Beim prominenten Toten handelte es sich um Arno Schmitz, den Direktor des Zollkriminalamtes.

»Ungeklärte Todesursache. Die Staatsanwaltschaft glaubt nicht an einen Zufall«, sagte Haase. »Direktor Schmitz leitete die Operation Spider.«

»Sagt mir nichts.«

»Spider ist die größte Operation gegen den organisierten Waffenschmuggel, die Deutschland je auf die Beine gestellt hat.«

»Ach so – das ist was anderes. Aber was hat das mit uns zu tun?«

Die Antwort kam noch leiser aus dem Hörer.

»Ich glaube, man hat Sie im Auge für eine unabhängige Untersuchung. Direktor Schmitz ist nicht der erste Abgang bei Spider.«

Unabhängige Untersuchung stand für interne Ermittlung. Sie wussten es beide, und sie hasste solche Jobs. Kollegen bespitzeln – deswegen war sie nicht Kriminalkommissarin geworden.

»Ich bin begeistert«, murmelte sie.

»Kann ich mir vorstellen.«

»Wie ist Direktor Schmitz denn gestorben?«

»Die mauern. Ich kläre das ab. Sie kommt, ich muss auflegen!«

Chris konnte sich Staatsanwältin Winters Miene lebhaft vorstellen, mit der sie nun wohl zum dritten Mal nach ihr fragte. Sie trug den richtigen Namen. In ihrer Welt herrschte ewiger Winter.

Jamie wartete bereits am Eingang des Museums. Sie küssten und umarmten sich wie früher. Obwohl sie vor Neugier platzte, fragte sie nicht nach Neuigkeiten von Nick, mit dem er die letzten Stunden verbracht hatte. Sätze mit Nick blieben tabu.

»Sie sind abgereist«, sagte er, während sie unschlüssig vor dem Haus standen. »Mona bittet um Entschuldigung, dass sie sich nicht persönlich von dir verabschieden konnte.« Schmunzelnd fügte er hinzu: »Ich glaube, sie hat ein Auge auf dich geworfen.«

»Die schöne Mona … Eifersüchtig?«

Die rhetorische Frage blieb unbeantwortet. Sein Blick wanderte langsam vom Mumok hinüber zum Beisl und wieder zurück.

»Wollen wir uns das wirklich antun?«

Sie lachte. »Ich hoffte, du würdest fragen.«

Hand in Hand schlenderten sie weg von der abstrakten Kunst, hin zur konkreten Kunst in Küche und Keller. Kurz vor dem Beisl drohte ihr Klingelton die aufkeimende Eintracht gleich wieder zu ruinieren.

»Es hat garantiert nichts mit ihm zu tun!«, entschuldigte sie sich hastig, bevor sie abhob.

Haases Nachricht warf mehr Fragen auf, als sie beantwortete.

»Direktor Schmitz ist offenbar völlig unerwartet eines natürlichen Todes gestorben, Ursache unbekannt«, sagte er. »Übrigens: Die verstorbene Schwägerin des Geiselnehmers Schröder arbeitete als leitende Beamtin im Hauptzollamt Bremen.«

Berlin

Sobald sie die sattsam bekannte Luft im BKA am Treptower Park einatmete, fragte sich Chris, ob sie die richtige Entscheidung getroffen hatte. Den Urlaub abzubrechen für den Job, und das in einer Beziehungskrise – nicht wirklich empfehlenswert. Sie und Jamie steckten in einer Krise, da half kein positives Denken. Es war erst der Anfang, vermutete sie nach der Unterhaltung mit dem Rechtsmediziner in Wien. Sie hatte keinerlei Befugnis, ihn über die näheren Umstände des Todes von Ministerin Strasser zu befragen, aber beider »lange Bekanntschaft« mit Nick verband sie zu einer Art Schicksalsgemeinschaft. Der Mediziner gab offen zu, keine Ursache für die plötzlichen Krämpfe, Atemnot und die Herzlähmung, die letztlich zum Tod von Doris Strasser führte, gefunden zu haben. Ihr Tod blieb ein Rätsel, aber die Symptome waren eindeutig: Beschleunigte ALS, wie sie die neue Krankheit nannte.

Die Schwägerin des Geiselnehmers Schäfer war höchstwahrscheinlich derselben mysteriösen Krankheit erlegen. Machte Schäfer Nick dafür verantwortlich? War das sein Motiv? Litt sie selbst an Paranoia, was Nick betraf? Gab es eine Verbindung von Doris Strasser zu Nicks Klinik? All ihre Vermutungen kreisten um Jamies Freund Nick. Keine gute Voraussetzung für ein entspanntes Verhältnis. Dieser Nick war eine Gewitterwolke, die sich jederzeit heftig über ihnen entladen konnte. Wenigstens brauchte sie jetzt nicht mehr dauernd Versteck zu spielen und jedes Wort auf die Goldwaage zu legen, um Jamie nicht zu verletzen. Die restlichen Tage in Wien würde er hoffentlich unbeschwert allein genießen, und sie konnte ihren Frust an Staatsanwältin Winter abreagieren.

»Gott sei Dank«, war das Erste, was sie von Kollege Haase hörte, als er sie sah.

»Das tönt ziemlich verzweifelt.«

»Sie haben keine Ahnung. Ristretto?«

Sie nickte dankbar. Besseren Kaffee gab es nirgends, und sie brauchte jetzt jede Menge Koffein.

»Feuer im Dach?«, fragte sie nach dem ersten Schluck.

»Noch ein paar solche Tage, und ich müsste selbst Urlaub nehmen – unbefristet.«

Niemand im BKA Berlin konnte sich erinnern, Haase je nicht im Büro gesehen zu haben. Haase im Urlaub, mindestens so unvorstellbar wie der Rücktritt des Papstes. Wobei – egal. Sie wischte den blöden Vergleich beiseite und konzentrierte sich auf das, was ihr Fallanalytiker zu sagen hatte. Weit kam er nicht, denn kaum war die Espressotasse leer, stand die Winter im Büro.

»Gott sei Dank«, seufzte auch die Staatsanwältin zur Begrüßung. »Kommen Sie, Dr. Roberts.«

Chris hasste Winters Büro wie den Winter.

»Können wir das nicht hier besprechen?«

»Leider nein.«

Was immer das wieder bedeutete. Sie folgte Winter mit hängenden Schultern. Die Stimmung hellte sich auf, als sie sah, wer in Winters Büro auf sie wartete. Der sportlich wirkende, braun gebrannte Herr in den Fünfzigern sprang auf und schloss sie freudig in die Arme.

»Chris, lange nicht gesehen. Wie geht es dir und deinem Mustergatten?«

»Frag mich was Leichteres«, sagte sie mit bitterem Lächeln.

Die Antwort beunruhigte Dr. Hendrik Richter, doch auf Winters drängenden Blick setzten sie sich. Private Angelegenheiten besprach man besser nicht in ihrem Iglu.

»Hendrik war mein Trauzeuge«, erklärte sie Winter.

»Ich weiß.«

Hendrik Richter kam zur Sache: »Ich nehme an, du bist schon informiert über den ungeklärten Todesfall im ZKA.«

»Der Tod von Direktor Schmitz im Zollkriminalamt. Ich habe davon gehört. Traurig, aber ich dachte, es handle sich um eine natürliche Todesursache.«

Hendrik schüttelte langsam den Kopf. »Direktor Schmitz stirbt genau im kritischen Moment, bevor die Operation Spider richtig in Schwung kommt, völlig unvorhergesehen, ohne medizinischen Grund sozusagen. Ich glaube nicht an solche Zufälle.«

»Gab es eine Obduktion?«

»Ja.« Er zog eine dünne Akte aus der Tasche. »Das ist der Befund. Hat leider nichts ergeben.«

»Dann frage ich mich, wieso Sie zweifeln, Herr Generalstaatsanwalt«, bemerkte Winter zögernd.

Richtig, Hendrik war inzwischen zum Generalstaatsanwalt in Köln aufgestiegen und damit auch für das ZKA zuständig.

»Ich fürchte, ich kann die Zweifel verstehen«, warf Chris ein, während sie den Befund überflog.

Die Obduktion hatte keine organischen Ursachen für den Tod des Direktors zutage gefördert. Einzig die Symptome, die zum Tod führten, stimmten nachdenklich. Es gab keinen medizinischen Fachausdruck dafür.

»Beschleunigte ALS«, sagte sie.

»Wie bitte?«

Beide blickten sie an, als spuckte sie Feuer. Sie erklärte ihre Wortschöpfung, ohne den schrecklichen Abend im Belvedere zu erwähnen.